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BILDUNG/1089: Von der Uni an die Klinik - Herausforderung Berufsstart für junge Ärzte (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 9/2017

Junge Ärzte
Von der Uni an die Klinik - Herausforderung Berufsstart

von Anne Lütke Schelhowe


Fachlich fühlen sich junge Assistenzärzte gut auf ihren Einstieg ins Berufsleben vorbereitet, Administration und Dokumentation sind dagegen größere Stolpersteine.

Die ersten Dienste auf der Station bewältigen, den ersten Nachtdienst ganz allein überstehen, den ersten Notfall selbst behandeln: Sobald junge Mediziner die Approbation in der Tasche haben und in ihr Berufsleben starten, warten eine Menge aufregende Premieren auf sie. Auf vieles haben sie sich während des Studiums und des Praktischen Jahres schon vorbereiten können, doch mindestens genauso viel ist ihnen am Alltag eines Assistenzarztes neu. Nicht nur mit der Verantwortung, die die jungen Weiterbildungsassistenten sehr schnell tragen, müssen sie erst einmal zurechtkommen, auch die Hürden des Stationsmanagements, der Dokumentationsaufgaben oder der administrativen Abläufe in den Krankenhäusern wollen erst einmal überwunden werden. Wie ein Krankenhaus überhaupt funktioniert, wie es ökonomisch aufgestellt ist und welche betriebswirtschaftlichen Faktoren eine Rolle spielen, ist den Berufseinsteigern zudem unbekannt - im Studium sind solche Ansätze kein Thema. "Da erlebe ich bei den jungen Kollegen doch immer mal wieder Frustration, gerade am Anfang", so PD Dr. Ivo Markus Heer, Chefarzt der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe im Friedrich-Ebert-Krankenhaus (FEK) Neumünster.

Der Einstieg wird umso schwerer, wenn die Einarbeitung nur unzureichend verläuft, was nach einer Umfrage des Marburger Bundes nicht selten ist: Fast 80 Prozent der befragten Assistenzärzte bewerten ihre Einarbeitung nur mit einer Schulnote drei oder schlechter. Gerade einmal fünf Prozent halten die Einarbeitung für "sehr gut". Dabei mangelt es nicht an guten Plänen und Konzepten, vielmehr machen die personellen Ressourcen eine umfangreiche Einarbeitung der jungen Kollegen beinahe unmöglich, kritisieren einige der vom Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatt befragten weiterbildenden Ärzte im Land.

Welche Herausforderungen junge Assistenzärzte in Schleswig-Holstein beim Berufseinstieg sehen, welche schwierigen Situationen sie erlebt und wie sie diese überwunden haben, aber auch wie Ober- und Chefärzte die Situation sehen und wie sie die jungen Kollegen unterstützen können, lesen Sie in unserer Titelgeschichte.



Junge Ärzte - Der Sprung ins kalte Wasser

Das Medizinstudium bereitet angehende Ärzte vor allem inhaltlich auf ihren Berufsweg vor. Doch im Klinikalltag treffen die Berufseinsteiger auf viele Herausforderungen, auf die sie sich kaum vorbereiten konnten.

Von der Uni in den Berufsalltag - dieser Schritt ist für keine Berufsgruppe leicht und oft mit Herausforderungen verbunden, auf die kein Studium richtig vorbereitet. Junge Assistenzärzte tragen neben dem Ankommen im Berufsalltag noch die Bürde einer hohen Verantwortung, die von einem Tag auf den anderen auf ihren Schultern lastet. Wie gehen die oft erst Mittzwanziger mit dieser Erfahrung um? Wie finden sie ihren Weg und was kann der Arbeitgeber für einen möglichst guten Einstieg tun? PD Dr. Ivo Markus Heer ist Chefarzt der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe im Friedrich-Ebert-Krankenhaus (FEK) Neumünster. Er meint, der Schock beim Wechsel von der Uni in die Klinik sei nicht gerade klein: "Die jungen Kollegen fühlen sich ins kalte Wasser geschmissen. Sie müssen eine enorme Verantwortung gemessen an ihrer Erfahrung verarbeiten." Die Arbeitslast sei im Vergleich zu seiner Anfangszeit erheblich gestiegen. "Früher lagen die Patienten 14 Tage nach einem Kaiserschnitt im Krankenhaus. Heute liegen sie, wenn alles gut geht, gerade einmal vier Tage", so Heer. Hinzu kommen zunehmende Abrechnungen und Dokumentationen und die Notwendigkeit, sich auch mit IT-Lösungen auseinandersetzen zu müssen. Heer hat auch schon Anfänger erlebt, die deshalb nach dem Beginn bei einem Schwerpunktversorger bewusst in eine kleinere Klinik gewechselt sind.

Dr. Gesa Burmester ist keine von ihnen: Die 29-Jährige arbeitet seit Oktober 2015 in der Gynäkologie und Geburtshilfe im FEK. Ihr PJ hat sie im gleichen Fachgebiet absolviert, dennoch waren die ersten Wochen sehr aufregend: "Die Geburtshilfe nimmt bei uns den größten Raum ein und dort wurde ich auch die erste Zeit eingearbeitet. Da lernt man erstmal, dass das auch Notfallmedizin ist und man schon sehr viel Verantwortung trägt." Nach drei Wochen Einarbeitung absolvierte Burmester die ersten Dienste allein im Kreißsaal, nach sechs Wochen den ersten Nachtdienst. Eine übliche Zeitspanne, die sich im Gespräch mit Assistenzärzten aus anderen Häusern in Schleswig-Holstein bestätigte und so auch vom Sprecher des Bündnisses Junger Ärzte, Dr. Kevin Schulte, für angemessen gehalten wird: "Einen festen Zeitraum für die Einarbeitung zu definieren ist schwierig, das hängt auch vom Fachgebiet ab. Ob man in der Radiologie oder der Unfallchirurgie arbeitet, macht da schon einen Unterschied. Dennoch denke ich, dass etwa vier Wochen realistisch sind", so der Assistenzarzt am UKSH Kiel. Wesentlich sei, dass es eine Einarbeitung gebe, die mehr Struktur bräuchte. Er hält eine Liste und feste Definition von Kompetenzen, die man für den ersten Dienst alleine erworben haben sollte, für sinnvoll. Danach sollte sich vor allem richten, ab wann junge Ärzte eine Station allein betreuen könnten und nicht nur nach einem bestimmten Zeitraum. Das sei auch im Sinne der Qualitätssicherung notwendig.

Im FEK ist ein solches Einarbeitungskonzept vorhanden: "Wir haben ein Konzept, aus dem hervorgeht, welche Dinge jemand können muss, bevor er in den ersten Dienst geht, und dass Dienste in einer Tandemlösung aus erfahrenen und unerfahrenen Kollegen gemacht werden. Dann wird zunehmend allein gearbeitet", schildert Heer. Er versteht seine Position als Chefarzt so, dass er Anfängern eine möglichst "weiche Landung" bereiten sollte. Nach der Einarbeitungszeit biete das FEK außerdem eine gewisse Struktur und die Präsenz von diensthabenden Oberärzten über das normale Maß hinaus, wenn es notwendig sei. Dies kann Burmester bestätigen, die in ihren ersten Nachtdiensten keine Scheu hatte, ihren Oberarzt auch nachts um eins um Hilfe zu bitten. "Das ist schon viel wert. Gerade am Anfang war ich hauptsächlich im Kreißsaal eingeteilt und da hat man manchmal drei oder vier Geburten gleichzeitig. Da kann ich jederzeit jemanden anrufen, der dazukommt", so die junge Assistenzärztin.

"Es gibt sehr differenzierte Konzepte zur Einarbeitung (...). Aber man muss realistisch bleiben: Die personellen Ressourcen im Krankenhaus sind mittlerweile sehr eng."

Auch im Hartmannbund setzt man auf eine gut organisierte Einarbeitung, von der die jungen Kollegen und die Klinik profitieren: "Frisch aus dem Studium macht es Sinn, zunächst einige Zeit 'mitzulaufen' und einem Facharzt über die Schulter schauen zu können, um die klinikinternen Strukturen kennenzulernen. Natürlich kann eine gute Einarbeitung bei dünner Personaldecke und hohem Zeitdruck unmöglich werden."

So erging es auch Pia Staubach, Assistenzärztin in der Gastroenterologie im Städtischen Krankenhaus Kiel, die bereits nach zwei Wochen eine halbe Station allein betreute. "Theoretisch wäre die Einarbeitung etwas länger geplant gewesen, aber das richtet sich auch ein bisschen danach, wie es gerade passt mit den Assistenzärzten. Ich hatte aber immer jemanden, den ich fragen konnte, und auf der Diabetes-Station gibt es auch noch relativ viel Anleitung durch die Diabetesberaterinnen und eine Diabetologische Oberärztin", erzählt die 27-Jährige, die im März 2017 ihre erste Stelle angetreten hat. "Es gibt sehr differenzierte Konzepte zur Einarbeitung mit Checklisten und genauen Zeitplänen und Vorstellungen. Aber man muss realistisch bleiben: Die personellen Ressourcen im Krankenhaus sind mittlerweile sehr eng", ergänzt ihr Chefarzt, PD Dr. Sebastian Ullrich. "Wir schaffen es trotzdem noch relativ konsequent, die jungen Kollegen einzuarbeiten, zumindest eine Zeit lang. Im Grunde muss man vieles improvisieren, was wir ganz gut hinbekommen." Für die jungen Kollegen seien immer Ansprechpartner vorhanden, um die notwendige Betreuung zu gewährleisten. "Aber das ist die Realität 2017 und die ist hier nicht anders als in anderen Kliniken", so Ullrich. Viel persönliches Engagement und ein gutes Team könnten diese Umstände noch auffangen: "Das menschliche Miteinander muss stimmen. Das ist extrem wichtig." Dafür profitieren Staubach und ihre Kollegen von anderen Annehmlichkeiten bei ihrem Arbeitgeber: Kodierer, Entlassungsmanagement, Sozialdienst und ähnliche Strukturen nehmen den Medizinern viel Arbeit ab, die sie sonst zusätzlich belasten würde. "In anderen Häusern sitzt man abends noch und kodiert zwei Stunden alle Akten durch", sagt Chefarzt Ullrich.

Gerade einmal ein Drittel (31,2 Prozent) der Assistenzärzte treffen in ihrer Abteilung auf eine Entlastung durch Kodierer. Dies geht aus einer Umfrage des Hartmannbundes von Dezember 2016/Januar 2017 hervor. Der überwiegende Teil der jungen Kollegen verbringt laut der Umfrage täglich bis zu drei (34,7 Prozent) oder mehr Stunden (36,5 Prozent) mit Dokumentation.

"Im Studium wird man null darauf vorbereitet", meint Burmester aus Neumünster. "Der Patientenkontakt ist dadurch wirklich gering. Man geht morgens Visite und organisiert dann alles am Computer, diktiert die Briefe etc. Das ist manchmal schon etwas frustrierend." Dem stimmt auch ihr Chefarzt Heer zu, der als junger Arzt unter anderen Umständen startete: "Ich hab' mir morgens einen Kittel angezogen und dann fing mein Tag mit einer Visite an. Ich hatte sehr viel Patientenkontakt und sehr wenig Dokumentation. Heute ist es umgekehrt. Das ist nicht mit dem Berufsbild kompatibel, das sich die jungen Kollegen eigentlich vorgestellt haben." Das zeigt auch die Umfrage des Hartmannbundes: 74 Prozent der jungen Assistenzärzte geben in Schulnoten an, dass sie mit der Behandlungszeit ihrer Patienten nur "befriedigend" oder schlechter zufrieden sind. 18 Prozent halten die Behandlungszeit gar für mangelhaft. Kommentare der Nachwuchsärzte im Rahmen der Umfrage spiegeln diese Unzufriedenheit deutlich wider: "Akkordarbeit. Entlassungen Schlag auf Schlag.", "Fließbandarbeit bei der Befundung" oder "Gesundheitsfabrik Krankenhaus" - so resümieren die Berufseinsteiger ihre Arbeitsbedingungen. "Es bleibt keine Zeit für eine patientengerechte Behandlung. Vertrauensbildende Patientengespräche und Angehörigengespräche sind eher eine Last. Man dreht sich den ganzen Tag wie ein Hamster im Rad", heißt es in den Umfrageergebnissen weiter.

Zwar äußerten sich die schleswig-holsteinischen Assistenzärzte in ihren Interviews nicht so negativ, dennoch gibt auch Heer zu, dass neben dem hohen Durchsatz in den Kliniken die zunehmende Digitalisierung eine weitere Belastung sei. E-Mails beantworten, Dokumentationen verantworten, Zertifizierungen wuppen, Arztbriefe sehr schnell versenden, OP-Berichte am selben Tag diktieren und korrigieren - auf all das müssen sich die Berufsanfänger erst einmal einstellen.

In den administrativen Aufgaben sieht auch René Schwerlak, Assistenzarzt in der Kardiologie in den Segeberger Kliniken, die größere Herausforderung im Vergleich zum Fachlichen, auf das die Uni gut vorbereite: "Das ist eine Katastrophe! Das alles zu lernen nervt in den ersten Wochen ganz schön und das sorgt am Anfang auf jeden Fall für Überstunden", so der 27-Jährige, der seit Juli 2016 im Berufsleben steht. "Inhaltlich bekommt man ein gutes Grundgerüst von der Universität mit. Worauf man aber nicht vorbereitet wird, ist der Ablauf im Krankenhaus. Keiner sagt einem, was deine Rolle auf der Station ist. An meinem ersten Tag kamen direkt zwei Case-Managerinnen auf mich zu und wollten den weiteren Ablauf besprechen", schildert Schulte vom Bündnis der jungen Ärzte seinen Berufseinstieg. Er habe sich dann am Wochenende Gedanken dazu gemacht und eigene Strategien entwickelt. Hier würde er sich mehr Vorbereitung schon im Studium wünschen.

Auch Staubach hatte in Kiel zunächst mit den Abläufen zu kämpfen: "Am Anfang ist es eine große Herausforderung, überhaupt zu wissen, wen ich wann anrufen und was für Fragen ich stellen muss. Schon allein bis man den Überblick hat, wie ein Krankenhaus funktioniert, dauert es eine Weile." Ihr Chef Ullrich hielte ein Ausbildungsmodul, das sowohl medizinische Betriebswirtschaft als auch das Gesundheitssystem abdeckt, für eine sinnvolle Ergänzung zu den bisherigen Inhalten des Studiums. Die meisten Absolventen kämen ins Krankenhaus ohne die leiseste Ahnung davon zu haben, wie das Gesundheitssystem überhaupt funktioniert. DRGs, OPS-Ziffern, etc. sind böhmische Dörfer für viele Berufseinsteiger. "Ich finde es ganz wichtig, damit man versteht, dass man Teil einer komplexen Mechanik ist. Viele wissen überhaupt nicht, wie die Mechanik um sie herum eigentlich aussieht. Das Betriebswirtschaftliche sollte nie im Vordergrund stehen, aber Verständnis dafür könnte nicht schaden", so Ullrich. Ins gleiche Horn stößt auch Heer in Neumünster: "Studenten wissen eigentlich nicht, wie ein Krankenhaus funktioniert und wie hier gearbeitet wird: Wie kommt der Patient rein, wie kommt er raus? Wie wird abgerechnet? Wodurch entstehen Löhne und Gehälter? Da besteht überhaupt kein Bezug. Da erlebe ich bei den jungen Kollegen doch immer mal wieder Frustration, gerade am Anfang. Wenn verstanden wird, warum Dinge so sind, sind sie viel leichter auszuführen als wenn man sie sinnlos vorgesetzt bekommt."

Neben den administrativen Aufgaben bleibt die Verantwortung für die Patienten eine große Herausforderung. Die ersten Dienste allein sind für alle Anfänger aufregend, berichtet auch die angehende Gynäkologin Burmester aus Neumünster: "Der Kreißsaal war gar nicht so schlimm, da hat man ja noch die Hebamme. Aber die Angst vor den gynäkologischen Patientinnen war groß. Da hatte ich bis dato wirklich wenig Erfahrung. Aber der erste Dienst war sehr ruhig, da hatte ich Glück." In einer anderen Situation stieß die junge Assistenzärztin allerdings an ihre Grenzen: Im Nachtdienst wurde sie mit gleich drei geburtshilflichen Notfällen konfrontiert, im Hintergrund nur ein Gastarzt, den sie nicht kannte. "Ich wusste gar nicht, was ich zuerst abarbeiten sollte. Bei uns hat man ja auch immer zwei Leben: die Frau und natürlich das Kind. Eines der Kinder kam noch in die Kinderklinik. Das nimmt man schon mit nach Hause. Am Ende war alles gut, aber es war eine riesige Herausforderung." Auch ihr Chefarzt Heer erinnert sich genau an diese Nacht: "Das hat das System stark strapaziert. Aber zeitgleiche Notfälle sind für uns alle die Horrorsituation." Auch Schwerlak aus den Segeberger Kliniken kann sich gut erinnern, wie aufgeregt er am Anfang war, insbesondere bei den ersten Diensten in der Zweitniederlassung in Norderstedt. "Dort ist man am Samstag wirklich 24 Stunden alleine. Da gibt's keinen Notarzt, keinen Intensivarzt. Da macht man sich schon Gedanken." Bei seinen bislang vier Diensten waren Anspannung und Stress hoch. "Ich beschäftige mich vorher viel damit und stelle sicher, dass ich z. B. die Medikamente für Akutsituationen sicher beherrsche. Aber im Nachhinein freut man sich auch, dass man es geschafft hat."

Seine 26-jährige Kollegin Laura Borcherding, die im Januar dieses Jahres auf der Reha-Station der Kardiologie angefangen hat, behilft sich für solche Fälle mit kleinen Notizen: "Ich habe ein kleines Büchlein, wo ich alles reinschreibe, was ich mache, wenn bestimmte Dinge passieren. Damit hat man im Notfall eine kleine Anleitung." Durch das Studium habe man theoretisch alles kennengelernt, in der Praxis sehe es dann aber anders aus. Für beide in Bad Segeberg tätigen Ärzte sind die unerwarteten Fälle jene, die ihnen auch nach Monaten noch Respekt einflößen: "Wir sind in der Kardiologie, da kann es immer Schlaganfälle geben oder auch Reanimationen. In der ersten Woche hatte ich gleich einen Schlaganfall, was ich zum Glück mitbekommen habe. Man fragt sich aber schon, wie es ausgegangen wäre, wenn ich das nicht bemerkt hätte", so Schwerlak. "Ich glaube, dass dieser ausgesprochene Respekt nie aufhören wird", ergänzt seine Kollegin Borcherding.

Ähnliche Erfahrungen hat auch Boy Raczkowski, 26-jähriger Assistenzarzt in der Radiologie des FEK gemacht. Zwar hat er die Verantwortung, die mit seinem Job einhergeht, positiv wahrgenommen und hätte sich gewünscht, bereits früher Verantwortung zu tragen. "Ich finde es gut, dass man nun Sachen selber entscheiden darf und auch soll", meint er. Aber in Notfallsituationen macht ein mulmiges Gefühl auch vor ihm nicht Halt: "Wenn man plötzlich eine Reanimation hat und ein Patient gerade verstirbt, dann ist man selbst verantwortlich. Ich hatte das bisher zwei Mal ganz am Anfang. Da löst man zwar den Alarm aus und dann kommen auch die Spezialisten dazu, aber man muss ja erstmal die Situation erkennen, dass der Patient gerade aufhört zu atmen oder das Herz aufhört zu schlagen." Gedanken daran, dass Patienten trotz Reanimation sterben, nimmt der junge Assistenzarzt auch mal mit nach Hause, aber "es bleibt einem nichts anderes übrig als da hineinzuwachsen". Viel über das Erlebte zu sprechen, hat die angehende Internistin Staubach aus Kiel für sich als Verarbeitungsstrategie ausgemacht. Anders als im PJ bespricht sie heute viele Dinge mit ihrem Mitbewohner, der ebenfalls Medizin studiert. "Wenn ich anfange zu erzählen, höre ich manchmal gar nicht mehr auf", sagt sie lächelnd. Auch das Nachschlagen in Fachbüchern hilft ihr, Dinge zu verarbeiten und sich Stück für Stück sicherer zu fühlen.

Unsicherheit strahlen die Klinikanfänger aber nicht auf ihre Patienten aus. Zwar haben alle die Erfahrung gemacht, dass sie von Patienten auf ihr Alter angesprochen wurden, die Reaktionen waren aber immer eher positiv, wie Assistenzärztin Borcherding berichtet: "Die Patienten fragen manchmal, wie alt man ist und wie lange man schon hier arbeitet. Aber das ist nie negativ, sondern eher neugierig." Das bestätigt auch die Nachfrage bei der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD). Hier ist das Alter der Assistenzärzte kein relevantes Thema bei den Beratungen.

Eine andere Situation trifft eher das weibliche Personal: "Das Problem, nicht für voll genommen zu werden, haben eher die Frauen. Gerade wenn sie keinen Kittel anhaben, werden sie oft für eine Schwester gehalten. Da ärgern sich meine Kolleginnen häufig drüber", erzählt Raczkowski aus dem FEK. "Wenn man ohne Kittel rumläuft, sieht man genauso wie eine Schwester aus", bestätigt Staubach. "Wenn man dann noch jung ist, sehen die älteren Patienten nicht sofort, dass man der Arzt ist. Manchmal merkt man auch, dass die Leute einem nicht so recht glauben wollen. Die Autorität kommt vielleicht noch nicht so rüber", meint die gebürtige Westfälin. Das Problem gebe es allerdings schon immer, sagt Chefarzt Heer aus Neumünster. "Ich war in einer Klinik, wo es viele Männer in meiner Altersgruppe gab und da wurden die Frauen in der gleichen Altersstufe auch immer für die Pflegekräfte gehalten." Seine Assistenzärztin Burmester hat dieses Problem seltener, seit sie einen Doktortitel auf ihrem Schild stehen hat: "Das hört sich zwar doof an, aber dann gucken die Patienten doch nochmal anders", hat sie festgestellt. So kommt es wohl auch, dass alle befragten Assistenzärzte die Promotion weniger für sich selbst als für die Anerkennung durch die Patienten anstreben, für die der Titel offenbar immer noch das Zeichen für einen "echten Arzt" ist. Zwar kann der Titel von Vorteil für die Karriere sein - die Nachwuchsärzte sind sich aber einig, dass man damit kein besserer Arzt wird. Ohnehin plant nur ein kleiner Teil der Berufsanfänger eine große Karriere, wenn man den Zahlen des Hartmannbundes folgt: 6,2 Prozent der Männer und 1,2 Prozent der Frauen haben sich vorgenommen, einmal Chefarzt zu werden. Für die große Mehrheit ist mit dem Titel Oberarzt (31,9 Prozent der Männer, 19,2 Prozent der Frauen) das höchste angestrebte Karriereziel erreicht. Viele Ärztinnen (30,1 Prozent) und Ärzte (27,5 Prozent) sehen sich künftig in einer Form der Niederlassung. Heer sieht hier noch viel Nachholbedarf bei den Kliniken: "Auch hier im Haus haben wir keine Chefärztin. Das ist schade und nicht richtig. Wir müssen uns in Zukunft überlegen, wie wir das besser machen und jungen Kolleginnen eine Perspektive bieten. Warum teilen sich zwei Frauen nicht eine Oberarzt- oder Chefarztposition? Das sind Dinge, die wir entwickeln müssen, wenn wir die Frauen nicht als Führungskräfte verlieren wollen." Soweit denken die befragten Berufsanfänger jedoch noch nicht. Sie alle haben erst einmal den nächsten Meilenstein vor Augen: den Facharzt.

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Pia Staubach (27), Gastroenterologie, Städtisches Krankenhaus Kiel

Die 27-jährige Pia Staubach kommt ursprünglich aus Westfalen-Lippe und wollte schon immer gern in den Norden. Sie erhielt einen Studienplatz in Kiel und entschied sich, auch nach dem Praktischen Jahr an der Förde zu bleiben. Im März 2017 startete sie im Städtischen Krankenhaus Kiel, das sie schon von Lehrveranstaltungen der Uni kannte, in der Gastroenterologie in das Berufsleben.

Am Anfang beschäftigte die junge Medizinerin besonders, dass ihre Patienten schon extrem alt und krank sind. "Manchmal kommt man in das Zimmer zur Visite und keiner spricht mit einem, weil die Patienten mit Pneumonie kommen und am Sauerstoff hängen." Dass sie sich unter solchen Umständen auch darum kümmern muss, wer für die Betreuung zuständig ist, und weiter entscheidet, was mit den Kranken passiert, ob sie im Heim oder zu Hause gut versorgt sind, damit hat die Assistenzärztin vor ihrem Berufsbeginn nicht gerechnet.

Auch die ersten Dienste allein waren anspruchsvoll: "Es ist viel auf einmal, das man beachten muss. Ich hab' die ganze Zeit Zettel geschrieben, damit ich keine wichtigen Sachen vergesse. Man geht abends ins Bett und wacht morgens mit dem ersten Gedanken an die Visite auf." Aber das Team auf Station und die Schwestern vermitteln der angehenden Internistin eine gewisse Sicherheit. "Wenn man etwas vergisst, spricht einen die Pflege auch drauf an", so Staubach, die schon ihr PJ sinnvoll genutzt hat, um sich auf viele administrative Aufgaben wie das Briefe diktieren vorzubereiten. Auch die Kommunikation mit Patienten hat sie im PJ bei zahlreichen Patientenaufnahmen inklusive Anamnese geübt, was ihr Chef PD Dr. Sebastian Ullrich für einen guten Weg hält: "Wer in diesem Beruf gut werden will, muss engagiert sein." Dennoch hätte sich Staubach gewünscht, schon im Studium mehr praktische Dinge zu lernen, die sie auf der Station sofort selbst machen musste, wie sonografieren oder ein EKG durchführen. (ALS)

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Boy Raczkowski (26), Radiologie, FEK Neumünster

In Hamburg hat der 26-jährige Boy Raczkowski Medizin studiert. Auch sein PJ absolvierte er in der Hansestadt in der Radiologie, bevor er im Juni 2016 im gleichen Fachgebiet seine Weiterbildung in Neumünster startete. Am Anfang seiner Assistenzarztzeit hatte Raczkowski mit allabendlicher Müdigkeit zu kämpfen, die ihm der enorme fachliche Input bescherte. In der Radiologie hat er anderen Fachgebieten gegenüber allerdings den Vorteil, keine ganze Station betreuen zu müssen: "Wir haben Untersuchungen, die standardisiert ablaufen. Das ist leichter und schneller zu lernen, als wenn man ganze Stationen allein führen muss", so der junge Arzt. Von der Radiologie verspricht er sich in Zukunft noch viele Neuheiten und technische Fortschritte, die der Medizin in den nächsten Jahrzehnten neue Behandlungs- und Diagnosemöglichkeiten eröffnen werden.

Das Studium fand der angehende Radiologe schon ziemlich lang, dafür aber auch gut strukturiert. Es sei eine Grundausbildung, die zwar nicht auf das Arbeitsleben vorbereitet, aber doch schon sehr vieles abdecke. Trotzdem wäre er lieber schon früher in das Arbeitsleben eingestiegen: "Ich glaube, es wäre sinnvoller, wenn man früher anfängt zu arbeiten und damit auch früher mehr Verantwortung übernimmt. Wenn man dazu gezwungen ist, Dinge selber zu machen, lernt man einfach mehr. Man ist ja immer unter Aufsicht." Sein Chefarzt Prof. Thomas Jahnke hat noch den Arzt im Praktikum gemacht und hat davon seiner Meinung nach sehr profitiert: "Ich habe viele klinische Erfahrungen gemacht, die mir später in meinem Beruf als Radiologe geholfen haben. Ich war in der Chirurgie und habe Operationen mitgemacht. Ich glaube, es wäre für einige hilfreich, mehr Zeit im Stationsalltag oder im OP verbracht zu haben. Wenn man weiß, wie ein OP-Eingriff abläuft und dann einen Patienten hat, der nach einer solchen OP mit Komplikationen zu einem kommt, ist man viel besser gewappnet für die Diagnosestellung", so der Radiologe, der jungen Kollegen bei der Wahl des Fachgebietes raten würde, auch über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nachzudenken. Dem stimmt auch Raczkowski zu: "Es hängt viel vom Arbeitgeber ab. Wenn man jeden Tag drei Überstunden macht, die von einem verlangt werden, ohne dass sie bezahlt werden oder man einen Ausgleich bekommt, kann man sich nicht noch um drei Kinder kümmern."

Arbeitszeitgesetz und Freizeitausgleich haben laut Jahnke aber auch einen Nachteil: Sie stören seiner Meinung nach auch ein wenig die Weiterbildung. "Es gibt Wochen, da ist der Weiterbildungsassistent zwei Tage die Woche nicht da. Dann kann er an seinem Arbeitsplatz, wo er eigentlich lernen soll, nicht eingeteilt werden. Das war früher besser. Da haben wir zwar länger gearbeitet, aber wir waren mehr am Stück in einem Bereich und in den Kernzeiten immer vor Ort." (ALS)

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Laura Borcherding (26) und René Schwerlak (27), Kardiologie, Segeberger Kliniken, Bad Segeberg

Zwei bis drei Wochen bleiben die rund 140 Patienten im Reha-Zentrum der Kardiologie in den Segeberger Kliniken. Damit hat die 26-jährige Assistenzärztin Laura Borcherding den Vorteil gegenüber vielen ihrer Kollegen, dass sie ihre Patienten tatsächlich kennenlernt und längerfristig betreuen kann. Seit einem halben Jahr ist sie in der Klinik tätig, wo sie auch schon ihre Praktika im Studium sowie das praktische Jahr absolviert hat. Vor ihren ersten selbstständigen Diensten hat sie sich nicht nur viel von Kollegen erzählen lassen, sondern ist auch mal mit ihnen mitgelaufen und hat ihnen über die Schulter geschaut. "Man ist schon aufgeregt, aber mit der Zeit merkt man, dass es gar nicht so schlimm ist, wie man sich das vorstellt. Die wirklich schwierigen Patienten bespricht man ja auch mit dem Oberarzt. Alles andere lernt man dann im Stationsalltag kennen", so die gebürtige Hamburgerin. Als gute Hilfe empfindet sie die Frühbesprechungen im Haus, bei denen auch Fortbildungen gehalten werden, um das theoretische Wissen aufzufrischen. Anderen angehenden Ärzten würde sie empfehlen, schon Praktika im Studium intensiv zu nutzen: "Man ist im Studium vielleicht noch ein bisschen schüchtern, aber man muss sich während dieser Praktika auch mal in den Vordergrund stellen und versuchen, eigene Patienten zu übernehmen. Da kann man viel lernen. Man hat noch nicht so viel Verantwortung wie jetzt. Wenn man Arzt ist, hat man viel mehr zu organisieren, muss alles überblicken und managen. Das lernt man nicht während des Studiums, weil man da nie so viele Patienten auf einmal betreut." Für die Zukunft ist es Borcherding wichtig, viel Erfahrung zu sammeln. Sie will viele Krankheitsbilder kennenlernen und Untersuchungen mitmachen, bevor die Facharztprüfung das nächste Ziel in einigen Jahren ist.

Ihr Kollege René Schwerlak ist seit gut einem Jahr in der Kardiologie als Assistenzarzt tätig. Im Gegensatz zum Reha-Zentrum hat er auf der Normalstation jeden Tag zwischen fünf und sieben Aufnahmen und noch einmal ähnlich viele Entlassungen. Die hohe Belastung führte in den ersten Wochen dazu, dass der 27-Jährige sich besonders viele Gedanken machte, ob er alle Medikamente richtig angeordnet und alle Untersuchungen korrekt durchgeführt hat. "Man kann nicht immer bei allem Rücksprache mit dem Oberarzt halten, sondern man ist hier im Haus sehr eigenverantwortlich. Da denkt man die ersten paar Tage schon doppelt so viel nach, auch noch am Abend zu Hause", so Schwerlak über seine ersten Wochen in der Klinik.

Studiert hat der gebürtige Rheinländer in seiner Heimat Köln, wo er an einem Modellstudiengang teilgenommen hat. Schon ab dem ersten Semester wurde er dadurch auch praktisch ausgebildet. Im Rückblick habe ihm das aber gar nicht so viel gebracht: "Am wichtigsten waren eigentlich die Famulaturen und das Praktische Jahr. Ich hab zum Glück immer tolle Kliniken gefunden. Dort habe ich am meisten von den Ärzten gelernt." Parallel hat Schwerlak auch noch Physik studiert, für die Doktorarbeit blieb da keine Zeit mehr. Diese macht er jetzt bei seinem Arbeitgeber im Herzzentrum. Auf seinen Bachelor in Physik ist er allerdings mindestens genauso stolz wie auf den Abschluss des Medizinstudiums, denn "in der Medizin bekommt man das wissenschaftliche Denken nicht so beigebracht wie als Naturwissenschaftler". (ALS)


Info

65 % der Assistenzärzte sind der Meinung, dass ihre Arbeitszeiten nicht objektiv und manipulationssicher vom Arbeitgeber erfasst werden. Das geht aus der Befragung des Hartmannbundes unter 1.300 Teilnehmern hervor. Die Studie ist online abzurufen unter www.hartmannbund.de (Pressemitteilungen).


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 7:
Dr. Gesa Burmester (29) ist gebürtige Schleswig-Holsteinerin und wollte nach ihrem Studium in Gießen zurück in den Norden. Nach dem Facharzt strebt sie weiterhin eine Tätigkeit im Krankenhaus an. Ihr Chefarzt PD Dr. Ivo Markus Heer sieht in den Kliniken noch Entwicklungsbedarf, um Frauen in der stationären Versorgung zu halten.

Abb. S. 8:

Pia Staubach mit ihrem Chefarzt PD Dr. Sebastian Ullrich.

Abb. S. 9:
Boy Raczkowski mit dem Chefarzt der Klinik für Diagnostische und Interventionelle Radiologie/Nuklearmedizin, Prof. Thomas Jahnke.

Abb. S. 10 oben:
Laura Borcherding hat Anfang 2017 mit 25 Jahren ihre Assistenzarztzeit in den Segeberger Kliniken begonnen.

Abb. S. 10 unten:
Der gebürtige Kölner René Schwerlak hat ein halbes Jahr vor seiner Kollegin seine Weiterbildung in der Kardiologie in der gleichen Klinik begonnen.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 9/2017 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2017/201709/h17094a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
70. Jahrgang, September 2017, Seite 1 und 7 - 11
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-272, -273, -274,
E-Mail: aerzteblatt@aeksh.de
www.aeksh.de
www.arztfindex.de
www.aerzteblatt-sh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. November 2017

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