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NOTFALL/235: Forschung - Das Trauma nach dem Unfall (DFG)


forschung 1/2010 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Das Trauma nach dem Unfall

Von Markus Huber-Lang und Florian Gebhard


Schwere Stürze und Zusammenstöße führen nicht nur zu Knochenbrüchen - oftmals sind Ganzkörperentzündungen und ein versagendes Immunsystem noch größere Gefahren. Klinische Forscher suchen nach besseren Diagnose- und Therapiewegen


Verletzungen stellen in allen Lebensabschnitten eine große Gefahr dar; Traumata sind der häufigste Behandlungsgrund überhaupt. Jährlich erleiden in Deutschland mehr als 8 Millionen Menschen, das heißt jeder zehnte Bürger, einen Unfall. Mehr als 1,5 Millionen Schwerverletzte müssen vollstationär behandelt werden. Schwere Traumata stellen bis zum 45. Lebensjahr sogar die häufigste Todesursache dar.

Trotz aller Fortschritte in der chirurgischen und anästhesiologischen Notfallversorgung der Verletzten fürchten die Mediziner nach wie vor die unverhältnismäßige Entzündungsantwort nach Trauma. Sie ist in ihrer Komplexität und mit ihren Komplikationen eine große Herausforderung - für den Kliniker wie für den Forscher.

Die Klinische Forschergruppe (KFO 200) an der Universität Ulm untersucht vor diesem Hintergrund mit klinischen und experimentellen Mitteln die frühe Entzündungsantwort sowie die Veränderungen des Immunsystems nach schwerem Trauma. Neben der chirurgischen und anästhesiologischen "Kontrolle des Gewebeschadens" wird die Immunantwort genau erfasst und eine gezielte "Immunkontrolle" mittels innovativer Therapiekonzepte angestrebt, um die Zell- und Organfunktionen zu verbessern und eine höhere Überlebensrate zu erreichen.


Knochenbrüche, Gelenk-, Weichteil- und Gewebeverletzungen rufen zunächst eine überwiegend lokal ausgerichtete Entzündungsreaktion hervor. Mit dieser will der Körper den entstandenen Schaden eingrenzen und ausheilen. Unmittelbar nach dem Trauma ("first hit") werden, abhängig von der Schwere der Verletzung, körpereigene und körperfremde Strukturen freigesetzt und breiten sich sogenannte "Gefahrenmoleküle" (für den Spezialisten: "danger associated molecular patterns") aus. Diese werden durch das angeborene Immunsystem erkannt ("Gefahrenerkennung") und an das zelluläre Abwehrsystem weiter übermittelt ("Gefahrenübermittlung"). Dabei werden als frühe posttraumatische Entzündungsreaktion ("Gefahrenantwort") verschiedene Eiweißkörperabwehrkaskaden (Komplementsystem, Gerinnungssystem) aktiviert sowie Abwehrzellen stimuliert, die ihrerseits unterschiedliche Signal- und Botenstoffe freisetzen. Diese Entzündungsantwort ist von einer komplexen neuro-endokrinen Stressreaktion begleitet und soll die Gefahr bewältigen ("Gefahrenklärung").

Wenn sich im Laufe dieses Prozesses klinisch mindestens zwei von vier Messwerten (Körpertemperatur, Atemfrequenz, Herzfrequenz und Anzahl weißer Blutkörperchen) deutlich verändern, ist die Entzündungsantwort nicht mehr lokalisiert, sondern wird als generalisierte Gefahren- beziehungsweise Entzündungsantwort im Sinne einer Ganzkörperentzündung ("systemic inflammatory response syndrome", SIRS) eingestuft.

Während die posttraumatische Entzündungsreaktion in der überwiegenden Anzahl der Fälle zur Geweberegeneration bis hin zur Ausheilung führt, entwickelt sich bei 10 - 15 Prozent der Mehrfachverletzten aus dem SIRS ein nahezu unumkehrbares Mehrfachorganversagen mit tödlichem Ausgang. Hierbei können sogenannte "second hits" wie Sauerstoffnot, Operationen oder Infektionen die Entzündungsantwort weiter antreiben und verschlimmern. Werden während dieser Ganzkörperentzündung auch Mikroorganismen (zum Beispiel Bakterien im Blut) nachgewiesen, handelt es sich definitionsgemäß um eine gefürchtete Blutvergiftung (Sepsis). In Abhängigkeit von der Schwere dieser Ganzkörperentzündung ist davon vor allem die Lunge als zentrales Ziel- und Wirkorgan betroffen, was zu einem schwer zu behandelnden Lungenversagen (für den Spezialisten: "adult respiratory dystress syndrom", ARDS) führen kann.


So untersucht ein Projekt der Ulmer Forschergruppe die Funktion der Abwehr- und Fresszellen in der Lunge (Alveolarmakrophagen) hinsichtlich ihrer Entzündungsantwort nach Lungenverletzung, wie sie typischerweise bei verunfallten PKW-Insassen zu beobachten ist. Systemisch betrachtet, scheinen ein durch das Trauma entstandener Kontrollverlust der körpereigenen Regelwerke und ein Ungleichgewicht der entzündungstreibenden und -hemmenden Antworten die Verständigung innerhalb und zwischen den Zellen zu stören. Funktionsstörungen auf Molekül-, Zell-, Gewebe-, Organ- und Mehrorganebene sind die Folge. Es kommt zu einer "Gefahreneskalation" im Körper.

Dem Immunsystem kommt hier eine besondere Rolle zu, wenn eine exzessive Aktivierung nach Trauma und SIRS in eine Immununterdrückung übergeht, welche als "Immunversagen" bezeichnet wird. In Obduktionen unmittelbar nach posttraumatischer Ganzkörperentzündung fand eine US-amerikanische Forschergruppe eine auf den ersten Blick weitgehend unversehrte Organmorphologie, welche bis heute ungeklärt im eklatanten Gegensatz zur klinisch ausgeprägten Organfunktionsstörung vor dem Tode stand. Hypothetisch wurde daher ein durch das Trauma hervorgerufener zellulärer "Winterschlaf" als Schutzmechanismus diskutiert, gewissermaßen als ein energiesparendes "Überlebens"-Programm der Organe.

Ein Teilprojekt der Forschergruppe führt vor diesem Hintergrund medikamentös einen "Winterschlaf" herbei und bestimmt unter standardisierten intensivmedizinischen Bedingungen die Veränderungen der Entzündungsantwort nach experimentellem Trauma. Da dieser winterschlafähnliche Zustand sich bisher als reversibel zeigte und die Herz-Kreislauf-Funktion kaum beeinflusste, ist hier eine zukünftige therapeutische Einflussmöglichkeit zu vermuten.

Interessanterweise fand sich in den erwähnten Obduktionstudien nach posttraumatischer Ganzkörperentzündung ein vermehrter programmierter Zelltod von bestimmten Abwehrzellen im Immunsystem (Lymphozyten), das die bekanntermaßen erhöhte posttraumatische Infektanfälligkeit erklären könnte. Dagegen ist die posttraumatische Überlebenszeit von anderen weißen Blutkörperchen (neutrophile Granulozyten) aus bislang ungeklärten Gründen deutlich erhöht. Neutrophile verbleiben damit deutlich länger im Gewebe und tragen nicht nur zu einer besseren Infektabwehr eingedrungener Mikroorganismen bei, sondern auch zu einem beachtlichen "Kollateralschaden" im Gewebe und in den Organen des Patienten. Hier fahndet eine Arbeitsgruppe nach möglichen Auslösern des veränderten Zelltodprogramms der Abwehrzellen nach Trauma.

Aber nicht nur die Abwehrzellen werden in den Blick genommen, sondern ebenso die für Regeneration, Wiederaufbau und Erhalt von Geweben zuständigen Zellen. Das sind zum einen die Vorläuferzellen im jeweiligen Gewebe, zum anderen die aus dem Knochenmark rekrutierten Stammzellen. Diese können Knochenzellen, Knorpelzellen und Fettzellen entstehen lassen und sich damit zentral an der posttraumatischen Regeneration beteiligen. Neuere Untersuchungen haben ein vermehrtes Auftreten von Stammzellen im Blut nach akutem Trauma gefunden. Die Rolle der Stammzellen im Wechselspiel zwischen posttraumatischer Entzündungsantwort und Regeneration ist noch weitgehend unbekannt.

Bei Gelenkverletzungen führt ein akutes Knorpeltrauma oft zur relativ unbeeinflussbaren Entwicklung eines posttraumatischen Gelenkverschleißes, also zu einer Arthrose. Die Mechanismen der akuten und chronischen Knorpelzerstörung sind vielschichtig. Die Traumaantwort des Knorpels scheint hauptsächlich durch einen Knorpelzelluntergang sowie durch eine lokale Entzündungsantwort bestimmt zu sein.

Im Körper und vor allem im blutigen Gelenkerguss lokal freigesetzte Entzündungsfaktoren führen nachweislich zur verminderten Synthese von Knorpelgerüststoffen, zum verstärkten Zellgerüstabbau und schließlich zum programmierten Knorpelzelltod. Aufgrund der geringen Wachstumsfähigkeit der Knorpelzellen ist eine Eigenreparatur des Knorpels äußerst beschränkt. Die Knorpelzellen scheinen nach neuen Erkenntnissen Angriffsziel und Produktionsstätte einiger Gefahrenmoleküle zu sein, deren Rolle bei der posttraumatischen Arthroseentwicklung derzeit im Rahmen laufender Studien genauer definiert wird. Eine bislang erfolgreiche Blockierung einiger dieser Gefahren- und Entzündungsfaktoren im Reagenzglas könnte möglicherweise eine positive Beeinflussung der Knorpel-Traumaantwort ermöglichen und neue Wege in der bislang kaum zu beeinflussenden posttraumatischen Arthroseentwicklung eröffnen.

Schwere posttraumatische Komplikationen wie Arthrose, SIRS oder Blutvergiftung, können die Lebensqualität des Patienten langfristig gefährden und dauerhaft einschränken. Neben der Akuttherapie Schwerverletzter ist offensichtlich die "Gefahrenkontrolle" beziehungsweise "Immunkontrolle" der Entzündungsantwort wesentlich für einen günstigen Verlauf nach Trauma, insbesondere bei einem posttraumatischen "Immunversagen".


Die bisherigen Studien untersuchen an unterschiedlichen Organen molekulare Ansatzpunkte für das bessere Verständnis der Gefahrenbewältigung unseres Körpers. Ein wichtiges Fazit: Wie eine EKG-Überwachung des Herzens ist eine engmaschige oder sogar "online" durchgeführte molekulare und funktionelle Gefahren- beziehungsweise Immunüberwachung des Verletzten zukünftig für die Anwendung präventiver Maßnahmen unerlässlich. Diese betreffen nicht nur anästhesiologische und chirurgische Interventionen, sondern müssen eine stadiengerechte, zielgerichtete und individualisierte "Immunmodulation" mit einbeziehen, sodass die Früh- als auch die Spätkomplikationen der posttraumatischen Entzündungsantwort und Gefahreneskalation weitestgehend verhindert werden können.


Prof. Dr. med. Markus Huber-Lang ist als Unfallchirurg und Leiter der Klinischen Forschergruppe KFO 200 am Universitätsklinikum Ulm tätig. Prof. Dr. med. Florian Gebhard ist Ärztlicher Direktor der Klinik für Unfallchirurgie, Hand-, Plastische und Wiederherstellungschirurgie der Universitätsklinik Ulm und Sprecher dieser Gruppe.

Adresse:
Klinik für Unfallchirurgie, Hand-, Plastische
und Rekonstruktive Chirurgie,
Zentrum für Chirurgie, Universitätsklinikum Ulm,
Steinhövelstr. 9, 89075 Ulm

Die DFG unterstützt die Studien im Rahmen der Klinischen Forschergruppe (KFO) 200.

www.uniklinik-ulm.de/struktur/kliniken/chirurgie/klinik-fuer-unfall-hand-plastische-und-wiederherstellungschirurgie/home/forschung/klinische-forschergruppe.de


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Quelle:
forschung 1/2010 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, S. 20-23
mit freundlicher Genehmigung der Autorin
Herausgeber: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
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jeweils inklusive Versandkosten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Mai 2010