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ETHIK/1248: Anhörungen zum Thema "Wohltätiger Zwang" in Psychiatrie ... (Infobrief - Deutscher Ethikrat)


Infobrief des Deutschen Ethikrates Nr. 21 - Juli 2017 - 02/17

Anhörungen
"Wohltätiger Zwang" in Psychiatrie, Kinder- und Jugendhilfe sowie Pflege und Behindertenhilfe

von Steffen Hering, Thorsten Galert und Nora Schultz


Zwangsmaßnahmen stellen schwerwiegende Eingriffe in die Grundrechte einer Person dar und sind somit ethisch und rechtlich in besonderem Maße rechtfertigungspflichtig. Dennoch ist die Anwendung von Zwang - etwa in Form von Zwangsunterbringung, Bettgittern oder medikamentöser Ruhigstellung - in verschiedenen Praxisfeldern sozialer Berufe verbreitet. Der Deutsche Ethikrat erarbeitet derzeit eine Stellungnahme zu so genanntem "wohltätigen Zwang", der damit begründet wird, dass Schaden vom Betroffenen selbst abgewendet werden müsse. Im ersten Halbjahr 2017 veranstaltete er zu diesem Themenkomplex drei Anhörungen.


Die Anhörungen befassten sich mit der Frage, welche Rolle Zwangsmaßnahmen in drei Praxisfeldern spielen: der Psychiatrie, der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Pflege und Behindertenhilfe. Der Deutsche Ethikrat sprach mit insgesamt achtundzwanzig Sachverständigen aus Wissenschaft und Praxis darüber, inwieweit "wohltätiger Zwang" in diesen Feldern ethisch und rechtlich problematisch ist und welcher Veränderungsbedarf sowohl für die Praxis als auch deren gesetzliche Regulierung besteht.

Allein der Begriff "wohltätiger Zwang" sorgte dabei in allen drei Anhörungen für Gesprächsstoff. Die meisten Referenten kritisierten ihn als weder üblich noch angemessen, da Zwang, anders als der Begriff suggeriere, niemals eine Wohltat sein könne, und schlugen Alternativen wie "fürsorglicher Zwang", "wohlmeinender Zwang" oder "Paternalismus" vor. Für den Deutschen Ethikrat rückt der Arbeitstitel "wohltätiger Zwang" jedoch genau das Spannungsverhältnis zwischen dem aktuellen Willen und angestrebten Wohl der Betroffenen sowie dem Handeln derjenigen, die Zwang anordnen oder ausüben, in den Blick.

"Wohltätiger Zwang" in der Psychiatrie

Die erste Anhörung am 23. Februar 2017 war dem Praxisfeld der Psychiatrie gewidmet. Ein besonderer Fokus lag auf den Herausforderungen, die sich aus der Reform des Betreuungsrechts (§ 1906 BGB) ergeben, welche die Möglichkeiten der Zwangsanwendung einschränkt. Eine weitere Reform steht bevor. Akteure in der Psychiatrie sehen sich zudem zunehmend mit dem Vorwurf konfrontiert, die Anwendung von Zwang stehe im Widerspruch zur UNBehindertenrechtskonvention (BRK), unter deren Schutz nach Art. 1 auch Menschen mit chronischen psychischen Erkrankungen stehen. Beispielsweise erscheint die zwangsweise Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung fragwürdig im Lichte von Art. 19 der BRK, der Menschen mit Behinderung das Recht zur freien Wahl ihres Aufenthaltsortes und ihrer Wohnform zusichert.

Berichte aus der klinischen Praxis zu Beginn der Anhörung stellten klar, dass es in der Psychiatrie nur selten Situationen gibt, in denen die Anwendung von Zwangsmaßnahmen erforderlich ist. Keine Diagnose sei regelmäßig mit Zwangsmaßnahmen verbunden, sagte Andreas Heinz von der Charité - Universitätsmedizin Berlin. Tatsächlich würden im Jahr nur bei drei bis zehn Prozent der in Deutschland etwa 800.000 behandelten Patienten Fixierungen oder Isolierungen durchgeführt, wobei es jedoch erhebliche Unterschiede zwischen den Kliniken gebe, ergänzte Martin Zinkler von der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Heidenheim.

Nicht erfasst würden allerdings Anwendungen "informellen" Zwangs, dessen Bedeutung weitgehend unterschätzt werde, wie Franziska Rabenschlag von der Universitären Psychiatrischen Klinik Basel anmerkte. Diese Formen des Zwangs, etwa durch Überredung, den Einsatz von Druckmitteln oder Bedrohung, sorgten für Misstrauen und ein Gefühl unfairer Behandlung bei den Patienten und beeinflussten die therapeutische Beziehung negativ. Sie stünden zudem auch potenziell in Konflikt mit dem aktuellen Gesetzesentwurf der Bundesregierung zum § 1906a BGB, der vorsieht, dass Zwangsmaßnahmen nur dann zulässig sein sollen, wenn im Vorfeld "ernsthaft mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks" versucht wurde, den Patienten von der Notwendigkeit einer Maßnahme zu überzeugen. Reflektierter und transparent angewendeter informeller Zwang könne laut Rabenschlag jedoch auch ein geeignetes Instrument zur Vermeidung formeller Zwänge sein. Allerdings könnten auch formelle Zwänge in der Klinik notwendig und gerechtfertigt sein. Ein völliger Verzicht auf Zwang bringe die Gefahr mit sich, Menschen mit psychischen Erkrankungen schlechter zu behandeln als Menschen mit anderen Erkrankungen. Deshalb solle kein Verbot von Zwang, sondern ein Gebot der Zwangsminimierung angestrebt werden, dem durch Änderungen sozialer Faktoren am besten entsprochen werden könne. Laut Martin Zinkler, in dessen Klinik auf geschlossene Türen verzichtet werde, ohne dass dabei Schaden entstünde oder mehr Personal nötig würde, sei die Anwendung von Zwang sogar nur bei akuter Lebensgefahr zu rechtfertigen. Man dürfe von der Psychiatrie erwarten, dass der Verzicht auf Zwang höchste Priorität habe.

In der anschließenden Diskussion wurde problematisiert, dass es für Patienten, die in einer Patientenverfügung jegliche psychiatrische Behandlung ausschließen, derzeit keine geeigneten Unterbringungsalternativen gebe. Besonders heikel seien in der Praxis Situationen, in denen die vorausverfügte Willenserklärung eindeutig vom aktuell erkennbaren Willen abweicht. Beim Vorliegen akuter Lebensgefahr und bei Abwesenheit eines eindeutigen Sterbewunsches müsse sich der Arzt für den Erhalt des Lebens des Patienten entscheiden, darüber waren sich die Referenten einig. In der Diskussion kam auch zum Ausdruck, dass Stationen mit geschlossenen Türen in der Praxis oft zu Problemen führten, die bei einer Unterbringung mit offenen Türen nicht entstünden. Sogar die Entweichungsraten seien bei offenen Türen signifikant niedriger. Es herrschte allerdings Uneinigkeit darüber, ob diese Unterbringungsform mehr Personal erfordere. In geschlossenen Einrichtungen könnten bereits bauliche Änderungen dazu beitragen, Zwang zu vermeiden.

Der klinischen Perspektive stellte Jurand Daszkowski vom Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Hamburg die Sichtweise der Betroffenen zur Seite. Er berichtete, dass psychiatrische Zwangsmaßnahmen von den Betroffenen zumeist als herabwürdigend und traumatisierend empfunden würden. Oft führten sie zum Verlust des Vertrauensverhältnisses zu den Behandelnden, in Einzelfällen gar zur generellen Abwendung vom psychiatrischen Hilfesystem. Ein notwendiges Kriterium für die Zulässigkeit von Zwangsmaßnahmen sei deshalb, dass alle milderen Mittel bereits ausgeschöpft sein müssen. In der Praxis gebe es hierfür jedoch keine hinreichenden Kontrollmechanismen. Zudem wies Daszkowski darauf hin, dass die Zahlen zu psychiatrischen Zwangsmaßnahmen aufgrund der unzureichenden Datenlage in Deutschland nicht verlässlich seien und man mit einer hohen Dunkelziffer rechnen müsse.

Aus gemeindepsychiatrischer Sicht diagnostizierte Matthias Rosemann von der Träger gGmbH in Berlin den Ruf nach geschlossener Unterbringung als "Ausdruck von Hilflosigkeit der Institutionen". Alle beteiligten Akteure des Hilfesystems sollten sich zusammensetzen und gemeinsam versuchen, individuelle Wege für jeden Patienten zu entwickeln. Dabei sei nicht in jedem Fall Zwang unzulässig. Manchmal müssten Menschen auch vor der akuten oder prozesshaften Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen geschützt werden. Oft ließen sich solche Situationen jedoch bereits im Voraus abwenden. Denn wann und wie oft Zwang angewendet werde, hinge vor allem von der Haltung des Personals und der Institution ab. Hier gebe es nicht nur große Unterschiede zwischen Ländern und Regionen, sondern sogar innerhalb einzelner Einrichtungen. Um Zwangsmaßnahmen und Klinikunterbringung zu vermeiden, beschrieb Detlev Gagel vom Bezirksamt Berlin-Pankow die Krisenintervention vor Ort durch den sozialpsychiatrischen Dienst als aussichtsreich. Problematisch sei jedoch die große Finanzierungs- und Versorgungslücke, die eine angemessene Betreuung erschwere.

In der anschließenden Diskussion waren sich die Referenten darin einig, dass - zur Vermeidung von Zwang - der möglichen Behandlung immer ein Prozess der Verhandlung vorausgehen müsse, in dem nach individuellen Lösungen gesucht werde. Wichtig sei, dass alle beteiligten Akteure dies als gemeinsame Aufgabe und Verantwortung begreifen und Rahmenbedingungen auch für unkonventionelle Lösungen geschaffen werden.

Das Ringen um Lösungen stellten auch diejenigen Sachverständigen in den Mittelpunkt, die sich auf die Begleitung psychiatrischer Behandlungsprozesse spezialisiert haben. Gudrun Tönnes von der Weiterbildungsagentur LebensART forderte, dass Klinikträger, Kostenträger, Berufsverbände und Politik sich zusammensetzen und über Strukturanpassungen in der Psychiatrie beraten. Zusätzlich könnten "Genesungsberater" eingesetzt werden, um eine positive Beziehung zwischen Patient und Personal zu befördern. Stephan Sigusch, Geschäftsführer und Vereinsbetreuer von Oschersleben e. V., sah die Betreuer selbst in der Pflicht, ein transparentes Vertrauensverhältnis zu den Betreuten aufzubauen. Hierfür sei es wichtig, Handlungen gut zu erläutern und zu begründen und den Betreuten auf Augenhöhe zu begegnen. Bei Entscheidungen solle daher, orientiert an § 1901 BGB, zunächst versucht werden, zu beraten, dann zu unterstützen und erst in letzter Konsequenz stellvertretend zu entscheiden. Petra Rossmanith von der Beschwerde- und Informationsstelle Psychiatrie Berlin berichtete, dass dies in der Praxis jedoch nicht immer beachtet werde. Monatlich gingen bei ihr 30 bis 40 neue Beschwerden ein. Sie forderte, die Ausgestaltung von Zwangsmaßnahmen zu vereinheitlichen und Einrichtungen dazu zu verpflichten, über Rechte und Beschwerdemöglichkeiten aufzuklären. Außerdem seien Dokumentationspflichten und regelhafte Überprüfungen notwendig, um die Rechte der Patienten bei Zwangsmaßnahmen zu stärken.

Die anschließende Diskussion wandte sich unter anderem gegen die von Juristen vorgenommene Abstufung, wonach medikamentöse Zwangsmaßnahmen gravierender seien als Fixierungen, und thematisierte den häufigen Mangel an geeigneten Kommunikationsstrukturen, um auf das Wissen von Angehörigen zuzugreifen - etwa aufgrund fehlender finanzieller Mittel für den Einsatz von Dolmetschern bei Patienten mit Migrationshintergrund. Außerdem seien regelmäßige Fort- und Weiterbildungen für alle Akteure des Hilfesystems sowie klare Zuständigkeitszuschreibungen unerlässlich.

In einer weiteren Anhörungsrunde zu betreuungsrechtlichen Aspekten legte die Richterin Annette Loer dar, dass Zwangsbehandlung als medizinische Behandlung nur nach Anordnung durch einen Arzt und mit Einwilligung des Patienten möglich sei oder, sofern dieser akut nicht handlungsfähig sei, nach Entscheidung durch einen Stellvertreter, der sich an den Wünschen und Vorstellungen des Patienten orientieren müsse. Die Einhaltung dieser Kriterien werde in einem aufwendigen Prozess gerichtlich überprüft und erst dann eine richterliche Entscheidung getroffen, in der das Gericht unter Berücksichtigung des mutmaßlichen Willens des Patienten sein Anspruchsrecht auf Behandlung und das Recht auf Freiheit von Zwang und von Eingriffen in die Integrität gegeneinander abzuwägen habe.

Dagmar Brosey, Professorin für Zivilrecht an der Technischen Hochschule Köln, wies darauf hin, dass neben den betreuungsrechtlichen Bestimmungen vor allem zwei Entscheide des Bundesverfassungsgerichts wegweisend seien. Dieses habe 2011 festgestellt, dass der Gesetzgeber Regelungen für Zwangsbehandlungen festlegen dürfe, und 2016 entschieden, dass der Staat eine klare Schutzpflicht gegenüber hilfsbedürftigen Menschen habe, "wenn diese nicht gegen ihren natürlichen Willen behandelt werden dürfen, aber die Behandlung lebensnotwendig ist." Innerhalb dieses Rahmens stelle sich nun die Frage nach geeigneten Kriterien. Dabei müsse nicht nur entschieden werden, ob eine Behandlung durchgeführt werden soll, sondern auch wie. Die Psychiaterin und Psychotherapeutin Margret Osterfeld kritisierte, dass der politisch gewollte Ökonomisierungsdruck im Gesundheitswesen das Interesse der Kliniken an Hospitalisierungen befördere. Da die Richter in der Regel den medizinischen Gutachten folgten, könnten Ärzte hier erheblichen Einfluss nehmen.

Im letzten Teil der Anhörung stand die Frage nach der moralischen Legitimation von wohltätigem Zwang im Fokus. Thomas Schramme von der University of Liverpool hielt psychiatrischen Zwang, wenn überhaupt, nur für schwer zu rechtfertigen. Legitimationsversuche, die auf eine vermutete Unfähigkeit zur Selbstbestimmung der betroffenen Person bauen, scheiterten oft an der Schwierigkeit, die Schwelle zu einer solchen Unfähigkeit angemessen zu bestimmen. Solle hingegen durch Zwang die Entscheidung einer Person neutralisiert werden, die ihrem eigenen Wohl gravierend zuwiderlaufe, so liege das Problem in der Anmaßung, besser als der Betroffene zu wissen, was gut für ihn ist.

Matthias Braun vom Lehrstuhl für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Erlangen-Nürnberg wies darauf hin, dass der noch als normal anzuerkennende Grad psychischer Abweichung in gesellschaftlichen Prozessen ausgehandelt werde. Selbstbestimmung und Fürsorge müssten als voneinander abhängige Kategorien verstanden werden, die im Zusammenspiel unser Verständnis von Selbst und Anderem bestimmten.

In der anschließenden Diskussion ging es vor allem um Rolle und Verständnis des Begriffs der Selbstbestimmung. Laut Schramme handelt es sich bei Selbstbestimmung nicht um einen Teilaspekt des Wohls einer Person, sondern vielmehr um die Bedingung der Möglichkeit, über das eigene Wohl bestimmen zu können. Allerdings gebe es durchaus Kernelemente des menschlichen Wohls, die nicht unterschritten werden dürften. Braun wies darauf hin, dass auch Ressourcen, die man von anderen zur Verfügung gestellt bekommt, eine Rolle dabei spielen, ob und wie gut Selbstbestimmung ausgeübt werden kann.

"Wohltätiger Zwang" in der Kinder- und Jugendhilfe

In einer zweiten Anhörung am 18. Mai 2017 befasste sich der Deutsche Ethikrat mit dem Praxisfeld der Kinder- und Jugendhilfe. Nach einem nicht öffentlichen Teil, in dem Jugendliche über ihre Erfahrungen mit Zwang berichteten und ihre Erwartungen formulierten, hörte der Ethikrat neben Experten aus Erziehungswissenschaft, Recht und der Verwaltungspraxis auch Vertreter von Beispieleinrichtungen an.

Holger Ziegler von der Universität Bielefeld ging aus pädagogischer Perspektive auf die paternalistische Grundsituation in der Erziehung ein. Pädagogisch sinnvolle und legitimierbare paternalistische Maßnahmen erzwängen, was Betroffene an sich selbst wollen, und zielten darauf, Betroffene (wieder) in die Lage zu versetzen, einen Lebensentwurf zu entwickeln und zu verwirklichen, den sie selbst wertschätzen könnten. Zwang in Form erzwingender Überwältigung hingegen, der bezwecke, was Dritte für den oder von dem Betroffenen wollen, sei pädagogisch nicht zu rechtfertigen und sollte auf Situationen der Abwendung erheblicher Selbst- oder Fremdgefährdung beschränkt werden.

Das Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls treffe - mit Ausnahme der Inobhutnahme in akuten Notsituationen - keine Aussage zur Zulässigkeit oder Unzulässigkeit freiheitsentziehender Unterbringung, erklärte Thomas Meysen vom Deutschen Institut für Jugendhilfe und Familienrecht. Auch zur Art und Weise der Unterbringung und zu anderen freiheitsentziehenden Maßnahmen finde sich im Kinder- und Jugendrecht keine Aussage. Die Zulassung von Einrichtungen, in denen Kinder oder Jugendliche betreut werden, sei zwar reglementiert, es gebe aber Verbesserungsbedarf, zum Beispiel bei der Prüfung der tatsächlichen Umsetzung zulassungsrelevanter Konzepte. Einrichtungen hätten zudem zwar die Pflicht, Ereignisse und Entwicklungen zu melden, die das Wohl der Kinder und Jugendlichen potenziell gefährden. Eine Dokumentation weiterer freiheitsbeschränkender Maßnahmen sei allerdings ebenso wenig vorgesehen wie deren Mitteilung an Jugendämter und Personensorgeberechtigte.

Die Leiterin der Monitoring-Stelle der UN-Kinderrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte, Claudia Kittel, berichtete über die UN-Kinderrechtskonvention (CRC), derzufolge das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen ist. Dies bedeute, Kinder als Rechtssubjekte ernst zu nehmen und ihrer Meinung Gehör und ausreichend Gewicht zu verleihen. Freiheitsentziehende Maßnahmen, die mit dem Kindeswohl begründet werden, könnten nur vor diesem Hintergrund legitimiert werden. Aus dem Blickwinkel der CRC gebe es hinsichtlich der Stärkung der Rechtsposition von Kindern in Deutschland noch erheblichen Nachbesserungsbedarf. Kinder sollten Mittel zur Verfügung gestellt bekommen, um sich gegen die Verletzung ihrer Rechte wehren zu können. Wichtig seien hierfür etwa transparente Beschwerdemechanismen, die unabhängig von Dritten in Anspruch genommen werden können, sowie einrichtungsunabhängige Beschwerdestellen.

In der anschließenden Diskussion gab es einen Konsens über das Ziel, Kindern nicht nur Grenzen, sondern auch die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten sowie Freiheits- und Selbstbestimmungsräume innerhalb dieser Grenzen aufzuzeigen. Dafür müssten Einrichtungen in der Umsetzung ihrer Schutzkonzepte effektiver kontrolliert werden. Diesem Zweck könnte ein richterlicher Genehmigungsvorbehalt dienlich sein. Es sei jedoch unklar, inwiefern Richter die Situation der Kinder richtig einzuschätzen vermögen, da die richterliche Entscheidung letztlich auf der Grundlage der Einschätzungen jener Kinder- und Jugendpsychiater basieren müsse, die die Eltern bereits heute beraten.

Diesen Problemen stellte die Jugendamtsleiterin Beate Tenhaken zunächst entgegen, dass mit dem Kinder- und Jugendschutzgesetz immerhin seit über 25 Jahren ein modernes, aushandlungs- und beteiligungsorientiertes Leistungsgesetz existiere und Kinder und Jugendliche, die nicht vom Hilfesystem erreicht werden können, sogenannte "Systemsprenger", Einzelfälle seien. In der Regel könnten freiheitsentziehende Unterbringungen durch "mutige Pädagogen und viel Kreativität" in den Jugendämtern und bei den Trägern vermieden werden. Kinder und Jugendliche hätten meist nachvollziehbare und gute Gründe für ihr Verhalten und Vorstellungen davon, wie ihre Situation verbessert werden könnte. Wenn diese in der Hilfeplanung berücksichtigt würden, ließen sich oft Alternativen zu Zwangsmaßnahmen finden.

Nach Ansicht des langjährigen Familienrichters Wolfgang Keuter bietet der im neuen Gesetzesentwurf § 1631d Abs. 2 BGB künftig vorgesehene Genehmigungsvorbehalt für Maßnahmen wie Fixierungen und Sedierungen ein geeignetes Mittel zum Schutz der Grundrechte von Kindern. Außerdem ergebe sich so eine Angleichung an den Erwachsenenschutz und den bereits bestehenden Genehmigungsvorbehalt bei freiheitsentziehender Unterbringung, die einen weniger einschneidenden Eingriff darstelle. Problematisch sei allerdings unter anderem, dass durch den Genehmigungsvorbehalt nicht nur die Betroffenen, sondern auch die Gerichte belastet würden.

Im anschließenden Gespräch mit Vertretern von Beispieleinrichtungen ging es auch um die Frage, welche Rolle Schulabstinenz für die Rechtfertigung von Zwangsunterbringungen spielt und spielen sollte. Schulabbrecherquoten von bis zu zehn Prozent in einigen Bundesländern sprächen dafür, dass im deutschen Schulsystem viele Kinder und Jugendliche zurückgelassen würden, befand M. Hubert Schwizler von der Jugendhilfeeinrichtung Timeout, einer im Hochschwarzwald gelegenen Einrichtung für schulmüde und schulverweigernde Kinder und Jugendliche. "Abgesehen vom enormen volkswirtschaftlichen Schaden", so Schwizler, "verlieren wir Menschen mit Ideen, mit Talenten und mit wunderbaren Fähigkeiten". Ein maßgeblicher Grund dafür sei das zu stark standardisierte und normierte Schulsystem. Bei Timeout seien die Kinder zunächst für drei Monate vom Unterrichtsbesuch befreit und eingeladen, stattdessen an vielfältigen außerschulischen Angeboten teilzunehmen. Aus einem Gefühl der Nützlichkeit entwickle sich dann in der Regel automatisch ein Verlangen nach Unterricht. Aufnahmen gegen den Willen der Kinder gebe es bei Timeout nur selten und auch nur im Rahmen einer kurzfristigen Inobhutnahme. Allerdings hätten die meisten Kinder bereits zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme eine von diversen Zwangserlebnissen geprägte Biografie.

Diese Beobachtung teilte auch Dorothea Zimmermann, psychologische Leiterin des Mädchennotdienstes von Wildwasser e. V. in Berlin. Viele Mädchen hätten Machtmissbrauch oder Kontrollverlust erlebt. Es sei daher oft eine schwierige Gratwanderung für Pädagogen, einerseits keine "Flashbacks" durch zu starke Strukturen zu erzeugen, andererseits aber für genug Struktur zu sorgen, um die Mädchen angemessen zu schützen. Den Mädchen sollte dazu verholfen werden, Respekt auch unabhängig von hierarchischen Strukturen und Machtverhältnissen aufzubauen. Leider seien die großstädtischen Bedingungen jedoch völlig andere als die von Frau Tenhaken beschriebenen. Die Jugendämter seien fast durchgehend überlastet und eine Betreuerin, die lediglich nach Entgeltstufe acht bezahlt wird, sei in der Regel am Tag für neun Mädchen zuständig.

"Wohltätiger Zwang" in der Pflege und Behindertenhilfe

In der dritten und letzten Anhörung am 19. Mai 2017 legten Sachverständige aus der Rehabilitationspädagogik, der Allgemeinmedizin und aus Beispieleinrichtungen sowie Vertreter von Angehörigen- und Betroffenenverbänden die unterschiedlichen Erscheinungsformen wohltätigen Zwangs in der Pflege und Behindertenhilfe offen, benannten zwangsbefördernde Faktoren und zeigten Möglichkeiten auf, wie der Anwendung von Zwang strukturell vorgebeugt werden kann.

Zunächst gab Eckhard Rohrmann von der Philipps-Universität Marburg einen Überblick zur deutschen Versorgungssituation von Menschen mit Behinderung. Besonders auffällig sei, dass nur ein Drittel dieser Menschen aktuell ambulant versorgt würde, obwohl der Bundestag dies in seiner Gesetzesbegründung zu § 3a Bundessozialhilfegesetz (BSHG) als "oft sachgerechter, menschenwürdiger und zudem kostengünstiger" einstuft als die stationäre Versorgung. Außerdem sei das Risiko, Zwang ausgesetzt zu werden, in stationären Einrichtungen höher. Dennoch steige die Anzahl der Unterbringungen im Allgemeinen und der Zwangsunterbringungen im Besonderen kontinuierlich an. Die Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen nehme zwar ab, bleibe jedoch auf sehr hohem Niveau. Der Ausschuss zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen fordere deshalb ein Verbot solcher Praktiken sowie die Erwägung von Schadensersatzleistungen für ihre Opfer. Zudem sei der hohe Grad der Institutionalisierung und der Mangel an alternativen Wohnformen und Infrastrukturen und die mit diesen verbundenen finanziellen Hürden für Menschen mit Behinderung besorgniserregend. Ein Vorbild könne Rohrmann zufolge etwa das schwedische System sein, in dem die stationäre Betreuung von Menschen mit Behinderung fast vollkommen aufgelöst werden konnte.

Andreas Sönnichsen, Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin und Familienmedizin an der Universität Witten/Herdecke, machte zunächst darauf aufmerksam, dass die relative Anzahl stationär betreuter Personen bei Pflegebedürftigen allgemein etwas niedriger liege, obwohl es keine wirklich verlässlichen Zahlen gebe. Aus der allgemeinmedizinischen Praxis könne er jedoch berichten, dass direkte Zwangsmaßnahmen sehr selten vorkämen. Häufiger komme es zu indirekten Zwangsausübungen, indem beispielsweise Bettgitter oder Medikamente verordnet würden. Die verordnenden Ärzte würden dies oft nicht als Zwangsmaßnahmen wahrnehmen und wüssten zum Teil nicht einmal, dass für manche Maßnahmen richterliche Genehmigungen erforderlich seien. Interveniert werden könne hier etwa mit Schulungsprogrammen zur Vermeidung freiheitsbeschränkender Maßnahmen, durch Leitlinien und personenzentrierte Pflege. Allerdings sei all dies nur bedingt effektiv. Deshalb sollte in erster Linie mehr Versorgungs- und Interventionsforschung betrieben und mehr Aufklärung für Ärzte, Pflegende, Patienten und Angehörige geleistet werden.

In der Diskussion konstatierten beide Referenten, dass zur Zwangsvermeidung ähnlich wie in der Psychiatrie und der Kinder- und Jugendhilfe oft schlicht die erforderliche Kreativität fehle. Die Beurteilung der Betreuungssituation werde im Übrigen dadurch erschwert, dass die Daten der Patienten an keiner Stelle zentral erfasst würden. In Deutschland würden über 150 verschiedene Software-Programme zur Erfassung von Patientendaten genutzt, die untereinander nicht kompatibel sind.

Jeannette Pella und Dr. Benjamin Bell berichteten über die Behindertenhilfe-Einrichtung der leben lernen gGmbH und ihre Erfahrungen mit der Anwendung und Vermeidung von Zwang. Viele ihrer Bewohner zeigten ein erheblich selbst- und fremdverletzendes Verhalten. Dennoch versuche man bei leben lernen Berlin, faktischen Zwang zu vermeiden und stattdessen über pädagogische Maßnahmen und gute Strukturen Halt zu geben. Halt gebende Elemente dürften jedoch nicht um jeden Preis durchgesetzt werden, weil sie sich dann in einen Zwangsrahmen verwandelten. Gelänge die Balance, könne eine selbstbestimmte Lebensführung und eine gleichberechtigte Teilhabe bei gleichzeitiger Reduzierung von Zwangsmaßnahmen realisiert werden.

Günter Braun aus dem Vorstand der BruderhausDiakonie in Reutlingen wandte jedoch ein, dass sich Zwangsmaßnahmen nicht "komplett wegbetreuen" lassen und auch weiterhin zur Vermeidung von Fremd- sowie Selbstgefährdung nötig sein werden. Im Rahmen einer permanenten Qualitätsverbesserung müsse jedoch nach jeder Zwangsanwendung überprüft werden, ob sie unter anderen Bedingungen vermeidbar gewesen wäre. Anschließend müsse gefragt werden, wie die gegebenen Bedingungen verändert werden könnten und welche gesellschaftlichen und sozialpolitischen Kräfte sich dafür nutzen ließen. Wann immer Zwang nicht notwendig sei, müsse er unbedingt vermieden werden. Dies sei auch in der BruderhausDiakonie das oberste Prinzip. Je stärker diese Haltung verinnerlicht würde, je intensiver die Möglichkeiten der personellen Betreuung und der bedarfsgerechten therapeutischen und sozialen Begleitung seien und je differenzierter das räumliche und ausstattungsbezogene Setting sei, desto eher ließen sich Zwangsmaßnahmen vermeiden.

In der anschließenden Diskussion mit Mitgliedern des Ethikrates wurde deutlich, dass die drei Referenten die Vermeidung von Zwang vor allem als eine Frage der Haltung ansehen, weshalb die Förderung entsprechender Schulungen für Mitarbeiter von besonderer Wichtigkeit sei.

Im letzten Teil der Anhörung sensibilisierten zwei Referentinnen für die Perspektive der Betroffenen und Angehörigen. Die Geschäftsführerin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, Sabine Jansen, schilderte dafür beispielhaft die Situation von Demenzkranken als Opfer "wohltätigen Zwangs". Demenz weise einige Besonderheiten gegenüber anderen Einschränkungen auf. Menschen mit Demenz zeigten nicht nur herausforderndes Verhalten, sondern wiesen häufig Weg- und Hinlauftendenzen, gestörte Tag-und-Nacht-Rhythmen sowie Defizite bei alltäglichen Verrichtungen auf und verlören zum Teil sogar ihre Sprache. Aus Fürsorglichkeit könne Zwang hier in manchen Fällen angebracht sein, allerdings immer nur als letzte Option. Menschen mit Demenz seien zudem häufig mit schwer zu überprüfenden Formen informellen Zwangs konfrontiert.

Laut Brigitte Bührlen, der Vorsitzenden der WIR! Stiftung pflegender Angehöriger, treten solche informellen Zwänge in stationären Einrichtungen häufig in Form von Vorwürfen und Drohungen auf. Zudem würden Bewohner oft ungefragt geduzt, Fernsehgeräte nicht auf Anfrage eingeschaltet, intime Beziehungen unterbunden und unter Verweis auf den Body-Mass-Index Essenszwänge oder -verbote legitimiert. Ähnliche Zwänge gebe es jedoch auch bei zu Hause betreuten Personen, auf die häufig moralischer Druck ausgeübt werde. Auch käme es vor, dass zu Hause Betreute eingesperrt würden, ihnen Post oder Geld vorenthalten oder bestimmte Kleidung aufgenötigt werde. "In aller Regel wird über den Kopf der Leute über sie entschieden", meinte Bührlen und forderte, sich bewusst zu machen, dass wir alle in eine solche Situation geraten können. Ohne die Arbeit der Angehörigen - darin waren sich die Referentinnen einig - steige das Risiko für Zwangsanwendungen weiter an. Angehörigenvertreter sollten auch bei systemischen Entscheidungen mit am Tisch sitzen und die geführten Gespräche sollten auf Augenhöhe stattfinden.

In allen Praxisfeldern scheinen strukturelle Zwänge eine bedeutende Rolle zu spielen. Angemessene Rahmenbedingungen sowie eine entsprechende Haltung der Akteure, Zwangsvermeidung zu priorisieren, könnten Abhilfe schaffen. Zudem haben die Anhörungen gezeigt, dass es Grenzen des Systems gibt, die wir anerkennen müssen. "Weil Grenzen aber auch Grenzzonen mit sich bringen", so fasste der Vorsitzende des Ethikrates, Peter Dabrock, pointiert zusammen, "müssen wir diese Grenzzonen pflegen und gestalten".


Info

Quelle
Weitere Informationen zu den Anhörungen finden sich unter
http://www.ethikrat.org/themen/medizin-und-pflege/wohltaetiger-zwang

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Quelle:
Infobrief Nr. 21 - Juli 2017 - 02/17, Seite 8 - 14
Informationen und Nachrichten aus dem Deutschen Ethikrat
Herausgeber: Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates
Sitz: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. August 2017

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