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UMWELT/241: Innenraum-Luft - Ein vernachlässigtes Thema (umg)


umwelt · medizin · gesellschaft - 2/2014
Humanökologie - soziale Verantwortung - globales Überleben

Innenraum-Luft: Ein vernachlässigtes Thema

Von Hanns Moshammer


Die Innenraumluft wird sowohl durch Schadstoffe aus dem Außenraum als auch durch Quellen im Gebäude beeinträchtigt. Die Vielfalt der Quellen und die Unterschiede zwischen verschiedenen Gebäuden und Räumen erschweren eine umfassende Erfassung und Beurteilung der Raumluftqualität. Mögliche Schadstoffquellen werden dargestellt und einige einfache Tipps vermittelt, wie man selber die Wohnqualität günstig beeinflussen kann: Verbot von Tabakrauch, Vermeiden von unnötigem Chemikalieneinsatz, Sicherstellung eines ausreichenden Luftwechsels und Hausverstand beim Kauf von Möbeln und Pflegemitteln.

Einleitung

Die Prozentsätze schwanken in Abhängigkeit von der Jahreszeit und den klimatischen Bedingungen. Aber generell lässt sich sagen, dass die Europäer einen Großteil ihrer Zeit in Innenräumen zubringen. Wenn man die Wohnung, den Arbeitsplatz und auch die Fahrzeuginnenräume auf den Wegen dazwischen berücksichtigt, dann verbringen Mitteleuropäer im Durchschnitt etwa 90% ihres Lebens in Innenräumen. Doch nicht genug damit: Gerade Personen mit erhöhter Empfindlichkeit, also etwa Kleinkinder, alte oder kranke Menschen, verbringen sehr viel Zeit in einem einzelnen konkreten Innenraum. Selbst wenn die Innenraumluft "im Durchschnitt" kein Problem darstellte, ist nicht auszuschließen, dass für diese besonders schutzbedürftigen Menschen ihre konkrete Innenraumluft sehr wohl schädlich ist.

Demgegenüber steht die Tatsache, dass in den europäischen Staaten zwar die Qualität der Außenluft sehr ausführlich mit Grenzwerten geregelt und mit Messnetzen überwacht wird; für die Innenraumluft gibt es aber weder vergleichbar verbindliche Regelungen noch eine umfassende Überwachung. Dies hat wohl zwei wichtige Gründe. Zum Ersten wird die Luftqualität in "Privaträumen" eben als "Privatsache" gesehen: während der Eine eine bestimmte Substanz absichtlich etwa als "persönliche Duftnote" in seine Wohnung einbringt, kann sie für den Anderen als unerträglicher Gestank imponieren. Der Bastler mag mit gutem Grund in seinem Hobby-Raum mit Farbstoffen, Klebern und anderen Chemikalien hantieren, während der Asthmatiker von diesen Stoffen bereits Probleme bekommt.

Zum Zweiten ist es nicht einfach, die Qualität der Raumluft auch nur stichprobenartig zu überprüfen. Für die Außenluft mag es ausreichen, an einigen wenigen Messpunkten eine geringe Anzahl von Indikatorsubstanzen zu messen, um zumindest einige Anhaltspunkte zur Luftqualität in einer ganzen Region oder einer Stadt abzuleiten. Die Innenraumluft unterscheidet sich tatsächlich von Wohnung zu Wohnung, von Raum zu Raum und von Stunde zu Stunde. Je nach dominierender Schadstoffquelle sind es ganz andere Stoffe oder Stoffgruppen, die sich qualitätsmindernd auf die Luftqualität auswirken. Daher sollen zunächst einige wichtige Quellen von Schadstoffen im Innenraum besprochen werden.

Schadstoffquellen

Selbstverständlich ist die Außenluft eine wichtige Quelle von Schadstoffen im Innenraum. Wäre das anders, machte es wenig Sinn, angesichts des hohen Prozentsatzes, den sich Personen im Innenraum aufhalten, die Außenluft so ausführlich zu reglementieren. Die meisten Schadstoffe dringen auch bei geschlossenen Fenstern weitgehend ungehindert in die Wohnungen ein. Allerdings sind besonders reaktive Schadstoffe, wie beispielsweise Ozon, so kurzlebig bzw. adsorbieren sie an oder reagieren mit Oberflächen, dass ihre Konzentration im Innenraum in der Regel deutlich niedriger ist als außen. Bei Ozonwarnung macht es daher Sinn, am frühen Nachmittag nach Möglichkeit sportliche Aktivitäten im Freien zu vermeiden. Gegen andere bedeutsame Schadstoffe wie insbesondere den Feinstaub nutzt diese Strategie leider nichts. Wenn nicht im Innenraum sogar zusätzliche Feinstaubquellen zur Gesamtbelastung beitragen, dann unterscheidet sich die Konzentration praktisch nicht von der Außenluft.

Die Außenluft kann der Bewohner in der Regel nicht wirksam beeinflussen. Allenfalls ließe sich bei mechanisch belüfteten Räumen eine besonders effiziente Filterung in den Zuluftkanal einbauen. Dies ist insbesondere dann sinnvoll, wenn das Gebäude nahe an einer besonderen Schadstoffquelle steht, zum Beispiel einer stark befahrenen Straße. In unmittelbarer Nähe einer Quelle weist die Schadstoffkonzentration oft auch sehr steile Gradienten auf, so dass der Ort, von wo die Luft für die Wohnraumlüftung angesaugt wird, sehr umsichtig geplant werden sollte. Ideal wäre die der Schadstoffquelle abgewandte Seite des Gebäudes. Aber allein schon eine Ansaugung über Dach vermindert die Belastung.

Viel bedeutender für die Innenraumluft sind aber in den meisten Fällen spezielle "Innenraumquellen". Dabei kann man die Bewohner und ihr Verhalten von Baumaterialien im weiteren Sinne unterscheiden.

Bewohner und ihr Verhalten

Jeder Mensch und jedes (Haus-)Tier gibt Stoffe in die Umgebung ab: Wir atmen Kohlendioxid und Wasserdampf aus. Wir sondern Schweiß ab, der auch diverse organische Verbindungen enthält, die teilweise von den Bakterien unserer Haut zu geruchsintensiven Stoffen umgewandelt werden. Wir geben ständig Hautschuppen in unsere Umgebung ab, die - als kleine Fett-Teilchen - mit diversen in der Luft vorhandenen Chemikalien reagieren können, beispielsweise mit Ozon unter Bildung von sehr aggressiven Sauerstoffradikalen. Darüber hinaus sind wir ständig von einer sehr differenzierten mikrobiellen Flora umgeben: Bakterien besiedeln unsere Haut und alle unsere Schleimhäute. Unsere eigene Flora ist immer mit der Umwelt im Austausch, wir wandern praktisch in unserer eigenen "Bakterienwolke". In Maßen ist diese eigene Bakterienflora nicht schlecht. Es handelt sich um Keime, die optimal an die Oberflächen des menschlichen Körpers angepasst sind. In der Evolution über Jahrtausende haben sie gelernt, dass es dem Wirtskörper schadet und daher langfristig auch für sie schädlich ist, wenn sie tiefer in den Körper eindringen. So trainieren sie zwar ständig unser Immunsystem, führen aber nicht zu Infektionen, sondern verhindern sogar, dass fremde, eventuell infektiöse Keime unsere Schleimhäute besiedeln können.

Wenn Schweiß, Hautschuppen, Geruchsstoffe und Bakterien jedoch überhand nehmen, dann verschlechtert sich die Luftqualität merklich. Jeder, der frisch in einen überfüllten und schlecht belüfteten Raum eintritt, hat schon bemerkt, wie abgestanden und unangenehm die Luft wirkt. Die Leute, die sich schon länger im Raum aufgehalten haben, nehmen das nicht so deutlich wahr. Aber Studien, die zum Beispiel im Experiment (WARGOCKI et al. 2000) oder in tatsächlichen Schulsituationen (HAVERINEN-SHAUGHNESSY et al. 2011, SHAUGHNESSY et al. 2006) die Leistungsfähigkeit von Personen gemessen haben, konnten wiederholt zeigen, dass mit sinkender Luftqualität auch die Arbeitsgeschwindigkeit abnimmt, während die Fehlerhäufigkeit steigt.

Wir wissen nicht, welche Stoffe im Einzelnen es sind, die von Menschen abgegeben werden und die für die schlechteren Leistungen verantwortlich sind. Als Maß für die Luftqualität bzw. für den "Luftverbrauch" durch die Menschen hat sich allerdings Kohlenstoffdioxid (CO2) als sehr nützlich erwiesen. Schon seit den bahnbrechenden Untersuchungen des Münchner Hygienikers Max von Pettenkofer im 19. Jahrhundert ist bekannt, dass eine CO2-Konzentration deutlich über 0,1 Volumen-Prozent eine zu geringe Luftwechselrate bzw. eine schlechte Raumluftqualität anzeigt.

Menschen sind aber nicht nur per se Quellen von (Schad-)Stoffen. Durch ihr Verhalten tragen sie weitere Stoffe in den Raum ein. Der wichtigste und gleichzeitig schlimmste Schadstoff im Innenraum ist der Zigarettenrauch. Ein einzelner Raucher in einem Raum erzeugt Feinstaubkonzentrationen, wie sie sonst nicht einmal in Peking oder Delhi zu finden sind. Die Studien, die die Gesundheitsschäden belegen, die allein vom Zusammenleben oder Arbeiten mit einem Raucher stammen, sind unüberschaubar (CDC 2006). Nur Rauchen selbst ist noch gefährlicher als passives Rauchen.

Aber auch im "Guten Glauben" bringen Menschen Stoffe in ihre Wohnung, die nicht gesund sind. Der deutsche Umweltsurvey hat gezeigt, dass gerade in ärmeren Familien die Verwendung von chemischen "Luftreinigern" und Duftstoffen sehr weit verbreitet ist (SEIWERT et al. 2008). Auch sogenannte Desinfektionsmittel werden sehr gerne eingesetzt. Es ist erschreckend, wie viel Unsinn die Industrie auf den Markt bringt, und noch erschreckender, wie viele Menschen diesen Mist auch kaufen. Chemische Luftreiniger funktionieren in der Regel nach dem Prinzip der Oxidation: Wenn Geruchsstoffe oxidiert werden, verlieren sie häufig ihre Geruchseigenschaften. Deshalb sind sie aber nicht aus der Raumluft entfernt, oftmals sogar giftiger als die Ausgangssubstanz. Billige Duftstoffe werden eingesetzt, um störende Gerüche zu übertönen. Die Giftstoffe, vor denen ihr Geruch warnen sollte, werden zwar nicht mehr so intensiv wahrgenommen, sind aber weiterhin vorhanden. Und viele billige Duftstoffe haben zusätzlich allergene Eigenschaften.

Desinfektionsmittel sind sehr reaktive Chemikalien, deren Hauptwirkung in der Regel darin besteht, dass sie die Zellmembranen von Mikroorganismen zerstören bzw. beschädigen. Leider sind unsere eigenen Zellmembranen bzw. die Schutzbarriere unserer Haut sehr ähnlich aufgebaut wie die Membranen von Bakterien. Was den Bakterien schadet, ist daher auch für den Menschen nie ganz ungefährlich. Damit Desinfektionsmittel wirken, müssen sie in ausreichender Konzentration ausreichend lange einwirken. Das ist bei den gängigen "Desinfektionsmitteln" für den Haushalt leider häufig nicht gewährleistet. Folglich werden die Bakterien, die man bekämpfen will, nicht abgetötet, aber es besteht die Gefahr, dass sie Schutzvorkehrungen ausbilden, die sie in Zukunft auch z.B. gegen Antibiotika resistenter machen.

Zu guter Letzt sind die meisten Bakterien nicht "böse", sondern teilweise sogar nützlich und schützen uns vor Infektionen. Die Zerstörung der bakteriellen Hautflora und der eigenen Barriereschicht der Haut begünstigt daher Infektionen, Entzündungen und Allergien. Mehrere ausführliche Studien haben gezeigt, dass Kinder von Haushalten, die mehr solche Haushaltschemikalien (Desinfektionsmittel, Geruchsstoffe) einsetzten, häufiger an allergischen Erkrankungen leiden. Man könnte meinen, dass Familien mit kranken Kindern sich intensiver mit Reinigungsarbeiten beschäftigen und dass daher nicht die Chemikalien für die Allergien wie Asthma oder Ekzemen verantwortlich sind, sondern die Allergien für den Chemikalieneinsatz. Aber wenigstens einige Längsschnittuntersuchungen fanden, dass der höhere Chemikalieneinsatz der Erkrankung vorausgeht (CHOI et al. 2010, EVANS et al. 2008, KIMBER & PETERS 2013).

Auf den ersten Blick wird niemand "Wasser" als Schadstoff betrachten. Aber "zu viel" ist bei Wasser wie bei jedem anderen Stoff ungünstig. Wir atmen ständig Wasserdampf aus. Beim Duschen, Kochen und Wäschetrocknen entsteht Wasserdampf. Wenn sich warme Luft an kalten Oberflächen niederschlägt, bildet sich Kondensationsfeuchte. Hoher Wasserdampfgehalt und schlechte Gebäudeisolierung/Kältebrücken begünstigen somit die Entstehung von feuchten Flecken und sichtbare Schimmelbildung. Rohrbrüche, undichte Dächer und andere Baumängel tun ihr übriges. Schimmelpilze kommen immer in der Umwelt vor und sind nützlich, indem sie totes organisches Material abbauen und wiederverwerten. Sie sind aber auch die Erfinder der chemischen Kriegsführung. Ursprünglich zum Einsatz gegen konkurrierende Mikroorganismen gedacht (Antibotika!) sind viele Gifte der Schimmelpilze auch für den Menschen gefährlich und Allergiker reagieren empfindlich auf Bestandteile der Pilze. Eine häufige Reaktion verzweifelter Bewohner oder desinteressierter Vermieter ist der ungezielte Einsatz von Desinfektionsmitteln. Obwohl dieser Einsatz das sichtbare Schimmelwachstum vorübergehend stoppen kann, bleiben die Giftstoffe und allergenen Strukturen weiter bestehen und mit dem Desinfektionsmittel wird oft ein weiterer Giftstoff in die Wohnung gebracht. Wenn die eigentliche Ursache der Schimmelbildung nicht beseitigt wurde, kommt es sehr bald neuerlich zum Schimmelwachstum, wobei dann oft aggressivere Arten überwiegen, die gegen die Desinfektionsmittel resistent sind (Selektionswirkung).

Baumaterialien im weiteren Sinne

Nicht nur der Bewohner bringt durch Rauchen, Heizen, Reinigen und Kochen (um einige wichtige Beispiele zu nennen) Schadstoffe in die Innenraumluft. Selbst in der leeren Wohnung findet man zahlreiche Stoffe in deutlich höherer Konzentration als in der Außenluft. Sie stammen aus Baumaterialien und ihren Oberflächen sowie aus Einrichtungsgegenständen. Es kann sich dabei um "natürliche" Stoffe handeln. Das sagt nichts über ihre Gefährlichkeit aus. Radon, das aus uranhaltigem Untergrund vor allem in Kellergeschosse eindringt, ist ein gefährliches radioaktives Gas, das wahrscheinlich nach dem Rauchen (allerdings weit abgeschlagen) der größte Risikofaktor für Lungenkrebs ist, sicher noch vor Asbest und vielleicht auch noch vor dem Passivrauchen. Selbst naturbelassenes Holz kann Formaldehyd abgeben, allerdings in weit geringeren Mangen als billige Holzverbundstoffe, die ein formaldehydhaltiges Bindemittel enthalten. Formaldehyd wirkt stark reizend auf die Schleimhäute und verursacht Krebs der oberen Atemwege und Leukämien (IARC 2006). Holzharze enthalten zahlreiche natürliche Duft- und Aromastoffe, die Terpene. In zu großer Konzentration riechen sie nicht nur unangenehm intensiv, sie wirken auch irritierend auf die Schleimhäute und können zu Allergien führen (TREUDLER et al. 2000).

Viel umfangreicher und teuflischer ist allerdings das Arsenal an Stoffen, die sich der Mensch selbst ausgedacht hat. Teilweise werden Chemikalien, die in Baumaterialien eingesetzt werden, ja gerade so entworfen, dass sie recht stabil und haltbar sind. Dies bedeutet aber auch, dass sie in der Umwelt und im menschlichen Organismus oft nicht oder nur schlecht abgebaut werden können. Sie wirken daher als Fremdstoff, mit dem unser Organismus nichts anfangen kann und der seine Entgiftungskapazität überfordert. Ich denke da vor allem an chlororganische Verbindungen, die in den verschiedensten Anwendungen in Baumaterialien eingesetzt wurden und für die sich erst später herausstellte, dass sie ziemlich giftig sind, wie etwa die "polychlorierten Biphenyle" (PCB), mit denen wir noch über Generationen leben und leiden müssen (LEIJS et al. 2014). In diese Kategorie fallen aber auch Weichmacher wie die hormonell aktiven Phthalate im PVC und viele andere synthetische Stoffe.

Eine eigene Gruppe sind die Lösungsmittel. Wie der Name schon sagt, sollen sie die Lösung von an sich in Wasser unlöslichen Stoffen bewirken. Das älteste bekannte Lösungsmittel ist Alkohol: genügend polar, um im Wasser gelöst zu werden, ist das Alkoholmolekül auf einer Seite doch ausreichend a-polar, um auch fettähnliche Verbindungen nicht abzustoßen, so dass diese in Lösung gehen können. Lange schon war Alkohol daher auch als Reinigungsmittel (Fleckspiritus) im Einsatz. Eine andere bekannte Eigenschaft des Alkohols hat auch mit seiner Eigenschaft als Lösungsmittel zu tun: er macht betrunken. Lösungsmittel dringen auch in die Fettscheiden der Nervenfasern ein und stören damit die Reizleitung. Das führt zur erwünschten wie unerwünschten Rauschwirkung des Alkohols, und dieses Prinzip teilt er mit allen Lösungsmitteln.

Vielfach hat es sich technisch als günstig erwiesen, besonders flüchtige Lösungsmittel für Kleber, Lacke und Farben zu verwenden: sobald das Gemisch aus Lösungsmittel und Wirkstoff auf eine Fläche aufgebracht wird, verdunstet das Lösungsmittel und der Kleber oder der Farbfilm härten aus. Diese flüchtigen Lösungsmittel (flüchtige organische Verbindungen - volatile organic compounds - VOC) können daher insbesondere kurz nach Bau- und Sanierungsarbeiten in der Innenraumluft recht hohe Konzentrationen erreichen. Gesetzliche Regelungen haben in den letzten Jahrzehnten den Gehalt an VOC in diversen Bauprodukten begrenzt. Die Industrie ist daher dazu übergegangen, die flüchtigen Lösungsmittel durch weniger flüchtige zu ersetzen. Das führt zwar dazu, dass die Spitzenbelastungen bei bzw. nach ihrer Anwendung in der Regel geringer sind als bei flüchtigeren Verbindungen, leider benötigen sie aber länger zum Ausgasen, so dass die Belastung länger anhält. Die gesundheitlichen Wirkungen dieser neueren Produkte sind auch noch weniger erforscht als die der "klassischen" VOC.

Gesundheitswirkungen

Ich habe mich bemüht, im Kapitel über die Schadstoffquellen bereits die bedeutendsten Gesundheitswirkungen anzusprechen. Relativ gut erforscht sind Wohlbefinden und psychische Leistungsfähigkeit im Zusammenhang mit dem Frischluftgehalt, wobei bisher noch nicht vollständig bekannt ist, welche Stoffe im Einzelnen für die Beeinträchtigungen verantwortlich sind. Sehr gut belegt sind auch die Schäden vor allem an den kindlichen Atemwegen durch (langjährige) Schimmelbelastung (WHO 2009). Auch hier weiß man nicht, welche Pilzarten oder welche Stoffe besonders gefährlich sind, obzwar toxinbildende Arten wahrscheinlich besonders gefährlich sind. Hinsichtlich Allergien ist auch bedeutsam, wie groß die Sporen der Pilze sind, da größere Sporen kaum in die tieferen Atemwege gelangen können.

Desinfektionsmittel sind Gifte, die absichtlich und gezielt auf Oberflächen aufgebracht werden, zum Beispiel in medizinischen Einrichtungen. Ihre Anwendung ist in mehrfacher Hinsicht gefährlich: eine Unterdosierung kann zur Ausbildung von aggressiven und resistenten Bakterienarten beitragen. Eine falsche Anwendung kann eher nützliche als schädliche Keime reduzieren. Jede Anwendung und insbesondere eine Überdosierung ist auch für den Menschen gefährlich und kann zu Haut- und Schleimhautschäden mit der Gefahr von Allergien und Ekzemen führen.

Viele flüchtige organische Verbindungen werden während Bau- und Sanierungsarbeiten eingesetzt, so dass es vorübergehend zu hohen Belastungen kommen kann. Neben Geruchsbelästigungen sind irritative Wirkungen und eine Art "Rauschzustand" im Sinne einer neurotoxischen Wirkung zu beachten. Allergische Reaktionen sind eher bei den neueren, weniger flüchtigen Ersatzprodukten zu befürchten. Jedenfalls ist nach jeder Bau- und Sanierungstätigkeit auf ausreichende Lüftung zu achten.

Bei einzelnen Stoffen hat man in der Zwischenzeit, allerdings oft erst Jahre nachdem sie auf den Markt gekommen sind, erkannt, dass sie spezifische gesundheitliche Schadwirkungen aufweisen. Dabei handelt es sich etwa um spezifische Störungen der Hormonregulation (verschiedene chlororganische Verbindungen, Weichmacher), aber auch um Schäden am genetischen Material, die immer auch eine gewisse Krebsgefahr mit sich bringen.

Regulierung

Nach dem Lesen der letzten Seiten gewinnt man den Eindruck, dass Wohnen die gefährlichste Tätigkeit ist, die man sich denken kann. Das ist zum Glück nicht der Fall. Es ist jedoch grundsätzlich schwer jedes Risiko von vornherein auszuschließen. Das hat mehrere Gründe. Der wichtigste Grund ist wahrscheinlich der, dass unser toxikologisches Wissen erbärmlich begrenzt ist. Wir verwenden zwar einen Satz von Untersuchungsmethoden, um die Wirkung einzelner Stoffe in Abhängigkeit von Dosis und Einwirkungszeit zu untersuchen. Allein schon bei der Kombination von einigen wenigen Stoffen scheitert dieses Vorgehen aber oft spektakulär. Unser Wissen beruht immer noch zu sehr auf dem gut standardisierten Inzuchtstamm der Laborratte oder bestenfalls auf Experimenten an gesunden Freiwilligen, oft jungen männlichen Probanden, z.B. Studenten. Immer mehr lernen wir, dass es empfindliche Phasen in der Entwicklung eines Menschen gibt, die wir auf diese Art übersehen. Wir lernen, dass manche Schadwirkungen durch epigenetische Mechanismen gleichsam "vererbt" werden, obwohl sie primär durch Umwelteinwirkungen erworben wurden. Wir sind zunehmend konfrontiert mit Personen, die sich selbst als besonders empfindlich gegenüber einer Unzahl von chemischen Einwirkungen empfinden. Oftmals klagen sie bereits über Beschwerden, wenn die strengsten Grenzwerte für alle erdenklichen Substanzen weit unterschritten sind. Wie können wir angesichts unserer zahlreichen Wissenslücken und der nicht unerheblichen Zahl besonders empfindlicher Personen zu einer sinnvollen Regulierung der Innenraumluft gelangen?

Eine alle Interessen vollständig befriedigende Regulierung wird es nie geben, wie auch die Regulierung der Außenluft weder einen hundertprozentigen Gesundheitsschutz noch einen unbegrenzten Freibrief für jede wirtschaftliche Aktivität bedeutet. Wie die Außenluft wird sich auch die Innenraumluft nur mittels einer überschaubaren Anzahl von Indikatorsubstanzen regeln lassen. CO2 als ein klassischer Indikator der Raumluftqualität wurde genannt. Gesamt-VOC, Indikatoren der Geruchsqualität und eventuell mikrobiologische Marker sind als Qualitätsindikatoren sicher auch nützlich, sobald ihre messtechnische Bestimmung ausreichend standardisiert wurde.

Einzelfälle, wo ein bisher nicht als Gesundheitsgefahr erkannter Stoff doch im Innenraum Probleme bereitet, werden sich nie mit Sicherheit ausschließen lassen. Mit Hausverstand lassen sich aber viele Gefahren vermeiden: Lassen Sie sich nicht von der Industrie jeden Unsinn aufschwatzen. Wasser und Seife sind seit alters her ungefährliche und wirksame Reinigungsmittel. Verwenden Sie Ihre Nase beim Einkauf von Möbeln und anderen Einrichtungsgegenständen. Achten Sie auf ausreichende und regelmäßige Lüftung. Vor allem aber: Achten Sie auf Signale Ihres eigenen Körpers!


(Der Beitrag erschien in: BREYER, H. (Hrsg.) (2014): Giftfreies Europa, Die Grünen/ Europäische Freie Allianz, Brüssel, Bezug:
http://hiltrudbreyer.eu/de/ct/548-Buch%3A-Giftfreies-Europa; der Beitrag wurde redaktionell überarbeitet, der Nachdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Autor und Herausgeberin)



Kontakt:
Doz. Dr. med. Hanns Moshammer

Ärztinnen und Ärzte für eine gesunde Umwelt - AEGU
Große Mohrengasse 39/6, 1020 Wien, ÖSTERREICH
info[at]aegu.net
www.aegu.net


Nachweise

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Quelle:
umwelt · medizin · gesellschaft, 27. Jahrgang, Nr. 2/2014, S. 87-91
Verlag: UMG Verlagsgesellschaft mbH
Frielinger Str. 31, 28215 Bremen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juli 2015

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