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BILDUNG/718: Famulatur in Palästina - Zuhause noch längst nicht vorbei (IPPNWforum)


IPPNWforum | 125 | 11
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Zuhause noch längst nicht vorbei
Ida Persson war mit dem IPPNW-Projekt "famulieren & engagieren" in Palästina

Von Ida Persson


Was bedeutet Frieden? Bedeutet es militärische Kontrolle über Grenzgebiete und die diplomatische Festlegung dieser Grenzen?


Das schönste Erlebnis während des zweimonatigen Aufenthaltes in Palästina war das Entstehen von wunderbaren, mein Leben bereichernden Freundschaften. Das Traurigste war es, von eben diesen Freunden den tiefen Zwiespalt zwischen Hoffnung und Verzweiflung zu spüren, der in der Bevölkerung dieses Landes seit Jahrzehnten einschneidet.

In täglichen Begegnungen konnte ich zwei sehr kontrastreiche Umgangsweisen mit dem Zustand der Besatzung beobachten. Entweder füllt die Politik den persönlichen Alltag aus - in Gedanken und Handeln - oder sie wird aus dem Bewusstsein verdrängt. Das eigene Leben engt sich dann auf einen privaten Raum ein, die Konfrontation mit den eigenen Unfreiheiten wird möglichst vermieden. Diese letztere Strategie ahnte ich hauptsächlich bei jüngeren Palästinensern und Palästinenserinnen, deren Wunsch nach Normalität und der Möglichkeit persönlicher Entfaltung durch Mauer, Check-Points, Siedlungsbau mit daraus resultierender Segregation der Westbank und wirtschaftliche Abhängigkeit kaum umzusetzen ist.

Famulieren

Sehr glücklich war ich über die Möglichkeit in dem einzigen Kinderkrankenhaus der Westbank famulieren zu können, dem "Caritas Baby Hospital". Die ganze Klinik, die einen Katzensprung von meiner Wohnung entfernt lag, war relativ klein und bestand aus einer Neonatologie und zwei allgemeinpädiatrischen Stationen. Die zugehörige Ambulanz hatte rund um die Uhr auf und bot auf wöchentlicher Basis auch mehrere Spezialsprechstunden an, wie Neurologie oder HNO. Der erste Eindruck war positiv; es war sauber, wirkte modern und gut ausgerüstet.

Aus medizinischer Sicht lehrreich, aber emotional schwer zu ertragen, waren die vielen von genetischen Erkrankungen betroffenen Kinder. Innerfamiliäre Ehen sind relativ häufig, was einerseits auf traditionellen Denkweisen, anderseits auf politisch begründeten Bewegungsrestriktionen beruht. Die Möglichkeiten, diesen Kindern ein würdiges Leben zu bieten, erscheinen schnell ausgeschöpft. Die Eltern sind oft mit der Aufgabe überfordert, die Gesellschaft tabuisiert und die Einrichtungen für Rehabilitation und Pflege chronisch Kranker sind rar. Als in meiner letzten Praktikumswoche ein kleiner Patient mit einem unbekannten genetischen Leiden plötzlich in Sauerstoffsättigung abstürzte, daraufhin intubiert und auf einen der neuentstehenden Intensivplätze verlegt werden musste, kam seine Mutter zum ersten Mal ins Krankenhaus. Sie war untröstlich. "Warum kommt sie jetzt und weint über ihr Kind?" fragte ein älterer Arzt fast zornig. "Ihr Sohn war immer schwer krank, sie hat ihn aber nie besucht." Über die Sozialarbeiterin erfuhr ich allerdings, dass die Frau große familiäre Probleme hatte und vorher nicht vorbeikommen konnte.

Neben Medizin war die Politik täglich präsent. Während der Visite (als nebenbei erklärt wurde, welche Schwierigkeiten im Weg stehen, wenn ein Kind nach Jerusalem oder Tel Aviv überwiesen werden muss) oder später am Frühstückstisch (über persönliche Erfahrungen, wie das Leben unter Besatzung oder die Zeit der Intifada sowie persönliche Meinungen zu Hamas und Fatah, Ein- oder Zweistaatenlösung). In vielen Gesprächen ging es aber auch um die Konflikte in der eigenen Gesellschaft. Um Korruption und Skepsis den eigenen Politikern gegenüber. Um Vorurteile und Misstrauen zwischen Christen und Moslems. Beides große und schwierige Themen.

Bevor Ramadan zu Ende war, gab es für alle Angestellten eine große Feier im Hotel Intercontinental, sowie jedes Jahr auch zu Weihnachten. Die Stimmung war ausgelassen und die langen Tische mit Köstlichkeiten beladen. Wir tanzten, bis wir vor Lachen nicht mehr konnten. Nur die italienische Schwester in ihrem weißen Ordensgewand und ein junger Krankenpfleger wurden nicht müde. Dass die Leute gut feiern können, bezeugt auch die Reihe von Hochzeiten, zu denen immer großzügig eingeladen wird.

Engagieren

Nach einem Monat in Bethlehem musste ich schweren Herzens einsehen, dass die Halbzeit schon erreicht war. Gleichzeitig wechselte ich vom Krankenhaus zum Sozialpraktikum in der Nichtregierungsorganisation GTC (Guidance and Training Center for the Child and Family), eine Organisation, die vor etwa 15 Jahren gegründet wurde und seitdem als Beratungs- und Behandlungszentrum für psychosoziale Gesundheitsstörungen fungiert. Was dort eine NGO bewältigt, wäre in Deutschland Aufgabe einer staatlichen Einrichtung.

Der zentrale Teil des Praktikums bestand in dem Beiwohnen der Therapiesitzungen und Beratungsgesprächen. Es war durchgängig schön zu sehen, mit welcher Empathie und Feinfühligkeit sie geführt wurden. Am spannendsten, weil einfacher zu folgen, war die Spieltherapie mit den kleineren Kindern. Aus Gesprächen nebenbei lernte ich einiges über psychiatrische Krankheitsbilder, sowie über das Bild der Psychiatrie in der palästinensischen Gesellschaft. Ein wichtiger Teil der Arbeit des GTC sind die öffentlichen Sensibilisierungskampagnen, womit angestrebt wird Vorurteile zu brechen und auf die möglichen Hilfsangebote aufmerksam zu machen.

"Engagieren" konnte ich mich hier aber letztendlich vor allem auf kognitiver Ebene. Damit meine ich die Auseinandersetzung mit den politischen und gesellschaftlichen Konflikten der Region. Sehr oft sprachen wir im Büro über die NGO-Landschaft des Nahen Ostens - wie vermeintliches Helfen kontraproduktiv wirken kann und welche Agenda eigentlich hinter großen Spendern steckt. US-Aid verlangt zum Beispiel das Unterschreiben einer Anti-Terror-Klausel. Kommentar meines Betreuers: "Wir können nicht unsere Patienten und Patientinnen fragen, für welche Partei sie denn in den letzten Wahlen gestimmt haben, das wäre unethisch".

Für mich zählen deshalb viele andere Erlebnisse zu diesem zweiten Teil meines Aufenthaltes. Ein Wochenende verbrachte ich an der Birzeit Universität, außerhalb von Ramallah. Dort nahm ich an der Konferenz "Geographies of Aid Intervention in Palestine" teil. In dieser Veranstaltung wurden verschiedene Aspekte der Besatzung beleuchtet; ökonomische Abhängigkeit, internationales Gesetz und humanitäre Hilfe, als ein paar Beispiele. Auch erfolgte die Diskussion darüber, ob es überhaupt angemessen ist, die gegebene Situation als Besatzung zu definieren - immer häufiger wird stattdessen von "Kolonialismus" und "Apartheid" gesprochen. Kann der Kampf um die Rechte der palästinensischen Bevölkerung etwas von der Anti-Apartheid-Bewegung in Südafrika lernen? Wie kann die internationale Gesellschaft ihre Verantwortung wahrnehmen um diesen Konflikt, den sie selbst mit-geschaffen hat, zu einem Ende zu bringen? What does it mean to aid Palestine and what is Palestine? Diese zwei Tage boten mir viel Stoff zum Nachdenken.

Wenn ich an Palästina denke, bin ich glücklich und traurig zugleich. Ich wünsche innigst, dass die verschiedenen Bevölkerungsgruppen des Nahen Ostens eines Tages in Frieden miteinander werden leben können. Aber es hat sich auch eine Skepsis gegenüber diesem viel verwendeten Begriff entwickelt. Der in den Medien so genannte peace-process klingt für die meisten Menschen, mit denen ich gesprochen habe, wie ein Hohn. Was bedeutet wirklicher Frieden?

Bedeutet es, dass Menschen keine Schussverletzungen, keine Flugzeugangriffe, keine Bombenanschläge, keine Qassam-Raketen mehr erleiden? Bedeutet es militärische Kontrolle über Grenzgebiete und die diplomatische Festlegung dieser Grenzen? Oder ist es ein friedlicher, respektvoller Umgang miteinander das Sicherstellen gleicher Rechte, die gegenseitige Anerkennung der Bedürfnisse des Anderen - eine Fähigkeit einer Gesellschaft und jedes einzelnen Menschen zu Konfliktbewältigung?

Für mich birgt dieser letzte Ansatz den einzig nachhaltigen Weg. Jeder einzelne Mensch hat einen Einfluss auf die Welt. Es ist möglich zu einem Frieden beizutragen. An diesem Punkt bin ich allerdings schon weit außerhalb der Westbank oder der ganzen Nahostregion angelangt, und das führt mich zum abschließenden Gedanken: Eine Reise ist bei der Rückkehr nach Hause noch längst nicht zu Ende.


Ida Persson studiert im 7. Semester in Leipzig und ist in der dortigen Studierendengruppe der IPPNW aktiv. 2010 war sie Mitglied der Delegation zur NPT in New York.


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Quelle:
IPPNWforum | 125 | 11, März 2011, S. 28 - 29
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
Anschrift der Redaktion: IPPNWforum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. April 2011