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ETHIK/1208: Internationale Perspektiven zur Keimbahnveränderung beim Menschen (Infobrief - Deutscher Ethikrat)


Infobrief des Deutschen Ethikrates Nr. 18 - Januar 2016 - 01/16

Internationales
Internationale Perspektiven zur Keimbahnveränderung beim Menschen


Die Entscheidung des britischen Parlaments vom Februar 2015, die Behandlung bestimmter Gen-Defekte mithilfe des sogenannten Mitochondrientransfers zuzulassen, sehen viele als Startschuss für Keimbahnveränderungen beim Menschen. Delegierte aus acht Ländern diskutierten die damit verbundenen wissenschaftlichen und ethischen Herausforderungen vom 2. bis 3. Juli 2015 in Singapur.


Zu dem vom Deutschen Ethikrat, dem britischen Nuffield Council on Bioethics und dem Bioethics Advisory Committee von Singapur organisierten Treffen waren neben Vertretern dieser drei Organisationen auch Teilnehmer aus den USA, Canada, Japan, Südkorea und Malaysia angereist. Im Mittelpunkt standen die Prozesse der wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und ethischen Abwägung rund um den Mitochondrienaustausch. Aber auch molekulare Methoden, die theoretisch in Zukunft noch weiter gehende Eingriffe in die Keimbahn ermöglichen könnten, wie z. B. das CRISPR/Cas9-System, wurden dabei berücksichtigt.

Erkrankungen der Mitochondrien können vielfältige Symptome wie zum Beispiel Muskelschwäche, Herzschäden oder Defekte im Nervensystem auslösen. Ihr gemeinsamer Nenner ist ein Energiemangel der betroffenen Zellen und Gewebe, da die Mitochondrien als "Kraftwerke der Zelle" in erster Linie die Zellen mit Energie versorgen.

Mitochondrien verfügen über eine eigene DNA - beim Menschen 37 Gene, die sich auf einem kreisförmigen Mini-Chromosom (Plasmid) in jedem Mitochondrium befinden.

Im Gegensatz zur Samenzelle, die nur das Genom ihres Zellkerns an den künftigen Embryo weitergibt, steuert die Eizelle neben ihrem Zellkerngenom auch das Genom mehrerer hunderttausend Mitochondrien bei. Krankheitsverursachende Mutationen in den mitochondrialen Genen können daher nur über die Mütter an ihre Kinder weitervererbt werden. Dieser Umstand birgt den Schlüssel zum Konzept des Mitochondrientransfers: Um die Vererbung von Mitochondrien mit Gendefekten zu verhindern, wird der Zellkern aus der Eizelle einer betroffenen Frau in die zuvor entkernte Eizelle einer Eizellspenderin mit gesunden Mitochondrien übertragen. Ein so entstandener Embryo erbt also das Kerngenom der einen und das der Mitochondrien einer anderen Frau.

Inwieweit das Auswechseln der Mitochondrien tatsächlich schon als Keimbahnveränderung zu werten ist, diskutierten die Teilnehmer des Treffens kontrovers. Die Mitochondrien der Spenderin werden zwar von Frauen an künftige Generationen weitervererbt, nicht jedoch von Männern. Es gab auch verschiedene Ansichten darüber, ob der Mitochondrienaustausch tatsächlich bereits als gezielte Veränderung der menschlichen Keimbahn zu betrachten sei, wenn keine gezielten oder gar neuen Eingriffe in das Genom erfolgten.

Wie die weitere Diskussion zeigte, lässt sich auch die Relevanz des Mitochondrienaustauschs für die personale Identität unterschiedlich betrachten. Mit nur 37 Genen gegenüber den rund zwanzigtausend Genen des Kerngenoms wirkt der Beitrag der Mitochondrien zunächst marginal. Die mitochondrialen Gene haben zudem nach derzeitigem Kenntnisstand keinen Einfluss auf Eigenschaften, die häufig als besonders identitätsstiftend angesehen werden, wie z. B. Aussehen oder Persönlichkeit. Andererseits machen die Mitochondrien durchschnittlich ein Viertel des Zellvolumens der Eizelle aus, sodass der rein quantitative Beitrag der Mitochondrien der Spenderin zumindest zu Beginn der Embryonalentwicklung nicht völlig vernachlässigbar ist.

Vor diesem Hintergrund standen zwei Fragen im Mittelpunkt der Veranstaltung, die auch im breiteren gesellschaftlichen und fachlichen Diskurs eine Rolle spielen: Wie sicher ist der Mitochondrientransfer und welche Bedenken oder Herausforderungen ergeben sich unabhängig von der medizinischen Sicherheit?

In seinem Vortrag zu Fragen der Sicherheit berichtete Ng Soon Chye von der Universität Singapur über die verschiedenen zur Verfügung stehenden Technologien. Jeffrey Kahn vom Institute of Medicine (IOM) in den USA und Jonathan Montgomery und Hugh Whittall vom Nuffield Council of Bioethics verwiesen auf die Sicherheitsanalysen, die in beiden Ländern vorgenommen wurden. Während der unter Federführung der Human Fertilisation and Embryology Authority (HFEA) stehende britische Prüfprozess ergab, dass die verbleibenden Sicherheitsbedenken ausreichend klein seien, um den Schritt zu ersten klinischen Studien zu wagen, sieht die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) vorerst noch Bedarf an weiteren Studien, um die verbleibenden Unsicherheiten auszuräumen. Offene Fragen gebe es insbesondere zu möglichen Langzeitfolgen, die sich etwa ergeben könnten, wenn das Kerngenom und die gespendeten mitochondrialen Gene nicht optimal zusammenarbeiteten.

Jenseits der sicherheitsbezogenen Bedenken gibt es auch ethische Herausforderungen, die insbesondere im gesellschaftlichen Diskurs eine große Rolle spielen. Diese wurden im gesellschaftlichen Diskursprozess in Großbritannien und in der Arbeit der Expertenkommissionen von IOM und FDA ebenso deutlich wie in den Beiträgen zur Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2014 (siehe Infokasten unten). Zu den Bedenken gehören demnach u. a. die Sorge, dass die Existenz eines "dritten Elternteils" (der Mitochondrienspenderin) die Identitätsbildung betroffener Kinder erschweren könnte, und Dammbruchargumente, nach denen der Mitochondrientransfer als Einfallstor zu weiter gehenden Keimbahnmanipulationen gesehen wird. Demgegenüber steht die Hoffnung, Leiden zu verhindern, und die Zuversicht, unerwünschte Nebeneffekte sowohl auf der medizinischen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene mithilfe eines umsichtigen und transparenten Prozesses minimieren zu können.

Von einer allgemeinen Aufbruchstimmung in ein Zeitalter der Keimbahnmanipulation war in Singapur jedenfalls wenig zu spüren. Methoden, die gezielte Veränderungen auch des Kerngenoms künftig leichter möglich machen könnten, wie das "molekulare Skalpell" des CRISPR/Cas9-Systems, wurden von den Teilnehmern zumindest vorerst noch sehr zurückhaltend betrachtet. Auch falls diese Technologien künftig zumindest medizinisch unbedenklich werden sollten, werden damit dennoch ethische Fragen aufgeworfen, die weit über die im Zusammenhang mit dem Mitochondrientransfer diskutierten Herausforderungen hinausgehen - auch darüber herrschte Einigkeit.

Der Wunsch, auch zu weiter gehenden Möglichkeiten der Keimbahnmanipulation einen gesellschaftlichen Diskursprozess zu anzustoßen, hat bereits einige Initiativen hervorgebracht. Sowohl das Institute of Medicine als auch der Nuffield Council arbeiten hierzu derzeit an längerfristigen Projekten, und der Deutsche Ethikrat wird diesem Thema seine nächste Jahrestagung im Juni 2016 widmen. (Sc)


INFO

QUELLE

Jahrestagung 2014 des Deutschen Ethikrates zur Fortpflanzungsmedizin:
http://www.ethikrat.org/veranstaltungen/jahrestagungen/fortpflanzungsmedizin-in-deutschland

Jahrestagung 2016 des Deutschen Ethikrates zum Genome-Editing:
http://www.ethikrat.org/veranstaltungen/jahrestagungen

Nuffield Council on Bioethics zum Mitochondrientransfer:
http://nuffieldbioethics.org/project/mitochondrial-dna-disorders/

HFEA zum Mitochondrientransfer:
http://www.hfea.gov.uk/6896.html

Nuffield Council on Bioethics zum Genome-Editing:
http://nuffieldbioethics.org/project/genome-editing

Institute of Medicine zum Mitochondrientransfer:
http://iom.nationalacademies.org/activities/research/mitoethics.aspx

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Quelle:
Infobrief Nr. 18 - Januar 2016 - 01/16, Seite 5 - 6
Informationen und Nachrichten aus dem Deutschen Ethikrat
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Redaktion: Dr. Joachim Vetter (V.i.S.d.P.)
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E-Mail: kontakt@ethikrat.org
Internet: www.ethikrat.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. April 2016

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