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BERICHT/002: Deutsche Hörspielpremiere von James Joyces' "Ulysses" (SB)


"Ulysses" auf die Ohren



Punktgenau zum Bloomsday am 16. Juni, jenem Tag, an dem der zwischen 1916 und -22 entstandene, mehr als 1000-seitige Roman von James Joyce "Ulysses" spielt, und der alljährlich von den Fans des irischen Ausnahmeschriftstellers weltweit mit zahlreichen Lesungen und noch mehr Guiness gefeiert wird, präsentierten die Rundfunkanstalten von SWR2 und Deutschlandfunk ein Hörspielereignis der besonderen Art: die in mehr als 17 Monaten entstandene und mit über 40 erstklassigen Sprechern besetzte erste deutschsprachige Hörspielfassung eines "der anstößigsten Bücher des 20. Jahrhunderts, immer wieder verboten, immer wieder denunziert", so der Literaturkritiker Denis Scheck in seiner Anmoderation, das als der Klassiker der modernen Literatur überhaupt in die Literaturgeschichte eingegangen ist, in einer mehr als 22-stündigen Fassung.

Regisseur Klaus Buhlert, Moderator Denis Scheck, Chefdramaturg Manfred Hess - Foto: © 2012 by Schattenblick

v. lks.: Regisseur Klaus Buhlert, Moderator Denis Scheck, Chefdramaturg Manfred Hess
Foto: © 2012 by Schattenblick

Der Inhalt dieses an Handlung armen, an sprachlicher Vielfalt umso reicheren Werkes ist schnell erzählt: Vordergründig ist es die Geschichte von drei Bewohnern Dublins, dem Anzeigenakquisiteur Leopold Bloom, seiner Frau Molly und dem jungen Dichter Stephen Dedalus, ihren Handlungen, Begegnungen und Gedanken während eines Tages, eben jenem 16. Juni des Jahres 1904. "Ulysses", so der renommierte Schweizer Joyce-Kenner Fritz Senn, "ist die Momentaufnahme eines Tages in einer bestimmten Stadt". Sie führt den Leser oder Hörer kreuz und quer durch die Straßen Dublins, durch Kneipen und Geschäfte, ins Krankenhaus und auf den Friedhof, ins College, an den Strand, in die Redaktion einer Tageszeitung oder eine Bibliothek und in ein Bordell... "In gelassener Sicht, ohne offenkundige Wertung, vermengt sich" auf der Folie der homerischen Irrfahrt des Odysseus "bisher wenig Beachtetes, Triviales und Lokales, mit existentiellen Problemen von Welt, Zeit, Religion, Anschein, Wirklichkeit und Illusionen. Gedanken an Tod und Unsterblichkeit gesellen sich zur Unbequemlichkeit, auf einer Seife zu sitzen oder kein Taschentuch zur Hand zu haben." [1] Wie im wirklichen Leben. Eben.

Wenngleich nicht seine Erfindung, durchzieht James Joyce sein Werk mit den "streams of consciousness", assoziativen Gedankenfetzen, die die Erinnerungen, Befindlichkeiten, Frustrationen und Visionen seiner Protagonisten spiegeln, das Werk in vorher nicht dagewesener Fülle und Vielschichtigkeit. Dieses "innere Monologisieren", das durchaus einem heutigen Lebensgefühl entspricht, macht den Klassiker zu einem absolut zeitgemäßen Roman.

Daß der "Ulysses" seinen Weg zur Hörpielverabeitung fand, ist nicht nur dem Freiwerden der Urheberrechte 70 Jahre nach dem Tod des Dichters, sondern auch dem Bedürfnis der Macher zu verdanken, eine akustisch erfahrbare "Dechiffrierung" und "inszenatorische Verlebendigung" des Stoffes zu liefern, so der Chefdramaturg beim Hörspiel des SWR2, Manfred Hess, nicht als Konkurrenz zum Buch, sondern als eigenes Medium, das allerdings, so die Hoffnung, zur Lektüre des Romans anregen möge.

Jürgen Holtz liest - Foto: © 2012 by Schattenblick

Jürgen Holtz
Foto: © 2012 by Schattenblick

Geladen war zum "Open Listening" ins ARD Haupstadtstudio nach Berlin - im SWR Baden-Baden gab es zeitgleich einen entsprechenden Aktionstag - in die Hörlounge bereits ab 08:03 Uhr bis in die Morgenstunden des Sonntag, zu Irish Stew und Lachs und Guiness, zu irischer Musik und einem Bühnenprogramm, bei dem sich die Sender und Macher zunächst und zu Recht selbst und gegenseitig feierten.

Mit von der Partie:

- Dr. Willi Steul, Indendant des Deutschlandradio, stolz auf ein Projekt mit 270 Aufnahmetagen und 250.000 Euro, wie es "nur ein öffentlich-rechtlicher Sender stemmen kann",

- Arthur Landwehr, Hörfunk-Chefredakteur SWR, der auf die Wichtigkeit solcher Produktionen zum Kulturerhalt jenseits ökonomischer Gesichtspunkte verwies,

- Hörspielbearbeiter, Komponist und Regisseur Klaus Buhlert, Schöpfer dieses hochkomplexen Hörwerkes, der sich bereits vorher mit Homers "Ilias" in einer sprachlichen Neubearbeitung von Raoul Schrott, Musils "Mann ohne Eigenschaften" oder Hermann Brochs "Schlafwandlertrilogie" ein Qualitätssiegel für opulente Hörspiele erworben hatte. Sein Motto bei der Bearbeitung des "Ulysses": "Schreib, wie du sprichst" umzukehren in "Sprich, wie er schreibt!",

- die Chefdramaturgen von SWR, Manfred Hess, und DLF, Elisabeth Panknin, die von den Schwierigkeiten beim Rechteerwerb zu berichten wußten,

Die Chefdramaturgen Elisabeth Panknin (DLF) und Manfred Hess (SWR) - Foto: © 2012 by Schattenblick

Freuen sich über eine gelungene Koproduktion: Elisabeth Panknin (DLF) und Manfred Hess (SWR)
Foto: © 2012 by Schattenblick

- die Leiterin der Hörverlages Claudia Baumhöver, die mit einer gleichen Tags erschienenen CD- bzw. MP3-Fassung dem Werk zu einer dauerhaften Form verholfen hat,

- Dan Mulhall, irischer Botschafter in Deutschland, für den der "Ulysses" das größte Werk eines irischen Schriftstellers ist und das wichtigste und witzigste Buch des 20. Jahrhunderts - mithin eine Sichtweise, die der dem Werk nachgesagten Kompliziertheit und Nichtlesbarkeit wohltuend entgegentritt,

- Kevin Reynolds, Chef von RTÉ Hörspiel, Dublin,

- Dr. Matthias Strässner vom Deutschlandfunk

- der Joyce-Experte und Herausgeber der deutschen Gesamtausgabe Prof. Klaus Reichert

- sowie die Schauspieler/in und Hörspielsprecher/in Corinna Harfouch, Jürgen Holtz und Manfred Zapatka, die mit ihren Lesungen ein Zeugnis von der hervorragenden Wahl und überzeugenden Arbeit der beteiligten Schauspieler gaben.

Manfred Zapatka liest - Foto: © 2012 by Schattenblick

Manfred Zapatka
Foto: © 2012 by Schattenblick

Als irischer Botschafter ließ es sich Dan Mulhall nicht nehmen, auf die erste englische Hörspielfassung des "Ulysses" aus dem Jahr 1982 zu verweisen, mit 29 Stunden Spielzeit sogar noch länger als die deutsche, und ein Stück aus einer gälischen Übersetzung selbst vorzulesen. Das Gälische, eine der ältesten Sprachen Europas und keltischen Ursprungs, gehöre zur irischen Identität und sei auch eine Waffe gegen die Okkupation durch England im 19. Jahrhundert.

Mit seiner Stilisierung des irischen Schriftstellers, der die meisten Jahre seines Lebens nicht in Dublin verbrachte, sondern in Paris, Triest und Zürich lebte, wo er auch starb, zu einem frühen und eigentlichen Europäer und Werber für Toleranz dürfte Mulhall allerdings weniger dem Dichter, der für seine unkonventionelle, querköpfige Art bekannt war, gerecht geworden sein als einem Auftrag in diplomatischer Mission.

Unter der Moderation von Walter Filz (SWR2) und Denis Scheck (DLF) gerieten zunächst Fragen zur Entstehung, Finanzierung und notwendigen Überzeugungsarbeit für ein solches Mammutprojekt in den Mittelpunkt. Der Moderationsprofi und Literaturkenner Scheck wußte auf launige und streitbare Weise seine Gesprächspartner zu provozieren und zu Aussagen zu motivieren.

Gefragt, ob sich (s)ein Sender ein solch obszönes Werk im Programm leisten könne und ob Obszönität heute noch eine Kategorie bei der Arbeit einer Literaturabteilung sei, die einen Programmacher vor irgendwelchen Themen zurückschrecken lasse, antwortete Dr. Matthias Strässner vom Deutschlandfunk: "Da haben wir schon ganz andere Sachen gemacht" und verwies auf eine CD zu den "schweinischsten Stellen in der Bibel", gelesen von Harry Rowohlt. "Die schweinischsten Stellen aus dem Koran", empfahl sich Scheck in der Manier des "Die anderen haben aber auch..." für einen fortführenden Programmtip. "Und ich bin ganz sicher, mein Leben wird sich sehr schnell ändern." Man kann davon ausgehen, daß Scheck die Feinheiten und Konnotationen solch verbaler Schnellschüsse kennt und weiß, was er da um eines flüchtigen Applauses willen ins Publikum warf. Den meisten blieb der Beifall denn auch in den Handflächen stecken.

Corinna Harfouch liest - Foto: © 2012 by Schattenblick

Corinna Harfouch
Foto: © 2012 by Schattenblick

Wie ganz und gar nicht anstößig, sondern zutiefst menschlich und die menschlichen Gefühle und Bewußtseinszustände kennend und bewegend James Joyce wirklich ist, das konnte das Publikum bei der Lesung von Corinna Harfouch, die für ihre große Bühnenpräsenz bekannt ist und in der von Klaus Buhlert bearbeiteten, musikalisch unterlegten Fassung neben anderen auch die Rolle der Erzählerin spricht, unter die Haut gehend erleben.

Zuvor gefragt, wie es denn sei, von der sehr körperlich orientierten Theaterarbeit auf die wenig körperliche Arbeit im Tonstudio zu wechseln, antwortete sie: "Man muß den Körper sehr konzentrieren und auf Messers Schneide führen. Das ist ein angenehmes, sehr potenziertes Gefühl." Und dann demonstrierte sie mit sparsamen, nichtsdestoweniger sichtbar ganzkörperlichen Mitteln und einer sehr feinen Sprachmodulation, warum der "Ulysses" gar nicht schwierig zu verstehen ist und wie sehr sich eine Lektüre lohnt, "laut", wie Regisseur Buhlert empfiehlt und "immer wieder." Und es wird spürbar, wie das, was der Botschafter an dem Joyceschen Werk komisch fand, dem geschuldet ist, was genauestens beobachtend, die Ironie und Absurdität prekärer Lebensrealitäten darzustellen weiß.

Harfouch las aus dem Kapitel 13 "Nausikaa" auf ganz überwältigende Weise mit all den ungeordneten Auf- und Niedergängen menschlicher Emotionen. Ein absoluter Höhepunkt des Abends, ohne Zweifel. Ein besseres Plädoyer dafür, "Ulysses" zu hören, hätte es nicht geben können.

Davon, wie sehr James Joyce von seinem ausgezeichneten Gedächtnis profitierte, das Gesehenes und Erlebtes minutiös gespeichert zur Grundlage seiner Werke machte, mehr als jede Fiktion, wußte der Anglist und Herausgeber der deutschen Gesamtausgabe, Prof. Klaus Reichert, zu berichten. Als Übersetzer weiß er auch um die Unübertragbarkeiten einer Sprache in die andere. Mit dem Englischen könne man viel mehr spielen, so Reichert, und Joyce sei ohne Zweifel ein großer Spieler mit der Sprache gewesen.

Und noch ein weiteres Detail, das auch vielen Joyce-Kennern neu gewesen sein dürfte, wußte der Sprachwissenschaftler beizutragen. Noch während Joyce das Ende seines Werkes schrieb, korrigierte er bereits die (damals noch bleigesetzten) Druckfahnen der Anfangskapitel. So entstanden die vielfältigsten Bezüge. "Ulysses" ist ein Roman, der im Prozeß des Korrigierens entstanden ist", sagt Reichert. Auch Druckfehler hätten den Autor inspiriert, sein Buch zu ergänzen und zu erweitern. Der Zufall - und darin käme er dem homerischen Vorbild sehr nahe -, sei konstituierend für Joyces' Schreiben.

Geiger Philippe Perotto & Sängerin Barbara Schnehwald von Amselfon - Foto: © 2012 by Schattenblick

Geiger Philippe Perotto & Sängerin Barbara Schnehwald von Amselfon
Foto: © 2012 by Schattenblick

Man würde weder dem Premierenfest noch James Joyce gerecht, bliebe die Musik unerwähnt. Vielen galt der Dichter eigentlich als "Tenor, der auch ein paar Bücher geschrieben hat." Mit Liedern, die Joyce selbst gesungen und am Klavier begleitet hat und die auch im Roman Erwähnung finden wie z.B. das berühmte "Seaside Girl", trugen die Musiker der Operetten-Pop-Band "Amselfon" mit der starken Stimme von Sängerin Barbara Schnehwald nicht unerheblich zum Gelingen des Abends bei.

"Erregend, entnervend, erschöpfend", so lautete das Urteil T.S. Eliots über den "Ulysses" seines Dichterfreundes. Übertragen auf diesen 16. Juni 2012: Ja, erregend war's, weil es neue und unbekannte Aspekte gab, die ein unverkrampftes Bild von James Joyce entwarfen. Erschöpfend auch, weil so ein langes Programm selbst Joyce-Fans, die den Aufwand von Zeit und Mühe in der Regel nicht scheuen, eine Herausforderung ist und die Schwüle dieses Tages den Anstrengungen eine nicht unwesentliche hinzufügte. Aber entnervend, nein, entnervend war es ganz und gar nicht. Der Abend hat gezeigt, daß das Urteil, James Joyces' "Ulysses" sei nicht lesbar, kompliziert und nur für Experten zu entschlüsseln - ganz einfach nicht stimmt.

Einlassen müsse man sich, so Regisseur Klaus Buhlert, wie man sich auf eine fremde Stadt einlassen muß, wenn man sich auf Entdeckungstour begibt.


Interviews mit dem Regisseur Klaus Buhlert sowie dem Chefdramaturgen des SWR Manfred Hess folgen.


Anmerkung:
[1] Fritz Senn, "Ulysses": ungelesen, gelesen, gehört - und unerhört, Programmheft zur Public Listening Party Ulysses, Der Hörverlag 2012

Premierenpublikum in der Redaktionshalle des ARD-Hauptstadtstudios - Foto: © 2012 by Schattenblick

Premierenstimmung in der Redaktionshalle des ARD-Hauptstadtstudios
Foto: © 2012 by Schattenblick

23. Juni 2012