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UMWELT/243: USA - Erhöhung der Grenzwerte im Strahlenschutz geplant (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 704-705 / 30. Jahrgang, 5. Mai 2016 - ISSN 0931-4288

Hormesis-Ideologen wollen 100 Millisievert pro Jahr erlauben
Wissenschaftliche Belege sprechen dagegen

Von Annette Hack


Es gibt immer wieder Versuche, Grenzwerte im Strahlenschutz heraufzusetzen.

Am 16. Juni 2015 lud die Atomaufsicht der USA, die Nuclear Regulatory Commission (NRC), die Öffentlichkeit zur Stellungnahme zu drei bei ihr eingegangenen Petitionen ein, die nicht nur darauf abzielten, die zulässigen Dosen bedeutend zu erhöhen, sondern auch die theoretische Grundlage des bisherigen Strahlenschutzes zu verwerfen. [1] Diese Grundlage ist das Linear-No-Threshold-Modell (LNT), dem zufolge jede Strahlendosis, selbst die Kleinste, das Potential für Gesundheitsschäden mit sich bringt.

Die Reihe der Petenten wurde eröffnet von Dr. Carol S. Marcus, Professorin für Radioonkologie, Nuklearmedizin und Radiologie an der David Geffen School of Medicine der University of California, Los Angeles, die von 1990 bis 1994 auch Mitglied einer beratenden Kommission der NRC zur Anwendung von Radio-Isotopen in der Medizin gewesen war. Dr. Marcus verlangte, die Strahlenschutzbestimmungen des Code of Federal Regulations, Teil 10, Abschnitt 20, "stark zu vereinfachen und zu verändern". Insbesondere sollten

(1) die zulässigen Dosen für strahlenexponierte Beschäftigte unverändert bleiben, und es sollten bei chronischer Strahlenexposition bis zu 100 Millisievert (mSv) (10 rem) Effektivdosis pro Jahr erlaubt sein,

(2) die Grundsätze des ALARA (as low as reasonably achievable - so gering wie vernünftigerweise zu erreichen) gänzlich aus den Strahlenschutzbestimmungen gestrichen werden,

(3) die Dosen für die Allgemeinheit auf die zulässigen Dosen für strahlenexponierte Beschäftigte heraufgesetzt werden, sowie

(4) besondere Dosisgrenzen für Schwangere, Embryonen, Föten und Kinder unter 18 Jahren abgeschafft werden.

Wie Dr. Marcus begründet auch der Medizinphysiker Mark L. Miller seine in dieselbe Richtung zielende Petition damit, der LNT-"Hypothese" fehle seit jeher eine wissenschaftlich valide Basis. Darüber hinaus verursache die Befolgung von Strahlenschutzregeln nach dem LNT-Modell enorme Kosten. Beide Petenten sind der Auffassung, es habe keinen Sinn, Strahlendosen (weiter) zu reduzieren, da Strahlung in niedrigen Dosen nicht nur harmlos, sondern möglicherweise hormetisch [von positiver Wirkung] sei.

Miller ergänzt, daß niedrige Grenzwerte für die Allgemeinbevölkerung zur "Radiophobie" beitrügen und sie verfestigten.

Dr. Mohan Doss, stellvertretend für "Scientists for Accurate Radiation Information", bekundet seine Unterstützung für Dr. Marcus' Position und ergänzt, daß die Zugrundelegung des LNT-Modells die Forschung zur Nützlichkeit kleiner Strahlendosen bei Alterserkrankungen wie Krebs, Alzheimer, Parkinson und anderen bisher behindert habe. Die vorgeschlagenen Änderungen seien dringlich, denn "jeder zukünftig mögliche Unfall in den Vereinigten Staaten, bei dem radioaktive Substanzen freigesetzt werden, würde wahrscheinlich wegen der durch das LNT-Modell geschürten Krebsangst zu panikartigen Evakuierungen führen, die, wie in Fukushima geschehen, Todesfälle und wirtschaftliche Schäden mit sich bringen". Wie Doss weiter ausführt, würde "die Anerkennung einer [unschädlichen] Schwellendosis durch die NRC solche panikartigen Evakuierungen mitsamt den Todesfällen und Wirtschaftsschäden unnötig machen."

Der britische Strahlenbiologe Dr. Ian Fairlie ist der öffentlichen Einladung nachgekommen, die Petitionen zu kommentieren. [2] Fairlie argumentiert, es gebe zwar einige Studien, die anhand von Zell- und Tierversuchen zeigten, daß die Schäden durch größere Strahlendosen geringer ausfallen, wenn dem Versuchsobjekt vorher kleinste Strahlendosen zugefügt wurden, als wenn dies nicht geschah. Andere Studien, die u. a. mit anderen Dosen oder Zeiträumen arbeiteten, hätten diese Wirkung aber nicht zeigen können. Hormetische Wirkungen seien zwar theoretisch und in Analogie zu einigen chemischen und pharmakologischen Substanzen nicht ganz auszuschließen, so Fairlie, hätten aber für den Strahlenschutz keinerlei Relevanz. Zudem fehlten epidemiologische Belege für Menschen.

Im Gegensatz dazu seien die Belege für die Gültigkeit des LNT-Modells zahlreich und überzeugend, und zwar auch für sehr niedrige Dosen bis herunter auf das Niveau der sogenannten Hintergrundstrahlung, die Fairlie mit etwa 3 Millisievert pro Jahr (mSv/a, davon 1 mSv externe Gammastrahlung) angibt.

Fairlie umreißt die Studie von Leuraud et al. (2015) [3] an dosimetrisch überwachten beruflich strahlenexponierten Arbeitern; die Studie zeigt ihr Risiko, an Leukämie oder Lymphomen zu sterben, in linearer Abhängigkeit von der Strahlendosis bis herunter zu einer durchschnittlichen Belastung von 1,1 Milligray (mGy) pro Jahr. Die Arbeit wurde unter anderem von mehreren US-Bundesbehörden finanziert, auch unter den Autoren sind Mitarbeiter von amerikanischen medizinischen Forschungseinrichtungen.

Als weiteres Beispiel führt Fairlie die Studie von Zablotska et al. (2012) [4] zu 110.000 Aufräumarbeitern der Katastrophe von Tschernobyl an. Auch diese Studie zeigt den linearen Anstieg des Risikos - auch unter 100 Millisievert, wie Fairlie betont.

Des weiteren zeigt eine Fall-Kontrollstudie zur Frage, ob Leukämie bei Kindern in Großbritanien mit der Hintergrundstrahlung zusammenhängt, sogar eine leichte Supralinearität - d.h., der Effekt ist stärker als nach dem LNT-Modell zu erwarten gewesen wäre. Die von Fairlie reproduzierte Graphik zeigt den Anstieg des Risikos für den Bereich zwischen etwa 1 und 15 Milligray kumulierte Knochenmarksdosis aus Gamma-Umgebungsstrahlung (Kendall et. al 2012) [5].

Auch die Auswertungen der Register von beruflich Strahlenexponierten aus Großbritannien (11.000 Krebserkrankungen, 8.000 Krebstodesfälle unter 175.000 'radiation workers' mit einer durchschnittlichen kumulierten Dosis von 25 mSv über einen Beobachtungszeitraum von durchschnittlich 22 Jahren) und den USA (BEIR VII) zeigen lineare Dosis-Wirkungsbeziehungen, wie Fairlie darlegt.

Die Behauptung, unter 100 mSv seien keine gesundheitlichen Auswirkungen erkennbar, wird von Befürwortern der Hormesis wie den Petenten bei der NRC gerne vorgebracht, ist aber falsch. Fairlie verweist auf seine eigene Zusammenstellung [6] von Studien, die das Gegenteil beweisen.

Das LNT-Modell hat auch radiobiologische Plausibilität für sich, wie Fairlie in Anlehnung an Brenner et al. (2003) [7] darlegt. In dieser Arbeit geht es allerdings um durch Röntgenstrahlung zugefügte Organdosen. Eine Organdosis von 10 mGy durch diagnostisches Röntgen ist mit einer Erhöhung des Krebsrisikos verbunden, wie epidemiologisch erwiesen. Bei einer solchen Bestrahlung werden die bestrahlten Zellkerne von einer oder höchstens einigen wenigen, physisch voneinander entfernten Elektronenspuren durchquert. Wegen dieser physischen Entfernung erscheint es unwahrscheinlich, daß die wenigen Elektronenspuren DNA-Schäden gemeinsam oder zusammenwirkend hervorrufen. Sie werden je einzeln wirken und auf diese Weise stochastischen Schaden und in der Folge Zellveränderungen erzeugen.

Setzt man nun die Dosis um beispielsweise den Faktor 10 herunter, bedeutet das proportional weniger Elektronenspuren und weniger getroffene Zellen. Diese wenigeren Zellen sind aber denselben Schäden durch Elektronen ausgesetzt und durchlaufen dieselben radiobiologischen Prozesse wie bei 10 mGy. Die Anzahl beschädigter Zellen um den Faktor 10 zu vermindern, würde auch die biologische Reaktion um den Faktor 10 vermindern, die Reaktion somit linear mit der Dosis abnehmen. Man würde kaum annehmen, daß bei 1 mGy qualitativ andere biologische Prozesse wirksam sind als bei 10 mGy und umgekehrt.

In der Realität, so Fairlie weiter, basieren die meisten Begriffe, die im Strahlenschutz verwendet werden, auf der LNT-Theorie. Das gilt zum Beispiel für den Begriff der absorbierten Dosis, der Effektivdosis, die Dosiskoeffizienten (Sievert/Becquerel eines Radionuklids), die Bildung von Durchschnittsdosen für ein Organ oder Gewebe, die Addition von Dosen verschiedener Organe sowie die Addition über einen Zeitraum.

LNT erlaubt auch die Festsetzung von Jahresdosen und deren Überprüfung und Optimierung, Risikoabschätzung, individuelle Dosimetrie, Kollektivdosen und Strahlenregister über lange Zeiträume. Ohne LNT gäbe es die gegenwärtig vorhandenen Strahlenschutzsysteme vermutlich nicht, meint Fairlie. Das solle aber nicht heißen, daß LNT verwendet werde, weil es praktisch sei. LNT sei in Gebrauch, weil die wissenschaftliche Evidenz dafür umfassend, zusammenhängend und zwingend sei.

In der Auseinandersetzung mit Anhängern der Hormesis-Theorie spielt der Begriff der "statistischen Signifikanz" eine Rolle. Fairlie zufolge würden Studien oft abgetan, weil sie "kein signifikant erhöhtes Risiko" bei kleinen Dosen zeigten, oder überzufällige Risiken "nicht signifikant" bei niedrigen Dosen seien und ähnliche Wendungen mehr. Das Wort sei irreführend, denn es könne so aufgefaßt werden, als wäre beispielsweise eine Zunahme von Erkrankungen "unbedeutend" oder die Erkenntnisse einer Untersuchung "irrelevant".

Als Fachbegriff der Statistik wird das Wort 'signifikant' gebraucht, um anzugeben, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine beobachtete Erscheinung zufällig sein kann. In epidemiologischen Studien ist eine Wahrscheinlichkeit von 5 Prozent der konventionelle Standard für Signifikanz (p = 5% = 0,05) verabredet worden. Setzt man die Grenze auf 10 Prozent herauf, werden vorher "nicht signifikante" Ergebnisse unter Umständen "signifikant". Umgekehrt kann aus nicht-signifikanten Ergebnissen fälschlich gefolgert werden, den untersuchten Zusammenhang gebe es überhaupt nicht (Null-Hypothese). Befunde aus Gründen der Statistik zu verwerfen, kann also dazu führen, reale Risiken nicht wahrzunehmen.

Zusammenfassend fordert Fairlie die amerikanische Regulierungsbehörde auf, die Petitionen nicht zu beachten und erst recht nicht als Begründung für die Aufweichung von Strahlenschutznormen zu verwenden. Die Petitionen basierten auf vorgefaßten Urteilen, ja sogar auf Ideologie, statt auf wissenschaftlicher Evidenz - diese weise in die entgegengesetzte Richtung.


Quellen

1. https://www.federalregister.gov/articles/2015/06/23/2015-15441/linear-no-threshold-model-and-standards-for-protection-against-radiation
Die Zitate folgen der Zusammenfassung der Petitionen durch die NRC und sind dort auch als Zitate gekennzeichnet. Einfügung in eckigen Klammern von uns.

2. http://www.ianfairlie.org/news/us-nrc-consultation-lnt-vs-hormesis/
http://www.ianfairlie.org/wp-content/uploads/2015/08/US-NRC-Consultation-4-1.pdf

3. http://www.thelancet.com/journals/lanhae/article/PIIS2352-3026%2815%2900094-0/fulltext
Leuraud, Klervi et al. (2015) Ionising radiation and risk of death from leukaemia and lymphoma in radiation-monitored workers (INWORKS): an international cohort study. The Lancet Haematology. Online-Veröffentlichung 21.6.2015

4. Zablotska et al. (2012): Radiation and the Risk of Chronic Lymphocytic and Other Leukemias among Chornobyl Clean-up Workers. Environmental Health Perspectives.
http://dx.doi.org/10.1289/ehp.1204996

5. Kendall, G.M. et al. (2012): A record-based case-control study of natural background radiation and the incidence of childhood leukemia and other cancers in Great Britain during 1980-2006. Leukemia (5 june 2012) doi: 10.1038/leu.2012.151

6. http://www.ianfairlie.org/news/a-100-msv-threshold-forradiation-effects/
Inge Schmitz-Feuerhake: Der lange Abschied von der unschädlichen Dosisschwelle. Anerkannte Strahleneffekte im Niederdosisbereich und ausstehende Korrekturen, Strahlentelex 602-603 v. 2.2.2012, S. 4-10,
http://www.strahlentelex.de/Stx_12_602_S04-10.pdf (dt.)
http://www.strahlentelex.de/The_100_Millisievert_Threshold_Lie_Statement_German_GSS.pdf (engl.)
http://www.strahlentelex.de/100mSv-ThresholdLie.pdf (jap.)

7. Brenner, David J et al: Cancer risks attributable to low doses of ionizing radiation: Assessing what we really know. PNAS, vol. 100, no. 24, pp 13761-66.
www.pnas.orgjcgijdoij10.1073jpnas.2235592100


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
http://www.strahlentelex.de/Stx_16_704-705_S07-09.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, Mai 2016, Seite 7 - 9
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
E-Mail: Strahlentelex@t-online.de
Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juli 2016

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