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INTERNATIONAL/038: Konfliktbewältigung im kolumbianischen Film (ask)


Kolumbien Monatsbericht - Oktober 2011, Nr. 9/2011

Konfliktbewältigung im kolumbianischen Film

von Manuela Balett


In den letzten zehn Jahren hat die Zahl von kolumbianischen Filmproduktionen erheblich zugenommen und auf internationalen Filmfestivals wurden damit zum Teil grosse Erfolge gefeiert. Sehr viele dieser Produktionen behandeln in irgendeiner Weise die Thematik des seit Jahrzehnten andauernden bewaffneten Konflikts. Das Erzählen von Schicksalen, die verstrickt sind mit dem internen Krieg, scheint eine Faszination, wenn nicht eine Notwendigkeit für Kunstschaffende und Publikum darzustellen, um die Geschichte des eigenen Landes zu verstehen. Vor allem eine jüngere Generation von Regisseuren und Regisseurinnen nehmen sich vermehrt den Themen des bewaffneten Konflikts, der Vertreibung, des Traumas, des Drogenhandels und der städtischen Gewalt u.a. an. Das Bedürfnis, traumatische Geschehnisse im Film zu verarbeiten, ist keine neue Entwicklung, sondern setzte bereits nach dem Zweiten Weltkrieg ein.


1. Aufarbeitung von Konflikten im Film

Die Vergangenheitsbewältigung durch das Medium Film setzte wie bereits erwähnt, nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Obwohl die Auseinandersetzung mit dem Krieg in den 1950er Jahren vor allem in Deutschland noch gescheut wurde, kam sie in den 1960er Jahren umso stärker in Gang, als sich die junge Generation auf die Suche machte nach der Schuld des kollektiven Traumas und dem Verständnis der Vergangenheit. Ab diesem Zeitpunkt wurden Filme produziert, die alle möglichen Akteure, Schauplätze und Handlungen rund um die Zeit des Zweiten Weltkriegs zum Thema hatten. Heutzutage werden weltweit Filme produziert, die Konflikte und Kriege thematisieren, unter anderem auch solche, die noch nicht beendet sind. Trotzdem ist es ein schwieriger Schritt für eine Nation, sich mit den Problemen der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Mehr und mehr meist junge Regisseure lassen sich auf das Wagnis ein, die Identität ihres Volkes zu suchen und zu stärken, indem sie die Geschichte in die Gegenwart projizieren und sich für eine bewusste Diskussion um traumatische Erlebnisse der Vergangenheit einsetzen. Aber nicht nur die Vergangenheit wird damit zum Thema, sondern auch die Gegenwart selbst. Der Film ist eines der eindrucksvollsten und wichtigsten Mittel, um Vergangenes, Jetziges und Zukünftiges darzustellen und um sich realitätsgetreu vor Augen führen zu können, was in der Welt passiert ist, passiert und passieren wird.


2. Kolumbianische Filmproduktion

Auf dem internationalen Parkett sind die Produktionen der Filmindustrien aus Argentinien, Mexiko oder Brasilien bekannter und anerkannter als jene Kolumbiens, doch immer öfter treten kolumbianische Produktionen aus der Nische heraus und feiern auf den internationalen Filmfestivals grosse Erfolge. La estrategía del caracol (1993), Perro come perro (2008), Retratos en un mar de mentiras (2009), Los viajes del viento (2009) und El vuelco del cangrejo (2010) sind nur einige Beispiele für Filme, die in den letzten Jahren grosse Beliebtheit erhalten haben.

Die in den 1980er Jahren als staatliches Organ der Filmförderung gegründete Compañia de Fomento Cinematográfico (FOCINE) ermöglichte die Produktion einiger Spiel- und Dokumentarfilme, die aber eher im nationalen Raum Beachtung fanden. Anfangs 1990er Jahre wurde die FOCINE aufgrund von Korruptionsvorwürfen wieder aufgehoben. Im Jahr 2003 wurde durch die Ley del cine 814[1] die Grundlage für die systematische Filmförderung in Kolumbien geschaffen. Das Gesetz spricht dem Film eine tragende Rolle bei der Bildung von nationaler Identität zu. Seit dem Jahr 2003 haben die Filmproduktionen in allen Sparten zugenommen. Etwa 25 Filme werden nunmehr pro Jahr produziert. Verschiedene Filmfestivals, wie zum Beispiel das Festival internacional de cine de Cartagena oder das Festival de cine de Bogotá bieten eine Plattform für Premieren von nationalen Produktionen, die auch internationalen Anklang finden.


3. Beispiele von Filmen, die den bewaffneten Konflikt thematisieren

Nach der Einführung zum Thema Konfliktbewältigung im Film und im Speziellen dem Kolumbianischen Film, folgt nun die Vorstellung von drei Spielfilmen, die zwischen 2003 und 2010 gedreht wurden und sowohl national als auch international erfolgreich waren. Die drei Filme sind Dramen und behandeln die Problematik des bewaffneten Konflikts und deren Auswirkungen auf unterschiedliche Akteure in einem unterschiedlichen Kontext. Es gäbe eine Reihe weiterer Spielfilme, unter anderem auch Komödien, die die Thematik des Konflikts in einer sensiblen Art und Weise aufarbeiten. La sombra del caminante, Retratos en un mar de mentiras und Los colores de la montaña eignen sich gut für eine Analyse des Umgangs mit Konflikt im Film, weil sie von verschiedenen Perspektiven ausgehen und den Fokus der Handlung auf Akteure legen, die nichts gemeinsam haben und trotzdem alle Teil sind einer sie einenden Vergangenheit.


3.1 La sombra del caminante

Mañe befindet sich in einer schwierigen wirtschaftlichen Situation. Er hat ein Bein verloren und kann deshalb keine Arbeit finden. Die Miete kann er nicht bezahlen und in seiner Nachbarschaft ist er dem Spott seiner Mitmenschen ausgesetzt. Während er in den Strassen Bogotás zu überleben versucht, lernt er einen mysteriösen Mann kennen, einen sogenannten "Silletero". Dieser trägt Leute für 500 Pesos durch die Stadt, indem sie auf einem Holzstuhl sitzen, der an seinem Rücken befestigt ist. Aufgrund der gegenseitigen Hilfsbereitschaft entsteht zwischen den beiden Männern eine ungewöhnliche Freundschaft, die ihre Leben erträglicher werden lässt. Die beiden bemerken mit der Zeit, dass sie eine Vergangenheit teilen, die sie gleichzeitig trennt und doch vereint, als Menschen, die alles verloren haben und doch gewillt sind, wieder neu anzufangen.[2]

La sombra del caminante, ein Schwarzweissfilm, ist ein Drama des Regisseurs Ciro Guerra aus dem Jahr 2003. Ciro Guerra feierte sowohl mit diesem Film, als auch vor zwei Jahren mit seinem zweiten Spielfilm Los viajes del viento internationale Erfolge. La sombra del caminante wurde unter anderem an den Filmfestivals von Toulouse, Habana und Cine de Mar de Plata in Argentinien ausgezeichnet.[3]


3.2 Retratos en un mar de mentiras

Nach dem Tod ihres Grossvaters machen sich Jairo und seine Cousine Marina auf, das Grundstück, von dem ihre Familie viele Jahre zuvor vertrieben wurde, zurückzugewinnen. Auf der Reise von Bogotá an die Karibikküste erinnert sich die apathisch wirkende Marina bruchstückweise an die traumatischen Erlebnisse ihrer Vergangenheit. Als die beiden in ihrem Heimatdorf ankommen und ihr Grundstück zurückverlangen werden sie von Paramilitärs entführt. Jairo wird bei einem Fluchtversuch verletzt, Marina gelingt es, zum Haus ihrer Familie zu gelangen und die Eigentumsschriften auszugraben, die ihr Grossvater vor der Flucht vergraben hatte. Im Haus erlebt Marina die Ermordung ihrer Familie nochmals in ihrer Erinnerung mit.[4]

Retratos en un mar de mentiras ist ein Drama von Carlos Gaviria aus dem Jahr 2009. Carlos Gaviria ist einer der bekanntesten Regisseure Kolumbiens, der unter anderem bekannt wurde durch die Produktion der Fernsehserie Rosario Tijeras und Dokumentarfilmen wie Minas oder dem für die UNICEF produzierten Film 500 seconds: The children of the Americas. Der Film Retratos en un mar de mentiras wurde unter anderem am Filmfestival Viña del Mar ausgezeichnet und an der Berlinale gezeigt.[5]


3.3 Los colores de la montaña

Manuel ist ein neunjähriger Junge, der davon träumt, Fussballer zu werden. Von seinem Vater erhält er zum Geburtstag einen Ball geschenkt, der aber während dem ersten Spiel in einem Minenfeld landet. Gemeinsam mit seinen Freunden Juan und Poca Luz versucht er, den Ball zurückzuholen. Währenddessen wird sein Dorf "La Pradera" in die Wirren des bewaffneten Konflikts hineingezogen. Immer mehr Kinder fehlen am Morgen in der Schule, weil ihre Familien das Dorf verlassen haben. Schliesslich trifft die Tragödie auch Manuels Familie. Vor seiner Abreise unternimmt er einen letzten Versuch, seinen Ball zurückzu- erobern.[6]

Los colores de la montaña ist ein Drama des Regisseurs Carlos César Arbelàez aus dem Jahr 2010. Vor diesem Spielfilm, hat er vor allem Fernsehdokumentarfilme gedreht. Los colores de la montaña hat zahlreiche internationale Preise gewonnen, unter anderem am Filmfestival von San Sebastián in Spanien und dem Filmfestival von Toulouse.[7]


4. Konfliktbewältigung in Kolumbianischen Spielfilmen

Die drei vorgestellten Beispiele erzählen alle die Geschichte von Menschen, die auf unterschiedliche Art und Weise Opfer und Zeugen der Gewalt in Kolumbien geworden sind. Überhaupt kann man sagen, dass die neue Generation von Regisseuren sich mit Vorliebe dem Thema Gewalt annimmt. Sei es nun Gewalt zwischenmenschlicher, gesellschaftlicher, politischer oder staatlicher Natur. Elemente, die sich ebenfalls durch die neueren Filme hindurchziehen, sind die der Freundschaft, der Solidarität und der Lebensfreude. Vielleicht ein Versuch, die Normalität des Lebens inmitten eines absurden Krieges darzustellen.

Im Beispiel von La sombra del caminante wird die Freundschaft zweier Männer porträtiert, die sich bewusst werden, dass sie durch ihre Solidarität zueinander die Wiederholung alter Fehler verhindern können. In einer Rezension schreibt ein kolumbianischer Journalist, dass dieser Film allen zu verstehen gibt, dass die Kolumbianer und Kolumbianerinnen, ob als Zuschauer oder als Zeugen, das Echo der erlebten Gewalt nicht umgehen können. Nebst dem Bezug zum bewaffneten Konflikt, bezieht sich der Film auf die städtische Gewalt, die für die Gegenwart ein grosses Problem darstellt, aber noch selten in Filmen dargestellt wird.

Im Film Retratos en un mar de mentiras erleben die Zuschauer anhand der Erinnerungen der jungen Marina die schrecklichen Gewalttaten, die ihr und ihrer Familie angetan wurden, mit. Auf der Reise von Marina und Jairo wird nicht nur die Geschichte eines traumatisierten Mädchens erzählt, sondern die eines ganzen Landes. Gleichzeitig wird aber Wert darauf gelegt, die Unbeugsamkeit des kolumbianischen Volkes und dessen Lebensfreude sichtbar zu machen.

Los colores de la montaña schliesslich zeigt eine Momentaufnahme des Konflikts aus der Sicht von Kindern. In einer eindrücklich realistischen Art und Weise erleben die Zuschauer mit, wie das normale Leben der Kinder und deren Freundschaft durch den Druck des Krieges aus den Fugen geraten.

Viele Regisseure wählen meist schon für ihr Leinwanddebüt diese Thematik, die sehr komplex ist und einer besonderen Sensibilität bedarf, um sie nicht ins Dramatische zu zerren. In Interviews erzählen sie, dass die Geschichte ihres Films ganz natürlich entstanden sei aufgrund von persönlichen Erlebnissen oder der Beobachtung von Geschehnissen. Die Zuschauer nehmen die Filme fast durchgehend als Suche nach Antworten auf Krieg und Gewalt wahr oder als Versuch, die Wunden eines Volkes sichtbar zu machen.

Das folgende Zitat des Regisseurs Victor Gaviria spricht wohl für viele Menschen, die Gewalt erlebt haben als etwas, das nicht zu beschreiben ist:

"Cuando uno habla con personas que han vivido o viven las mil guerras que se dan en este país, siempre se encuentra con que la fatalidad y el absurdo son las únicas maneras de representarse la experiencia de la violencia. La violencia parece venida de otra parte, transferida al ahora y al aquí. Es un monstruo informe regido por algo anterior a la razón; está marcada por una incomprensibilidad que la define."[8]

Vielleicht ist das unbeschreibbare Unverständnis der Gewalt unter anderem ein Grund dafür, dass das gemeinsame Erlebnis ebendieser Gewalt auf der Leinwand für viele Leute eine Möglichkeit darstellt, ihre Geschichte und die ihres Volkes nachzuvollziehen und zum Gegenstand ihrer Reflexion zu machen.


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Anmerkungen:

[1] Ministerio de cultura/Direccion de cinematografía (2003): Ley 814 del 2003. Ley de Cine. URL: http://www.mincultura.gov.co/?idcategoria=23666 (Zugriff am 7.10.2011).

[2] Vgl. La butaca (2003): La sombra del caminante. URL: http://www.labutaca.net/films/26/lasombradelcaminante.htm (Zugriff am 15.10.2011).

[3] Vgl. ebd.

[4] Vgl. Retratos en un mar de mentiras (2009): Sinopsis. URL: http://www.retratosenunmardementiras.com/ (Zugriff am 15.10.2011).

[5] Vgl. ebd.

[6] Vgl. Los colores de la montaña (2010): Sinopsis. URL: http://www.peliculaloscolores.com/ (Zugriff am 15.10.2011).

[7] Vgl. ebd.

[8] Gaviria, Victor zit. nach Ospina, Luis (2010). El cine urbano y la tercera Violencia colombiana. Centro de documentación digital. URL: http://luisospina.com/ (Zugriff am 23.10.2011).


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Quelle:
Kolumbien Monatsbericht Oktober 2011, Nr. 9/2011
Herausgeber: ask Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. November 2011