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Z/267: "Buhmänner der Nation"?


Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 119 - September 2019

Die "Buhmänner der Nation"?
Sichtweisen von Beschäftigten auf den Kohleausstieg in der Lausitz[1]

von John Lütten


In der Lausitz, so viel ist mit Veröffentlichung des Abschlussberichts der Kohlekommission klar, steht ein Wandel historischen Ausmaßes bevor. Zum Jahr 2038 sollen die Förderung und Verstromung von Braunkohle eingestellt, die noch aktiven Werke stillgelegt werden. Auch wenn die konkrete politische Aushandlung und Beschlussfassung im Sinne legislativer Verfahren und Planungen noch aussteht: Die über hundertjährige und traditionsreiche Geschichte des Bergbaus in der Region wird damit zu Ende gehen.[2]

In der öffentlichen und medialen Auseinandersetzung ist der Kohleausstieg bisher in erster Linie eine Sache von Bundesregierung und Parteien, der Verbände, Experten und politisch-aktivistischen Bewegungen. Wie aber blicken die Lohnabhängigen der Kohleindustrie vor Ort auf die anstehenden Veränderungen? Diese Frage war Gegenstand einer empirischen Untersuchung, die eine Forschergruppe der Uni Jena im Februar mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Brandenburg durchgeführt hat. Sie fand rund 10 Tage nach Veröffentlichung des Kommissionsberichts und somit zu einem politisch relativ brisanten Zeitpunkt statt. Das Sample der Studie bildeten 20 leitfadengestützte Einzelinterviews mit Beschäftigten der Brandenburgischen LEAG, die mit rund 8.000 Beschäftigten der größte Arbeitgeber der Region ist. Quantitativ besehen ist die Erhebung, die als "soziologische Tiefenbohrung" konzipiert war, daher nicht repräsentativ. Insofern das Sample aber Beschäftigte dreier Betriebe - Tagebau, Kraftwerk und Hauptverwaltung - und (Fach-)Arbeiter, Angestellte und Auszubildende verschiedener Hintergründe aus zentralen Bereichen der Produktion versammelt (vgl. Abb. 1), besitzt es dennoch qualitative Aussagekraft.

Die Möglichkeit zur Untersuchung war nicht selbstverständlich. Angesichts einer von vielen Beschäftigten als verzerrt und politisch motiviert beschriebenen Medienberichterstattung, das wurde bereits in Vorgesprächen artikuliert, dominieren hier Unmut und Skepsis gegenüber allen, die angeben, die Situation vor Ort medial oder anderweitig abbilden zu wollen. Man habe, so hieß es, schlechte Erfahrungen mit Reportern und Presse gemacht, weswegen viele nicht mehr zu Interviews und (Presse-)Gesprächen bereit seien. Die Untersuchung war deshalb gebunden an das Versprechen, die Beschäftigten möglichst wertfrei und ungefiltert zu Wort kommen zu lassen.

 Übersicht der geführten Interviews 
Tagebau
Kraftwerk
Hauptverwaltung
Interview 1-4, 17-18
Interview 5-10, 20
Interview 11-16, 19
Gesamt: 6
Gesamt: 7
Gesamt: 7

Die Ergebnisse der Befragung wurden im Juni bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlicht. Sie werden im Folgenden gekürzt wiedergegeben und beruhen im Wesentlichen auf dem Originaltext.

1. Die Kohleindustrie als "Rückgrat der Lausitz"

Mit 8.000 Beschäftigten, davon rund 700 Auszubildende, ist die LEAG der größte Arbeitgeber der Region. Dazu kommen zahlreiche Zulieferbetriebe sowie deren Belegschaften, die direkt oder indirekt von der Braunkohle abhängig sind. Die befragten LEAG-Beschäftigten sehen in ihrem Unternehmen durchweg nicht nur den größten, sondern auch den besten regionalen Arbeitgeber. Unbefristete Vollzeitstellen sind hier die Regel, prekäre Beschäftigung gibt es bei Zulieferern und ausgegründeten Unternehmensteilen, in den LEAG-Betrieben aber nicht. Die tarifliche Entlohnung liegt im regionalen Vergleich weit über dem Durchschnitt. Dagegen beträgt die tarifliche Wochenarbeitszeit - für Ostdeutschland höchst ungewöhnlich - 37,5 Stunden. Der Betriebsrat hat im Unternehmen eine starke Position, und entsprechend hoch ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad. Auch die Ausbildungsbedingungen und -vergütungen werden als "vom Feinsten" beschrieben (Interview 3).

Die Befragten zeigen sich mit Verdienst, Arbeitsbedingungen und Arbeitsinhalten wie auch mit den Sozialbeziehungen in der Belegschaft insgesamt sehr zufrieden. Obwohl im Mehrschichtsystem gearbeitet wird und die Tätigkeiten "in der Grube", die bei Wind und Wetter stattfinden, alles andere als leicht sind, gibt es kaum Klagen über Arbeitsbedingungen. Bemängelt wird allenfalls, dass Stellen nicht nachbesetzt werden und deshalb eine Tendenz zur Leistungsverdichtung zu verzeichnen sei. Das wahrscheinlich auch, weil in der Belegschaft, wie viele Interviewpartner betonen, ein guter Zusammenhalt und ein ausgeprägtes "Wirgefühl" herrschen (Interview 1). Die Befragten sind sich der Besonderheit des Unternehmens sehr bewusst: "Nach Gehalt ist man, wenn man hier arbeitet, hier in der Region oben. [...] Das sind Gehälter, die man mit einem Hochschulstudium in Westdeutschland verdient" (Interview 10).

Darüber hinaus spielt auch eine Rolle, dass die LEAG eine wichtige Funktion für das kulturelle und zivilgesellschaftliche Leben in der Region erfüllt. Das Unternehmen ist Sponsor von Sportvereinen oder anderen Organisationen. Es unterstützt Initiativen gegen Rechtsextremismus, Rassismus und für kulturelle Vielfalt und fördert in der Wahrnehmung vieler Befragter den sozialen Zusammenhalt. Nicht zuletzt deshalb gilt die LEAG den Beschäftigten als "Leuchtturm" (Interview 19) und als "Rückgrat der Lausitz" (Interview 3): "Die Braunkohle gibt uns viele Möglichkeiten. Seien wir ehrlich, wenn wir nicht die hätten, [...] dann wäre hier der Ofen aus" (Interview 5).

Entsprechend hoch fallen die Identifikation mit dem Unternehmen, der Tätigkeit sowie "der Kohle" und auch der Produzentenstolz aus. "Ich war immer stolzer Bergmann und das werde ich immer bis zum Schluss bleiben", erklärt ein über 50-jähriger Beschäftigter im Interview symptomatisch für jenen Teil der Belegschaft, welcher der Kohleindustrie allein berufsbiographisch eng verbunden ist (Interview 3). Und entsprechend groß fällt die Sorge aus, mit der andere auf den bevorstehenden Kohleausstieg blicken:

"Ich bin auf jeden Fall stolz, was ich bis jetzt in meinem Leben so erreicht habe, ich gehe gern arbeiten, bin auch stolz, dass ich hier mitmachen darf bei der LEAG, ich mache das auch gerne, ganz ehrlich. Und ich betrachte es auch mit Wehmut, wenn das hier alles den Bach runtergeht." (Interview 15)

2. Zweifel an der technischen Machbarkeit des Ausstiegs

Die skeptischen bis ablehnenden Haltungen gegenüber dem Kommissionsbericht sowie dem Kohleausstieg insgesamt, die viele Befragte äußern, speisen sich nicht nur aus Sorge um die individuelle berufliche Zukunft oder jene der Region. Auch die technische Machbarkeit eines Umstiegs auf regenerative Energien wird bezweifelt, und zwar von ausnahmslos von allen Befragten. Das anvisierte Ziel eines Braunkohleausstiegs bis zum Jahr 2038 sei politisch motiviert anberaumt worden, ohne dass Klarheit bestünde, wie der Energiebedarf danach gedeckt werden solle. "Ich reiße das alte Haus ab, aber das neue steht noch nicht und es funktioniert noch nicht, aber es muss jetzt unbedingt abgerissen werden, das alte Haus" (Interview 15), bringt ein Befragter diese Sicht auf den Punkt.

Diese Sorgen äußern auch Befragte, die das Ende der Braunkohleförderung prinzipiell und auch aus ökologischen Motiven befürworten:

"Ich bin natürlich auch der Meinung, dass das so nicht weitergehen kann mit der Braunkohle. Dennoch sind mir alle Alternativen, die im Moment auf den Tisch gelegt werden, nicht ausgereift genug. Das fängt an, dass eine Frau Baerbock sagt in einem Interview: 'Wir haben ja genug Stromspeicher' - die ich in Deutschland noch nirgends gefunden habe. Und dass man sagt, das ist alles kein Problem. Das ist mir alles zu kurz gesprungen. Und wenn man weiß, dass im vorigen Jahr 150 Mal großen Unternehmen der Strom abgeschaltet wurde, um das Netz stabil zu halten, dann läuft irgendetwas falsch!" (Interview 14)

Die Argumente zielen im Kern auf den Energiemix und die Sicherstellung der Grundversorgung mit Strom. Der Energiemix beruht zu einem erheblichen Prozentsatz auf Strom aus Kernkraftwerken, der beständig ins Netz eingespeist wird. Es folgt die Energie aus Wind und Sonne, die - wetterabhängig - Vorrang genießt. Strom aus Kohle und Gas sowie aus ebenfalls zu den Erneuerbaren zählendem Wasser deckt den großen Restbedarf, gleicht wetterbedingte Schwankungen bei Wind- und Sonnenenergie aus und sichert so die Grundversorgung. Dieser Mix und mit ihm die Grundversorgung seien in Zukunft nicht mehr gesichert. Es fehle ein Konzept, das nachvollziehbar mache, wie der Energiebedarf nach dem Wegfall der Kohleverstromung und dem Abschalten der Kernkraftwerke von den regenerativen Energien aufgefangen werden könne. Unklar bleibe auch, wie der Strompreis gehalten werden könne, wenn die vergleichsweise preiswerte Atomenergie wegfalle. Energie aus Erdgas sei nur dann eine Alternative, wenn man die Emissionen unbeachtet lasse, die bei Förderung und Transport anfielen. Rechne man diese ein, so einige Gesprächspartner, seien fossile Gase schmutziger als die Braunkohle.

Spätestens bis 2023 soll auch das letzte Atomkraftwerk stillgelegt sein. Vor diesem Hintergrund zweifeln viele Befragte an der Machbarkeit eines baldigen Ausstiegs aus der Braunkohle. Wind- und Solarenergie seien erstens gegenwärtig nicht in der Lage, den gesamten Bedarf zu decken, zweitens gebe es nicht genügend Speicherkapazitäten, um wetterbedingte Schwankungen in der Stromversorgung überbrücken zu können. So werde mit Blick auf Wind- und Solarenergie meist nur über deren potenzielle Kapazitäten geredet, nicht aber über die tatsächliche Auslastung und Stromproduktion, die teilweise deutlich unterhalb der Potenziale liege. Unabhängig von der Befürwortung oder Ablehnung ökologischer Motive sind nahezu alle Befragten der Überzeugung, dass der Braunkohleausstieg technisch nicht funktionieren könne. Einige Beschäftigte prognostizieren deshalb den Import fossiler Energie aus dem Ausland:

"Wir steigen aus der Steinkohle aus, Atom und Braunkohle, das sind 75 Prozent der Stromproduktion in Deutschland. Und wo soll das herkommen? Das muss mal einer den Leuten erklären. Das kann ja nur aus dem Ausland kommen. Und was nützt uns das dann, wenn dann ein altes Kohlekraftwerk in Rumänien weiterläuft, und wir machen unser neuestes hier zu? Na, das kann es doch auch nicht sein, das ist für mich alles scheinheilig und verlegen, [...] das erzeugt doch Frust bei den Leuten." (Interview 15)

Die meisten Befragten signalisieren prinzipiell Verständnis für einen - wenn auch später gewollten - Ausstieg aus der Kohle. Eine Minderheit äußert sich hingegen grundsätzlich 'klimaskeptisch' und sieht bei der Braunkohleförderung keinen akuten Handlungsbedarf. Der Zusammenhang von anthropogenem Klimawandel und CO2-Emmissionen sei bislang nicht bewiesen. Außerdem bleibe der Anteil von nicht natürlich emittiertem CO2 verschwindend gering:

"Wissen Sie, wie viel CO2 in der Luft ist? [Interviewer: Ich weiß es nicht.] Es sind 0,038 Prozent. [...] 0,04, so! Davon sind mindestens 95 Prozent natürlichen Ursprungs. Und von diesen fünf Prozent, die menschengemacht sind, macht Deutschland zwei bis fünf Prozent, die Angaben schwanken so ein bisschen, da sind wir bei fünf oder sechs Stellen hinterm Komma. Da sind wir bei Deutschland. Und Deutschland ist ja nicht nur Kraftwerk Jänschwalde oder Braunkohle Emissionen, CO2 ist ja deutschlandweit zu sehen [...]. Das sind Beträge - das grenzt an Homöopathie!" (Interview 18)

Andere wiederum weisen diese Sicht klar zurück ("Nur weil ich in der Kohle arbeite, muss ich ja jetzt nicht den Klimawandel leugnen. Ich kann mir der Tatsache ja auch bewusst sein", Interview 1). Was eine solche Position, die von einer Minderheit im Sample vertreten wird, politisch impliziert, liegt allerdings auf der Hand: Die Braunkohleförderung soll weiterlaufen, der geplante Ausstieg wird als ideologisch motivierter Angriff einer verblendeten und nicht auf Fakten basierenden (Bundes-)Politik zurückgewiesen. Der entsprechenden Politik wird daher jegliche Legitimität abgesprochen.

3. Die Erfahrungen der 'Wende' spielen eine große Rolle

Die Skepsis gegenüber Zukunftsprojekten, wie sie die Kohlekommission vorschlägt, ist bei vielen Befragten untrennbar verbunden mit den Erfahrungen der sogenannten 'Wende'. Ein großer Teil der Belegschaft, deren Altersdurchschnitt bei über 50 Jahren liegt, hat diesen Umbruch selbst miterlebt. Viele haben ihn als radikalen Strukturbruch erlebt - manche in der eigenen Biographie, andere bei Kollegen und Verwandten oder in der Region insgesamt. Zahlreiche Beschäftigte verloren dabei ihre Arbeitsplätze, für noch vorhandene Beschäftigungsmöglichkeiten galten sie als 'überqualifiziert'. Teilweise wurden auch ihre in der DDR erworbenen Abschlüsse nicht anerkannt. Die Arbeit in der Kohle, berichten einige, galt damals als vergleichsweise sicher - Energieproduktion bräuchte es schließlich immer. Letztlich seien die Leute aber "zum Teil mörderisch hinters Licht geführt" werden, als ihnen vonseiten der Regierung berufliche Sicherheit und blühende Landschafen versprochen worden seien, erklärt ein Befragter rückblickend (Interview 18). Und während zwar durchaus auch Verbesserungen während und nach dieser Zeit geschildert werden - die Arbeitssituation speziell in der Kohle beispielsweise habe sich auch technologisch verbessert, sagen einige -, überwiegt die Sorge vor Arbeitsplatzverlusten, unsicheren Perspektiven für die Region und fehlenden Chancen für die nachwachsende Generation.

Denn seit fast 30 Jahren, so wird es geschildert, erleben die Bewohner der Lausitz, dass seit der 'Wende' geplante und versprochene Strukturprojekte genannt werden zum Beispiel eine Chipfabrik und das Cargolifterwerk - entweder nie realisiert wurden oder aber innerhalb weniger Jahre gescheitert seien: "Wir haben ja schon vieles erlebt, was alles versprochen wurde..." (Interview 15). Ein Befragter bringt eine offenbar in der Belegschaft verbreitete Sicht wie folgt auf den Punkt:

"Wir sind der Osten. Was ist hier passiert seit der Wende? Rückbau, Zumachen. [...] Die Leute, die jetzt noch da sind, die haben den zehnten Personal- und Pseudostrukturwandel hinter sich, wo man gesagt hat, wie sagen sie so schön? Blühende Landschaften nach der Wende. Nüscht ist" (Interview 10).

Viele Beschäftigte hegen darum die Sorge, dass sich mit dem Braunkohleausstieg einiges dessen wiederholt, was nach der 'Wende' geschehen ist. Die über 50 Jahre alten Befragten gehören zu den wenigen "Wendegewinnern" (Interview 3), die es nach den harten 1990er Jahren beruflich geschafft haben und ihre gut bezahlten, unbefristeten Arbeitsplätze behalten konnten. Sie alle kennen jedoch Verwandte und Bekannte, denen es deutlich schlechter ergangen ist. Die wiedergewonnene Stabilität und Sicherheit in der Region sehen diese Befragten nun durch den erneuten Strukturwandel abermals bedroht. Häufig gilt die Sorge nicht der eigenen Person, sondern der Zukunft der nachwachsenden Generation und der Region insgesamt. Eine "zweite Wende" drohe, die das Erreichte wieder infrage stelle:

"Das ist damals genauso ungeordnet abgelaufen, wie es jetzt anscheinend wieder ablaufen soll. Natürlich muss man daraus was lernen. Man kann nicht so viele Menschen ins Bodenlose fallen lassen. Ansonsten gehen die wieder alle in den Westen und damit ist uns nicht geholfen. Wir brauchen hier keine leeren Landschaften." (Interview 14)

4. Abwertungserfahrungen und Medienkritik

Für viele Befragte geht damit auch die Erfahrung einher, in mehrfacher Weise öffentlich abgewertet zu werden. Erstens als Bürger der neuen Bundesländer: Befragte mit Wendeerfahrung sehen sich zu großen Teilen nicht nur materiell benachteiligt, sondern auch kulturell stigmatisiert. Zweitens als Bewohner der Lausitz: Man selbst, so die Haltung einiger, sei bodenständig und möchte nicht wegziehen, zugleich erlebe man aber, wie die soziale Infrastruktur bröckele und Zusammenhalt erodiere. Und drittens als Beschäftigter der Kohleindustrie: Der ausgeprägte Berufs- und Produzentenstolz trifft auf eine Öffentlichkeit, die Arbeitstätigkeiten im Revier mit "schmutzigen Jobs" gleichsetzen würden.

Diese Erfahrung wird durch eine als unfair empfundene Medienberichterstattung verstärkt und bedingt eine zum Teil harsche Medienkritik. Die Perspektiven und Interessen der LEAG-Beschäftigten kommen, so jedenfalls ist die Wahrnehmung, in der Öffentlichkeit kaum vor, während die Anti-Kohle-Proteste deutlich größere Aufmerksamkeit bekämen. Kohlestrom und Energiewende würden "nicht objektiv betrachtet" (Interview 12). Man selbst fühle sich durch die Medien "unfair behandelt" (Interview 2), es habe eine "typische Meinungsmache" (Interview 4) gegen die Braunkohle und die Beschäftigten gegeben. Die Kohle sei "ja als der Bösewicht abgestempelt" worden (Interview 16), während "der angebliche Grünexperte [...] stundenlang reden" dürfe (Interview 15).

Besonders groß ist die Enttäuschung über die lokale und regionale Presse, die nicht "im Sinne der Region" berichte (Interview 10), sondern gewissermaßen die privilegierte Sicht der Metropolen übernommen habe (Interview 14). Die Demonstrationen der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE), an denen Tausende von Menschen teilgenommen hätten, seien in Presse und Fernsehen nur kurz erwähnt worden: "Wir spielten gar keine Rolle. [...] Es war gar nicht der Rede wert. Über den Hambacher Forst hat man, ich weiß gar nicht wie viele Monate, berichtet" (Interview 11). Da die Kohle einseitig als "dreckig", "böse" (Interview 3) und "schlecht" (Interview 4 und 3) dargestellt werde, "sagt [man] ja fast schon gar nicht mehr, dass man in der Kohle arbeitet" (Interview 10) und müsse sich dafür "ja fast schämen, was traurig ist" (Interview 1). Erst seitdem der Kompromiss der Strukturkommission vorliegt, sei die Berichterstattung etwas ausgewogener geworden und behandele auch zuvor nicht thematisierte Probleme wie etwa die Volatilität der erneuerbaren Energien oder die Schwierigkeit der Deckung des Energiebedarfs.

Die Medienberichterstattung zur Braunkohle und zum Strukturwandel verstärkt darum bei einem Großteil der Befragten das Gefühl, dass ihre Interessen als Beschäftigte der Kohle in der Öffentlichkeit nicht nur zu wenig vorkommen, sondern sogar abgewertet werden. Und das, obwohl die LEAG-Belegschaften mit dem Strom etwas produzieren, "was jeder Bürger braucht" (Interview 15). Aus dieser Erfahrung speist sich das grundlegende Gefühl, nicht (mehr) anerkannt, nicht mehr wertgeschätzt zu werden, wie ein älterer Beschäftigter erklärt:

"In DDR-Zeiten, da waren wir die Helden der Nation, das wurde ja immer so gesagt Und jetzt sind wir die Deppen oder die Bösewichter der Nation, weil wir mussten uns ja schon beschimpfen lassen als Nazis, als Mörder, als Umweltverpester und ich weiß nicht was alles! [...] Und das schmerzt" (Interview 18)

5. Der Blick auf Klimaproteste und Kohlegegner

Vor diesem Hintergrund verwundert kaum, dass die Befragten den Kohlegegnern und Klima-Bewegungen wie etwa "Ende Gelände" nicht allzu wohlgesonnen sind. Ihre Anliegen, so der Tenor der meisten Gespräche, seien zwar prinzipiell legitim und nachvollziehbar. Ihr konkretes Auftreten und Vorgehen verstärkt jedoch bei vielen das Gefühl der politisch motivierten Abwertung und Stigmatisierung, bei der nicht zwischen "der Kohle" an sich und den Arbeitern bzw. Beschäftigten der Industrie unterschieden werde. Die Klima-Aktiven werden daher oftmals, so lässt es sich zuspitzen, als aktivistischer Arm des vermeintlich grünen Zeitgeists empfunden, der mit Regelbrüchen und ohne Rücksicht auf die Situation der Region agiere. "Mit der Brechstange die grüne Ideologie durchzusetzen finde ich nicht in Ordnung", formuliert das etwa ein Befragter (Interview 15).

Während friedliche Demonstrationen durchaus als legitim angesehen werden, lehnen die Beschäftigten militantere Aktionen wie Blockaden, Besetzungen oder Sachbeschädigungen größtenteils klar ab: "Wir leben in einem Rechtsstaat und es gibt Rechte und Pflichten für jeden Bürger. Und deswegen: Protest ja, aber nicht in der Form" (Interview 13). Insbesondere die Aktionen im Rahmen der "Ende Gelände"-Proteste, wie die "Erstürmung" des Kraftwerks Schwarze Pumpe, werden als Beispiele für unangemessene Aktionen genannt und mitunter als eine "Art von Terrorismus" beschrieben:

"Ich finde es ja gut, wenn man was bewirken will, dass man auch Extreme nutzt. Aber diese Extreme dürfen meiner Meinung nach nicht in eine Art von Terrorismus münden. Denn manche Sachen kann man nur als Terrorismus eigentlich bewerten. Wenn ich da an die Bilder denke, [...] wo irgendwelche Gegner, sage ich mal, gegen die Kohle, auf Schwarze Pumpe die Zäune eingerissen haben und auf das Gelände gegangen sind." (Interview 9)

Kritisiert wird vor allem, dass die Klima-Aktivisten von außerhalb der Region kämen und kein Verständnis sowohl für die technischen Herausforderungen des Kohleausstiegs wie auch die Lage der lokalen Bevölkerung oder der Region aufbringen würden. Einige sprechen sich in den Interviews für ein härteres Durchgreifen der Polizei gegen die Aktivisten aus. Das auch, weil in ihren Augen doppelte Maßstäbe angelegt werden würden: Sie selbst müssten sich strikt an Recht und Ordnung halten, im Zweifelsfalle auch noch die Aktivisten - etwa bei Besetzungen auf dem Betriebsgelände - vor Unfällen bewahren. Letztere könnten sich hingegen Gesetzesübertretungen erlauben, weil die Öffentlichkeit auf ihrer Seite stehe. In der Wahrnehmung vieler Befragter richtet sich der Protest der Kohlegegner unmittelbar gegen die Beschäftigten selbst und werte ihre Arbeits- und Lebensleistung ab. Das führt zu sehr emotionalen und mit Frust unterlegten Äußerungen über die Kohlegegner:

"Das kriegt man einem Mitarbeiter [nicht vermittelt], der hier 30 Jahre lang seine Gesundheit durch Schichtarbeit zugrunde oder zu Markte getragen hat, dafür gesorgt hat, dass, wenn ich nachts um drei aufstehe, meinen Kühlschrank aufmache, das Licht angeht und ich mache ihn wieder zu, ist auch gut, ja - und der muss sich jetzt von solchen Schnöseln, die noch nie in ihrem Leben eine Arbeit, eine Tätigkeit ausgeführt haben, einen Mehrwert geschaffen haben oder was weiß ich, aufgrund ihrer Ideologie der Meinung sind, sie müssen uns hier plattmachen. Also da dann ruhig zu bleiben, ist nicht ganz einfach. [Interviewer: Also der Unmut ist da schon groß?] Der ist riesengroß! Der ist unbeschreiblich. Und dass es da noch zu keinen, ja, wie soll ich sagen, Vorkommnissen [kam] grenzt an ein Wunder." (Interview 18)

Und mitunter mischen sich solche Sichtweisen mit einem Gefühl der Abwertung der gesamten Region:

"Und irgendwie haut das auch jedem in der Region hier, gibt das so einen Arschtritt einfach nur. Weil die halt einfach nicht anerkennen, dass das hier in der Region ein wichtiger Industriezweig ist und wenn man den sofort abschaltet, ist es hier nun mal dunkel." (Interview 16)

Einiges Unverständnis bringen einige Befragte auch den Umweltverbänden der Kohlekommission entgegen, die nach ihrer Ansicht ein doppeltes Spiel spielen würden. So seien direkt nach Vorstellung des Kommissionsberichtsweitere Protest- und Blockadeaktionen durchgeführt werden, obwohl doch die an der Kommission beteiligten Umweltverbände dem Bericht zugestimmt hätten:

"Für mich ist jetzt der Punkt gekommen, wo ich sage, das kann jetzt nicht mehr euer Ernst sein, dass ihr auf Bagger klettert, eine Woche nachdem dieser Kompromiss da ist, wieder raufzuklettern und wieder zu fordern, wir müssen doch sofort aussteigen, obwohl Umweltverbände in Berlin mit am Tisch saßen. Das ist, ehrlich gesagt, einfach nur noch frech. (Interview 16)

Deutlich wird dann auch, dass "die" Klima- und Ökobewegung von den Interviewpartnern als relativ einheitliches Lager wahrgenommen werden, das von den Grünen bis zu "Ende Gelände" reicht. Unterschiede werden dabei kaum ausgemacht, und soziale Berührungspunkte mit Klima-Aktivisten jenseits der Protestaktionen scheint es nicht zu geben.

6. Politische Interessenvertretung - und rechte Mobilisierung?

Könnte der geschilderte Unmut von rechts aufgegriffen werden und etwa zu Mobilisierungserfolgen für die Am führen? Zum Zeitpunkt der Erhebung lag die AfD in Wahlumfragen für Brandenburg bei 19 Prozent. Auf Bundesebene wie in der Lausitz präsentiert sich die Partei als radikale Gegnerin des Kohleausstiegs und der gesamten Energiewende. Dass LEAG-Beschäftigte ihren Frust über die Regierungsparteien auf Landes- und Bundesebene zum Ausdruck bringen, indem sie Sympathie für die radikale Rechte äußern oder ihren Protest mit der Wahl der AfD zum Ausdruck bringen, schien daher nicht ganz abwegig.

Ganz so einfach ist es aber nicht. Im Sample findet sich die ganze Bandbreite (partei-)politischer Neigungen, nur die Grünen werden einhellig abgelehnt. Viele Befragte halten von der AfD wenig bis nichts. Die Partei gilt als zu radikal, politisch konzeptlos und populistisch. Ihre Wahl scheint im Feld der untersuchten Braunkohlebetriebe weitgehend tabuisiert zu sein. Offen bekennende AfD-Wähler gibt es im Sample keine, auch wenn manche durchaus Sympathien für eine Politik rechts von der Christdemokratie bekunden.

Ein Teil der Befragten lehnt die Politik der AfD prinzipiell ab und bringt die Sorge über das Erstarken rechtspopulistischer und rechtsradikaler Kräfte deutlich zum Ausdruck. Das sehen aber auch nicht alle so. Ein Interviewpartner, zuvor nach eigenen Angaben CDU-Stammwähler, verweist zum Beispiel auf die Pro-Kohle-Positionen der AfD und gibt an, mit Blick auf die anstehenden Wahlen (gemeint war die Landtagswahl am 1. September 2019), erstmals nicht mehr zu wissen, ob und wen er wählen soll:

"Ich bin zum ersten Mal fast vor der Entscheidung zu sagen: Ich gehe nicht wählen. Wen soll ich denn wählen? Aus Protest müsste ich AfD wählen. Das sehen viele so. Das haben sie geschafft, die haben die Mitte der Gesellschaft dahin gedrückt. Weil die Mitte der Gesellschaft denkt eben: Ich gehe auf Arbeit, um meine Familie durchzubringen, und hier weiß ich, dass dieses Kraftwerk jeden Tag gebraucht wird" (Interview 10)

Wo Sympathien für die AfD bestehen, beruhen sie aber nicht bloß auf der Haltung der Partei zur Braunkohle. Die gesamte politische Entwicklung der letzten Jahre Spielt dabei eine Rolle. Ein Befragter erklärt rechtspopulistische Orientierungen, die er innerhalb der LEAG-Belegschaft erlebt hat, wie folgt:

"Richtung AfD sind sie [die Kollegen, d. A.] nicht nur wegen dieser Kohle, die sind auch Wirklich mit der ganzen politischen Lage oder mit dieser ganzen politischen Abstimmung, was hier gegangen ist die letzten Jahre, nicht mehr zufrieden. Die sagen einfach: 'Wozu geh ich arbeiten? Hier kommen Millionen von Leuten rein, kriegen das Geld, ich geh für die, auf gut Deutsch gesagt, arbeiten, meine Steuergelder werden dort ausgegeben.' Deswegen ist auch wirklich die Ansage, die wählen die AfD. Oder in die Richtung." (Interview 8)

Dass sich diese Tendenzen, wo sie bestehen, bislang nicht offen(er) artikuliert und womöglich radikalisiert haben, dürfte nicht zuletzt an der sozialen Bindekraft des betrieblichen Miteinanders und insbesondere der Gewerkschaft, in der die Wahl der AfD tabuisiert wird, liegen. Es sind diese sozialen und organisatorischen Zusammenhänge und die in ihnen produzierten Deutungshoheiten, so der Eindruck aus der Untersuchung, die bei der politischen und ideologischen Auseinandersetzung mit rechten Positionen eine besondere Rolle spielen.

Schluss

In der Auseinandersetzung um den Kohleausstieg, das zeigen die Interviews der Untersuchung sehr deutlich, geht es um mehr als nur die technischen oder ökonomischen Aspekte des Abschieds von der Kohleverstromung. Vor Ort wird sie - zumindest von den Interviewpartnern der LEAG - auch als eine erlebt, in der Zukunft und Ansehen der ganzen Region samt ihrer sozialen und soziokulturellen Dimension verhandelt werden. Das heißt nicht, dass Argumente, die für den Kohleausstieg sprechen, deshalb nicht zur Kenntnis genommen oder geteilt würden. Und es gibt auch in der Region Befürworter des Ausstiegs. Gleichwohl symbolisiert 'die Kohle' hier für viele, vor allem die unmittelbar Beschäftigten der Industrie, nicht nur berufliche Perspektiven und Sicherheit, sondern damit auch den Erhalt sozialer Netze, von Heimat und Zusammenhalt.

Auf entsprechend ablehnende Reaktionen stößt daher eine öffentliche Debatte und Auseinandersetzung, die bei Beschäftigten der Kohleindustrie den Eindruck erweckt, persönlich für die ökologisch schädlichen Folgen und den CO2-Ausstoß der Braunkohleverstromung verantwortlich gemacht und moralisch abgewertet zu werden. Eine solche Wahrnehmung kann denn auch zu einer verstärkten Identifikation mit dem Unternehmen führen, das dann - gemeinsam mit einer sozialpartnerschaftlich ausgerichteten Gewerkschaft - als Interessenvertretung gegenüber der Politik und den Medien verstanden wird.

Soll die Auseinandersetzung also keine weitere Dynamik in Gang setzen, in der die sozialen und ökologischen Fragen des Kohleausstiegs als etwas begriffen werden, das sich scheinbar wechselseitig ausschließt, ist ein produktiver Austausch von Klima-Bewegung und Lohnabhängigen unerlässlich, und ein solcher müsste abseits der offiziellen Politik organisiert werden. Auf Seiten der Klima-Bewegung und z.B. "Ende Gelände" ist dafür ein klares Bewusstsein über den Gegensatz von Kapital und Arbeit unerlässlich: Nicht "die" Lohnabhängigen der Kohleindustrie sind verantwortlich für den CO2-Ausstoß der Braunkohle (unabhängig davon, wie sie selbst darüber denken) - sondern das Kapital, das ihren Abbau und ihre Verstromung in Auftrag gibt.


Anmerkungen

[1] Der Text ist eine Zusammenfassung des Beitrags "Braunkohle im Lausitzer Revier - Sichtweisen von Beschäftigten", der im Juni bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlicht wurde. Für den Originalbeitrag siehe: Rosa-Luxemburg-Stiftung (Hrsg.): Nach der Kohle. Alternativen für einen Strukturwandel in der Lausitz. Berlin, 2019. Online:
https://www.rosalux.de/publikation/id/40518/nach-der-kohle/.
Zur Forscher- und Autorengruppe der Friedrich-Schiller-Universität Jena, die ihn erstellt hat, gehören Sophie Bose, Jakob Köster, Nelson Dörre, Armin Szauer und der Autor, Projektleiter war Klaus Dörre. Die Ergebnisse und der Originaltext beruhen auf kollektiver Arbeit - die vorliegende Kurzfassung, die in wesentlichen Teilen mit dem Originaltext identisch ist, verantwortet jedoch der Autor allein.

[2] Siehe den Beitrag von Axel Troost in diesem Heft.

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Quelle:
Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 119, September 2019, Seite 68-77
Herausgeber: Forum Marxistische Erneuerung e.V. und IMSF e.V.
Redaktion: Postfach 700346, 60553 Frankfurt/M.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Oktober 2019

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