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REZENSION/029: "Innenansichten - Deutschland 1937" (ARTE) (SB)


Innenansichten - Deutschland 1937



Daß das nationalsozialistische Deutschland die Gleichschaltung und Unterdrückung im Innern wie auch seine Kriegspläne erfolgreich verschleiert und so die Welt über seine wahren Absichten getäuscht habe, gehört zu den festen Größen heutigen Geschichtsverständnisses. Gleichermaßen gilt als bekannt, daß man im europäischen Ausland und in den Vereinigten Staaten zahlreiche Warnsignale verkannt oder ignoriert habe, bis das Verhängnis der Massenvernichtung und des Weltkriegs seinen unabwendbaren Lauf nahm. Aufgespannt in diesen großen Bogen festgezurrten Verständnisses bleibt die Verzahnung komprimierter nationalstaatlicher Macht mit einer Vielzahl von Beteiligungsformen im In- und Ausland doch in erheblichen Teilen unausgelotet. Mitten hinein in diese Widerspruchslage des aus heutiger Sicht so monströs anmutenden Entwurfs greift der ARTE-Dokumentarfilm "Innenansichten - Deutschland 1937", indem er einen historischen Versuch präsentiert, die damaligen Verhältnisse zu entschlüsseln und zum Zweck der Aufklärung publik zu machen.

Im Sommer 1937 erhielt der amerikanische Journalist und Dokumentarfilmer Julien Bryan, der zuvor schon andere Länder wie die Sowjetunion oder die Türkei in derselben Absicht besucht hatte, überraschend die Sondergenehmigung, nach Deutschland zu reisen und dort zu filmen. Bryan plante, seinen amerikanischen Landsleuten die Wahrheit über Nazi-Deutschland jenseits aller Propaganda zu zeigen. Bei dieser Reise gelang es ihm immer wieder, auch ohne offizielle Genehmigung zu filmen und das Material an der Zensur vorbei über die Grenze zu schmuggeln. Für die ARTE-Dokumentation hat der Filmautor Michael Kloft erstmals dieses einzigartige Filmmaterial ausgewertet. In Verbindung mit Bryans damaligen Tagebuchnotizen ist in diesem Film ein ungeschminktes Bild von Deutschland im Jahr 1937 entstanden.

Kritiker hielten Bryan seinerzeit vor, er arbeite mit einer allzu unspektakulären Bildauswahl und der Ausblendung unmittelbar aufrüttelnder Greuel letztlich jener Propagandamaschine in die Hände, die zu bekämpfen er in Anspruch nahm. Darauf entgegnete der Dokumentarfilmer, daß es schwer gewesen sei, am Rande des ihm zugestandenen Rahmens Szenen einzufangen, die aufschlußreich genug seien, um in kommentierter Form auf die hermetisch vor unbefugtem Einblick abgeschottete Rückseite der pompös inszenierten Fassade zu schließen. Auf jeden Fall ist es Bryan gelungen, ein schon für sich genommen beeindruckendes Bildmaterial alltäglicher Begebenheiten aus verschiedenen deutschen Städten und Regionen mit offiziellen Präsentationen ausgewählter Errungenschaften wie auch gigantischen Aufmärschen bei Reichsparteitagen und Staatsbesuchen bis hin zu Waffenparaden und Kriegsübungen aufzuzeichnen.

Auch wenn ihm der Weg in die Konzentrationslager zwangsläufig versperrt war, gelang es ihm doch, unübersehbare Hinweise auf die Verfolgen der Juden wie Verbotsschilder oder die Hetzkampagne des "Stürmer" ins Bild zu setzen. Zudem reicht der erschreckend anmutende aktuelle Bezug schon aus, das Vordringen der Herrschaftsausübung nicht allein in einer fernen Vergangenheit zu verorten. Erfährt man beispielsweise, daß beim Besuch Mussolinis in Berlin Passierscheine an die Bewohner der Häuser entlang der Route ausgegeben und auf den Dächern Maschinengewehre aufgebaut wurden, fühlt man sich an aktuelle Visiten hochrangiger Staatschefs erinnert. Sieht man den Drill jugendlicher Körperertüchtigung beim Reichsarbeitsdienst, kann man sich einer Querassoziation mit den Olympischen Spielen in London schwerlich erwehren.

Wie Julian Bryan schon damals bei der Vorführung seines Filmmaterials größten Wert auf dessen Erläuterung und Bewertung legte, hat Michael Kloft mit dem Einbezug der Tagebuchnotizen und einer pointierten Auswahl zeitgenössischer Stimmen um so mehr Schlaglichter, Kontraste und nicht selten absolut gegensätzliche Einschätzungen verwoben. Durch den wohlweislichen Verzicht auf eine eindimensional geglättete Version eröffnet der Filmautor den Blick in eine facettenreiche Gegensätzlichkeit von betörender Überzeugungsgewalt und repressiv ausgegrenzten Widersprüchen, die den Zuschauer dazu anregt, einem konsumistischen Verzicht auf weiterführende Fragen zu entsagen. Nicht unerwähnt bleiben soll die musikalische Untermalung im Ambient-Stil, die Irmin Schmidt, dem Keyboarder der deutschen Gruppe Can, in ihrer Unaufdringlichkeit überzeugend gelungen ist.

Innenansichten - Deutschland 1937

Dokumentarfilm von Michael Kloft

ARTE / BR, Deutschland 2012, 52 Min.

Erstausstrahlung: 14. August 2012, 21.45 Uhr

7. August 2012