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REZENSION/032: "Meine keine Familie" - Dokumentarfilm von Paul-Julien Robert (SB)


Aufwachsen in der Kommune - Von den Nachwehen einer Sozialutopie




23 Jahre nach der Auflösung der Kommuneorganisation AAO kommt mit "Meine keine Familie" ein Dokumentarfilm in die Kinos, der das öffentliche Bild des in seiner Endphase an massiven inneren Widersprüchen wie dem Kindesmißbrauch des Kommunebegründers Otto Mühl regelrecht kollabierten Gemeinschaftsexperiments auf lange Sicht bestimmen dürfte. Regisseur Paul-Julien Robert gehört zu den auf dem Friedrichshof im österreichischen Burgenland aufgewachsenen Kindern und schildert die Geschichte der in ihren Hochzeiten über mehrere hundert Mitglieder in diversen europäischen Ländern verfügenden Aktionsanalytischen Organisation aus der Sicht eines Betroffenen, der das Gruppenleben vor allem als System rigider Gängelung und emotionaler Belastung erlebt hat. Mit vier Jahren von seiner Mutter verlassen, die in die Schweiz geschickt wurde, um, wie in dem Film erklärt, dort für die AAO Geld mit Geschäften auf dem Finanzierungsmarkt zu verdienen, auf einen Vater orientiert, der sich nicht als sein leiblicher Erzeuger erweisen sollte und auf tragische Weise verstarb, hat Robert allen Grund dazu, seiner Sehnsucht nach intakten familiären Verhältnissen Ausdruck zu verleihen.

Das uneingelöste Versprechen auf eine heile Welt bestimmt denn auch die dramaturgische Zentralachse des Films. Was Robert von seiner Mutter, die sich seinen Fragen auf einer Reise zu verschiedenen Schauplätzen der Vergangenheit stellt, über diese Zeit in Erfahrung zu bringen versucht, verbleibt im Duktus der Bezichtigung, die ohnehin nicht wieder gutzumachende Vergangenheit nicht genügend zu bereuen. Den Sohn allein in einer Situation zurückzulassen, in der die zahlreichen Bezugspersonen der auf dem Friedrichshof in einer Kindergruppe umsorgten Heranwachsenen kein Ersatz für die Mutter sein konnten, erfüllt mithin den Tatbestand unentschuldbarer seelischer Grausamkeit. Kommt anhand des reichlich zum Einsatz gelangenden Materials aus dem Filmarchiv der Kommune zu Beginn des Films noch der Eindruck eines idyllischen, von spielerischen und künstlerischen Aktionen begleiteten Landlebens mit vielen lachenden Menschen auf, so nimmt das anhand verschiedener Gruppenereignisse wie der sogenannten Selbstdarstellung dokumentierte Kommuneleben im weiteren Verlauf immer mehr den Charakter eines Zwangsverhältnisses an, in dem Otto Mühl die Rolle des Königs respektive Diktators zukommt.

Dies wiederum überführt die Mutter des Regisseurs einer veritablen Lebenslüge. Indem sie ihre durch sein Leiden an dem ihm vorenthaltenen Aufwachsen in einer normalen Familie in Frage gestellte Lebensbilanz dadurch zu retten versucht, daß sie den Eintritt in die Kommune nicht als Fehler bewerten will, vermittelt sie den Eindruck, bei allem zugestandenen Versagen im Kern unbelehrbar zu sein. Zwar tun sich bei der Kontaktaufnahme zu der Familie seines ersten Vaters im Rückblick auf dessen Kindheit eben jene finsteren Abgründe familiärer und patriarchalischer Gewalt auf, die zu überwinden einst das programmatische Vorhaben der Kommuneorganisation war. Doch gelangt die Bezugnahme auf die bitteren Erfahrungen, die zahlreiche Kinder und Jugendliche in äußerlich intakten Familien machen mußten, zu keiner Zeit in den Rang eines Diskurses, der den zeitgeschichtlichen und soziokulturellen Kontext dieser Abspaltung der Kommunebewegung der 1970er Jahre auch nur darzustellen, geschweige denn zu diskutieren in der Lage wäre.

So tritt der soziale Hintergrund des von Tragik und Entfremdung belasteten Mutter-Sohn-Verhältnisses in Gestalt eines dystopischen Ausnahmezustands in Erscheinung, der die Schlußfolgerung nahelegt, der Mensch sei einfach nicht auf eine Weise gemeinschaftsfähig, die über die familiäre Keimzelle biologischer Reproduktion und die Vertragsverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft hinausgeht. Der für die ausklingenden 1960er Jahre signifikanten Entwicklung neuer kollektiver Lebensformen, ihrer Widersprüchlichkeit und ihrem Scheitern kann die subjektive Sicht Paul-Julien Roberts in seiner Doppelrolle als Betroffener und Regisseur kaum gerecht werden, spiegelt der Film doch vor allem seine Erfahrungen und die anderer Kommunekinder. Wie verstört sie aus dieser speziellen Situation des Heranwachsens auch hervorgegangen sein mögen, so wirken sie doch nicht weniger lebenstüchtig als der "normal" sozialisierte Mensch. Wie sehr dessen psychische Konstitution durch frühkindliche Traumata und die Zurichtung seiner reichen Subjektivität auf das Disziplinar- und Kontrollregime gesellschaftlicher Funktionsfähigkeit beschädigt ist, läßt sich unschwer an den stetig wachsenden Zahlen psychischer Erkrankungen ablesen.

So bleiben wichtige Fragen, die dieses soziale Experiment und das im Mittelpunkt stehende Mutter-Sohn-Verhältnis betreffen, offen. Warum hat Robert seiner Mutter erst mehr als 20 Jahre nach dem Ende der Kommune all die Fragen gestellt, die andere Eltern der Kommune im Gespräch mit ihren Kindern aufgegriffen und in den meisten Fällen zu einem versöhnlichen Ende gebracht haben? In welchem Verhältnis steht das Scheitern dieser Beziehung zu den gesellschaftlichen Werten und Normen, die in der familiären Sozialisation zu reproduzieren eine wesentliche Aufgabe dieser politisch geförderten und gesetzlich geschützten Institution ist? Warum sind die ehemaligen Kommunardinnen und Kommunarden nicht aktiv dagegen eingeschritten, wenn, wie in dem Film dokumentiert, Otto Mühl ein Kind autoritär angeht und regelrecht fertigmacht? Wie kann es sein, daß ein Großteil der Kommune mehr als 15 Jahre zusammengelebt hat, ohne darauf zu drängen, die beanspruchte Überwindung gesellschaftlicher Zwangsverhältnisse einzulösen?

Daß die Verortung der individuellen Betroffenheit in den Kontext ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit unterbleibt, ist die entscheidende Schwäche einer Erzählform, die im biographisch Erlebten so sehr um ihre Akteure kreist, daß sie letztlich austauschbar mit subjektiven Erlebniswelten wird, die aus anderen Konfliktkonstellationen, Zwangslagen und Gewalterfahrungen hervorgehen. Indem der Film allein das Scheitern dieses sozialutopischen Experiments abbildet und darauf verzichtet, dessen Wurzeln in linken emanzipatorischen Zusammenhängen wie die Gründe ihrer Pervertierung beim Namen zu nennen, ist er im durchaus angesagten, marktförmig verkürzten Sinne ahistorisch. Zweifellos wäre eine sehr viel deutlichere Verurteilung der destruktiven Folgen jener hierarchischen Struktur möglich gewesen, die die sozialen Verhältnisse in der Kommune während ihrer gesamten Existenz bestimmte. Andererseits hätten Errungenschaften des Experiments wie die hochgradige Selbstorganisation des Kommunelebens, die den sozialen Erfahrungs- und Bewältigungshorizont erweiternden Gemeinschaftspraktiken und die Konzentration auf kreative Prozesse hervorgehoben werden können.

Daß beides weitgehend unterblieb, ist dem Verzicht auf die kritische Reflexion des realen Verlauf dieses Projekts geschuldet. Gemessen an seinen erklärten Ausgangsbedingungen, der Überwindung der herrschenden Eigentumsordnung bis hinein in die Sphäre bürgerlicher Individuation und der ideologischen Verankerung des utopischen Entwurfs in der psychoanalytischen Gesellschaftskritik Wilhelm Reichs, ist sein Scheitern schon in der Frühphase, als der sozialistische Anspruch zugunsten der scheinbar spielerischen Adaption kapitalistischer Tauschverhältnisse aufgegeben wurde, anzusiedeln.

Die damit ausbleibende Analyse des Übertrags warenförmiger Tauschbeziehungen auf eine alternative Lebensform, die einmal angetreten war, das Ideal sozialer Egalität und unentfremdeter Arbeit in kollektiver Praxis zu verwirklichen, brachte hervor, was bestritten werden sollte, die Entfremdung des Menschen durch seine tief in die soziale Matrix eindringende kapitalistische Vergesellschaftung. Die vielversprechende Idee, man könne sich mit Hilfe psychoanalytischer, die physische Manifestation internalisierter familiärer und damit gesellschaftlicher Gewalt angreifender Methoden befreien, brach sich schon an der Verabsolutierung einer entwicklungspsychologischen Kausalität, die den Menschen ihrerseits auf ein psychodynamisches Konstrukt eigener Bedingtheit reduzierte. Der Anspruch, den Widerspruch zwischen autonomer Subjektbildung und gesellschaftlicher Unterwerfung im Unterschied zum institutionalisierten therapeutischen Reparaturbetrieb durch die nichtentfremdete Materialität des Kommunelebens aufzuheben, war, wenn denn überhaupt über den performativen Charakter einer künstlerischen Extravaganz hinaus ernstgemeint, letztlich dem Rückzug aus den konkreten gesellschaftlichen Kämpfen der radikalen Linken geschuldet.

Der Versuch, auf dieser vermeintlichen Abkürzung schneller als alle anderen zur Verwirklichung einer idealen Gesellschaft zu gelangen, endete denn auch in einer weiteren Diskreditierung utopischen Denkens. Über den Horizont der vermeintlich unverbrüchlichen Kette aus Produktion und Reproduktion hinauszublicken, um vor der sich auftuenden Freiheit in ihrer Konsequenz prinzipiell unbegrenzter Streitpositionen zu erschrecken, kann Folgen der Regression zeitigen, die als abschreckendes Beispiel, ähnliches zu wagen, nicht besser geeignet sein könnten. So produzierte der Rückfall in die Attribute kleinfamiliärer Bürgerlichkeit in dem Versuch, auf künstlerisch-performative Weise zu abstrahieren, was man sich partout nicht eingestehen wollte, dementsprechend groteske bis grausame Ergebnisse.

In der AAO wurde bereits in den späten 1970er Jahren vorvollzogen, wohin die von linksaußen nach rechts marschierende intellektuelle Elite der Studentenbewegung erst Jahre später mit dem auf ein neues Biedermeier zielenden Projekt der Grünen, der postmodernen Ausflucht aus wirksamer Herrschaftskritik und dem Quereinstieg in die Funktionseliten des kapitalistischen Legitimationsapparats, Politikbetriebs und Wertschöpfungskomplexes, ihre Schritte lenkte. Die Kommuneorganisation war mithin ein Labor höchst innovativer Regulative widerständigen Handelns, was allemal einer eigenständigen Untersuchung in Hinsicht auf die Praxen und Ziele sozialer Befreiung wert wäre.

All dies erfolgte vor der Geburt des Regisseures, so daß ihm durchaus zugestanden werden kann, sein Augenmerkt nicht auf jene Zeit gerichtet zu haben, als die für ihre gesellschaftskritische Relevanz wichtigsten Weichenstellungen des Kommuneexperiments erfolgten. Daß dem Publikum dieser bereits mehrfach preisgekrönten Dokumentation die Schlußfolgerung nahegelegt wird, alternative Lebensformen kollektiver Art könnten keinen anderen Verlauf als den fataler Selbstdestruktivität und totalitärer Unterdrückung nehmen, macht die Atomisierung des Menschen zum Subjekt marktförmiger Konkurrenz und Aggregat befristeten Verbrauchs durch Arbeit und Konsum erträglicher. Dabei machen sich in Anbetracht mehrerer global synchron verlaufender Krisen, die nichts geringeres als die Zukunft der Menschheit in Frage stellen, überall auf der Welt Menschen dazu auf, neue Lebens- und Produktionsweisen zu erforschen, in denen sich die soziale Wirklichkeit nicht über den Warencharakter der Arbeit und die sozialdarwinistische Überlebenskonkurrenz definiert. Mithin erfüllt die Klage über die verlorene Herkunft, der die Glorifizierung der heilen Familie immanent ist, die zentrale Aufgabe kulturindustrieller Produktivität - glauben zu machen, daß es sich lohnt, in aller Bescheidenheit mit dem zufrieden zu sein, was man hat.

Daß die nachträgliche Entsorgung längst gescheiterter Utopien soviel Anerkennung und Lob findet, ist dem mangelnden Mut geschuldet, sich überhaupt noch einmal aus der Deckung lediglich gewährter Überlebensnischen zu begeben, um das Ende aller Ausbeutung und Unterdrückung zu erkämpfen. Je mehr die bürgerliche Selbstzufriedenheit in ihrem Bestand bedroht ist, desto bereitwilliger ergibt sich der Mensch den ihm auferlegten Bedingungen und Zwängen.

Die verwehten Hoffnungen und gescheiterten Aufbrüche ehemaliger Aussteiger und Revolutionäre nicht zum Anlaß einer kritischen Fehleranalyse zu nehmen, die weiterführt, muß nicht das Ergebnis des berechtigten Vorwurf des Kindesmißbrauchs an die Adresse des im Mai diesen Jahres verstorbenen Otto Mühl oder anderer Zerrbilder gesellschaftlich präformierter Zwangsverhältnisse sein. Dazu wird es erst im Interesse, an der Saturiertheit neofeudaler Verhältnisse teilzuhaben. Wenn überhaupt, dann ist "Meine keine Familie" sehenswert, weil es ein Dokument der Kapitulation vor Mißständen ist, die im Mikrokosmos der Kommune besonders deutlich hervortraten, aber keineswegs ihr genuines Resultat sind.


Anmerkung:

Innenansicht zu den Ursprüngen, der Entwicklung und dem Ende der AAO-Kommune
siehe das Interview mit dem Mitbegründer Herbert Stumpfl
WIENER GESPRÄCHE/10: Begegnungen am roten Rand Wiens - Teil 10 (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/redaktio/report/rrwg0010.html

28. Oktober 2013


Seit dem 24. Oktober im Kino

Titel: Meine keine Familie
Produktionsland: Österreich
Erscheinungsjahr: 2012
Länge: 93 Minuten
Regie: Paul-Julien Robert
Produktion: FreibeuterFilm (Oliver Neumann, Sabine Moser)
Musik: Walter Cikan, Marnix Veenenbos
Kamera: Klemens Hufnagl, Fritz Ofner
Schnitt: Oliver Neumann