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BERICHT/249: Ökonomie und Kreativität - Ein Blick auf die Zukunft des Kinos (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 145, September 2014
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Ökonomie und Kreativität
Ein Blick auf die Zukunft des Kinos

von Steffen Huck



Das Kino steckt mal wieder in der Krise. Seit 2001 ist die Zahl der Kinobesuche in Deutschland um rund ein Viertel gefallen, und der Sommer 2013 bescherte dem Hollywood-Blockbuster ungekanntes Grauen. Aber kommerziell ging es mit dem Kino schon immer auf und ab, und bislang ist es ihm stets gelungen, sich wieder zu berappeln. Aber diesmal sieht es düsterer aus, denn diesmal ist die Krise eine kreative Krise.

Nirgends zeigt sich das drastischer als beim Blick auf die Bestenliste der Internet Movie Database, bei der Benutzer Filme bewerten. Im Allgemeinen schneiden Filme aus der jüngeren Vergangenheit besser ab als ältere; unser Gedächtnis ist eher auf die kurze Dauer ausgerichtet. Vergleicht man aber das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts mit den 1990er Jahren, ergibt sich ein anderes Bild. Während 14 Filme aus den 1990ern es in die Top 50 schafften, finden sich aus den Nuller-Jahren gerade einmal 10. Darunter sind gleich alle drei Teile von Lord of the Rings, was man bei dieser Bilanz berücksichtigen sollte.

Was ist passiert? Die Antwort darauf ist verblüffend einfach. Braindrain ist passiert. Fernsehen ist passiert. Die Revolution der TV-Epics ist passiert. Angestoßen von The Sopranos und The West Wing, die beide 1999 starteten, hat sich im letzten Jahrzehnt nichts weniger als eine neue Kunstform etabliert. Das Fernsehen hat den Roman in bewegten Bildern geboren. Und wo immer Neues, Radikales und Aufregendes passiert, will das Talent dabei sein. Wer als New Yorker Schriftsteller in den 1990ern mit dem Film kokettierte, träumt heute von der Fernsehserie. Dabei sind es nicht nur die Jungen, die Fernsehen machen wollen, sondern auch Altgediente; Martin Scorsese, Dustin Hoffman, Kevin Spacey, David Fincher sind prominente Beispiele für altes Filmestablishment, das den Weg zum Fernsehen gefunden hat, und fast rührend ist es zu lesen, dass eine Schauspielerin wie Anjelica Huston davon träumt, einmal eine Rolle in einer Serie wie Downton Abbey zu bekommen.

Das Fernsehen und die TV-Epics hatten natürlich Glück. Technische Neuerungen haben einen mitentscheidenden Anteil an der Erfolgsgeschichte. Ohne Festplattenrekorder und DVD wäre die neue Form der Serie undenkbar gewesen, denn diese verlangt vom Zuschauer, keine einzige Folge zu verpassen, weil man sonst in der Geschichte verloren ist. Internetstreaming hat in den letzten Jahren dann das Seine dazu beigetragen, und Netflix ist mit House of Cards den nächsten logischen Schritt von der Veröffentlichung des Fortsetzungsromans im Periodikum zur Veröffentlichung des ganzen Buchs an einem Tag gegangen.

Das klassische Kinoformat war immer das der Kurzgeschichte. Knackige 90 Minuten - es verwundert nicht, dass Verfilmungen guter Romane selten zu guten Filmen wurden. Der seit einem Jahrzehnt feststellbare Trend zur Aufblähung auf zwei Stunden hat uns noch unerbittlicher den Zusammenhang von Form, Genre und Länge vor Augen geführt. Wie oft saß man in den letzten Jahren in ganz ordentlichen Filmen und wünschte sich, sie wären einen Tick disziplinierter und kürzer gewesen? Das Publikum hat, jetzt mit einer neuen Alternative ausgestattet, keine Lust mehr auf schlechte Kurzgeschichten. Was bedeutet, dass es rein ökonomischer Zwang ist, der das Kino zur Neuerung zwingen wird und zur Besinnung auf seine intrinsischen Vorteile gegenüber der solitären Fernseherfahrung - auf die große Leinwand, die auch den 50-Zoll-Fernsehschirm schlägt, und auf die kommunale Erfahrung, auf das Malerische und die Emotion, die sich erst im Teilen mit anderen erfüllt. Das zeigen uns die Zahlen der Bestenliste der Internet Movie Database.

Das heißt für die Zukunft: Der ökonomische Zwang wird das Kino zur kreativen Erneuerung zwingen. Das Kino des nächsten Jahrzehnts wird wie das Fernsehen des letzten riskanter werden, denn wer mit dem Rücken zur Wand steht, hat nichts zu verlieren. Einen Vorgeschmack haben uns in den letzten drei, vier Jahren Regisseure wie David Lowery und Nicolas Winding Refn geboten. Lowery mit seinem Gemälde von Liebe und Verbrechen in Aint't Them Bodies Saints, Winding Refn (von Alejandro Jodorowsky als Retter des Kinos gefeiert) mit seinem Heldentryptichon Valhalla Rising, Drive, und Only God Forgives. Der Hass, der ihm für seine Bangkok-Phantasmagorie in Cannes entgegenschlug, ist mehr als ein Schimmer Hoffnung. "Kinder, macht Neues!", ruft es aus dem späten 19. Jahrhundert herüber, und wer wirklich Neues macht, wird nicht nur geliebt.

Die Rückbesinnung auf die extreme Konzentration der Bilder in 90 Minuten ist die eine Chance, aber auch dem Roman fürs Kino steht nichts im Wege. Warum keine Miniserie, die über ein paar Wochen, jeweils donnerstags die Liebhaber der Langform ins Kino holt, wo sie ihr Staunen und Schrecken über Irrungen und Wirrungen, ihre Zu- und Abneigung zu Charakteren und ihre Überraschung über deren Wandel mit anderen teilen können?

Das Kino hat etwas, was das Fernsehen nie haben wird, und das ist der Kinosaal, in dem andere sitzen. Geteiltes Lachen und geteiltes Schaudern (das Überschwappen des Kicherns und der kleinen spitzen Schreie!) ist etwas anderes als Anflüge von Freude und Angst im Wohnzimmer, und auch das reine Verstehen wird beflügelt von der Reaktion anderer, vom Lacher irgendwo im Raum, wenn man selbst eigentlich gerade schockiert ist - oder umgekehrt. Klassiker der frühen 1990er wie Bitter Moon und Reservoir Dogs (beide von 1992) haben das aufs Wunderbarste demonstriert, und ihre Ambivalenz zwischen Komödie und Tragödie, die sie zu Meisterwerken im kollektiven Bewusstsein haben werden lassen, hätte sich in den Wohnzimmern nie so rasch gezeigt.

Der Roman auf Papier war vergleichsweise die wichtigste neue Kunstform des 20. Jahrhunderts. Aber er war, wie es die TV Epics heute sind, zu Einzelkonsum verdammt. Das Kino hat die Chance, von der Fernsehrevolution zu lernen und uns einen neuen Roman zu bescheren, den wir wie einst die 90 Minuten lange Kurzgeschichte mit anderen teilen können. Und das wäre eine Revolution, die vielleicht nur mit jener der Oper des späten 19. Jahrhunderts vergleichbar wäre.

Es ist der reine ökonomische Zwang, der mir sagt: Kinder, ihr werdet Neues machen!


Steffen Huck ist Direktor der Abteilung Ökonomik des Wandels am WZB und Professor für Ökonomie am University College London.
steffen.huck@wzb.eu

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 145, September 2014, Seite 23-24
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph. D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Oktober 2014