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WILDCAT/019: Ausgabe 86 - Frühjahr 2010


Wildcat 86 - Frühjahr 2010



Inhalt:
Editorial
Krise
Die Iranische Revolution 1979
Can anyone say communism?
"Außerordentliche Geschwätzigkeit"
Buchbesprechung Thomas Seibert: Krise und Ereignis
Privatinitiative!
Gespräch mit Aktivisten aus dem Bremerhavener Komitee
Autoindustrie: Hybridmotor oder Klassenkampf
Das Ende des "Massenarbeiters" im Stuttgarter Raum
Vorsichtige Rückkehr des Klassenkampfs in Tschechien
Kämpfe in der Autoindustrie in Spanien
(Bummel-)Streik im öffentlichen Nahverkehr in Budapest
Bons oder Boni?
Interview Komitee "Solidarität mit Emmely"
Scheißstreik
Selbstgemachte überregionale Orientierung
Rosarno, Europa
"Die Mandarinen und Oliven fallen nicht vom Himmel"
"Shut it down!"
Bewegung an den kalifornischen Hochschulen
Pathways - Giovanni Arrighis Verschlungene Pfade
Antizipierte Autonomie
Buchbesprechung Andrea Gabler: Socialisme ou Barbarie
"Unsolidität ist Kern des kapitalistischen Geschäfts"
Buchbesprechung Winfried Wolf: Sieben Krisen - ein Crash
"Selbstunternehmerische Selbstaktivierung"
Buchbesprechung Geppert/Hartmann: Cluster
Südafrika: Der ANC greift die Bewegungen der Barackenbewohner an
von Curtis Price
Was bisher geschah...
Haiti 1791 bis 1802: Das andere Erdbeben

Raute

EDITORIAL

Nachdem Toyota bereits über 8 Millionen Autos wegen klemmender Gaspedale in die Werkstätten rufen musste, traf es gestern Abend die Prestigehybrids Prius und Lexus wegen Bremsproblemen. Ein Softwarefehler! Als diese Nachricht durchsickert, springen in den USA die Toyota-Aktien um drei Prozent in die Höhe und Anwälte bereiten Sammelklagen vor. Heute Mittag dann diese Meldungen:

- Opel beantragt 2,7 Mrd. Euro Staatshilfe in Europa, will dafür 8.300 von 48.000 Arbeitsplätzen streichen und bis 2014 11,5 Mrd. investieren.

- Große Rückrufaktion bei Honda.

Das war in Kurzform das halbe Heft: Aktienblase; staatliche Subventionen; Autoindustrie kommt nicht von der Stelle, weil sie gleichzeitig Gas gibt und bremst; nur die Klassenkämpfe können was reißen, die sind mindestens so hybrid wie die EU; ob das ein Vorteil oder ein Nachteil ist, haben wir mit Interviews zu erkunden versucht.

Heute morgen hat das BVG die HartzIV-Regeln abgewatscht, heute abend beschloss die BRD, "Griechenland zu retten", dort streiken morgen die Beschäftigten von Behörden, Schulen, Unis und Krankenhäusern gegen die damit verbundenen Sparpläne, alle Flüge fallen aus, übermorgen berät die EU auf dem Wirtschaftsgipfel in Brüssel über "Griechenland".

Während wir in Druck gehen, bereiten sich im Iran alle auf den Jahrestag des Februaraufstands 1979 vor. Am 11. Februar erinnern jedes Jahr große Demonstrationen an den Sieg über den Schah. In diesem Jahr hat das Regime dem staatliche Fernsehen verboten, historische Fotos von 1979 zu senden, ließ zwei junge Männer hängen, kündigte neun weitere Hinrichtungen an, ließ 500 Menschen verhaften, um im Vorfeld Angst und Schrecken zu verbreiten.

Und am 14. Februar beginnt in China das Jahr des Tigers (siehe Seite 79 - auf Symbolik achten!).

Eigentlich wären wir froh gewesen, ein paar Tage später zu erscheinen, in solchen Zeiten sollte monatlich eine Wildcat erscheinen! Mindestens!

Stuttgart, 9.2.2010


*


It's the eye of the tiger

Nominal ist China im vierten Quartal 2009 laut amtlicher Statistik um sage und schreibe 26,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gewachsen. Die Kreditausweitung war im Januar nochmal höher als in den letzten drei Monaten des vergangenen Jahres. Das macht sich mittlerweile in einer steigenden Inflation bemerkbar. Überall wachsen Spekulationsblasen, ein Extrembeispiel: auf der Touristeninsel Hainan stiegen die Immobilienpreise im Januar in nur zehn Tagen um durchschnittlich 18 Prozent. Die Regierung macht zwar Anstalten, der Überhitzung entgegenzusteuern, traut sich aber nicht, die Zins- und Währungspolitik gravierend zu ändern oder den Immobiliensektor stärker zu regulieren. Das würde die "Erholung" gefährden und womöglich sogar zu Panikreaktionen und Crashs führen, wie im Sommer 2009. Je weiter solche Maßnahmen aber verschoben werden, um so heftiger werden die Auswirkungen platzender Blasen später werden.

Auf den folgenden Seiten gucken wir uns nochmal die Vorgeschichte und den bisherigen Verlauf der globalen Krise an, denn die nächsten Monate entscheiden darüber, ob der Dominoeffekt eines Staatsbankrotts die dritte Welle auslöst, oder ob sie das abwenden können und die US-Bondblase erst nächstes Jahr platzt. Entscheidend sind dabei die Kämpfe gegen die nun deutlich werdenden radikalen Spar- und Lohnsenkungsprogramme. (Wir empfehlen ausdrücklich, die Krisenartikel in den letzten Heften der Wildcat zu lesen, da wir auf knappem Raum nicht noch mal von Null anfangen konnten!)

Thesen zur globalen Krise Wildcat 83, Frühjahr 2009
"Globale Krise" Wildcat 82, Winter 2008/2009
Das Ende von Chimerica Wildcat 85, Herbst 2009

Überhaupt der Platz. Wir hatten mehr Platzprobleme als sonst, haben einiges stark gekürzt, lagern einiges ins Web aus, mussten ein paar Artikel aufs nächste Heft schieben - und trotz 84 Seiten hat's mal wieder nicht für üppiges Layout gereicht. Sorry! Wir hoffen, Ihr findet Euch durch! Hier sind ein paar Handreichungen:

Den Artikel zur iranischen Revolution 1979 (S.12) wollten wir eigentlich vor einem Jahr zu ihrem 30jährigen Jahrestag bringen. Seither haben wir bestimmt 20mal drüber diskutiert, ihn immer wieder umgeworfen und neu geschrieben; und in der jetzigen Fassung kommen zwei Aspekte viel zu kurz: der Februar-Aufstand 1979 und die Arbeiterräte... vielleicht im nächsten Heft. Das wäre auch deswegen wichtig, weil seit 1979 die Perspektive einer weltweiten Revolution praktisch abhanden gekommen ist. 1979: die Maoisten verzweifeln am Krieg zwischen Vietnam und Kambodscha und gründen Kap Anamur; die radikale Bewegung gegen Atomkraftwerke wird mit der Gründung der "Grünen Partei" enteignet und in Parlamentarismus überführt; 1979 war aber auch der Aufstand in Mekka, der niedergeschlagen wurde, die Revolution in Nicaragua, im Iran... und schließlich machte der neu ernannte Präsident der Federal Reserve mit irrsinnigen Zinserhöhungen den Sack zu: der "Volckerschock" führte zu einem weltweiten Abbremsen. Es ist nicht zuviel behauptet, dass 1979 die Weichen für den Rest des Jahrhunderts gestellt wurden.

Der Iranartikel will auch nochmal klarmachen, dass die unterdrückten Potentialitäten von 1979 im Iran bis heute fortwirken und zur jetzigen Blockade des politischen Systems führen. Denn in einem sind sich Regierung und die Führer der Oppositionsbewegung einig: Keine Seite will Revolution. Beide fürchten, hinweggefegt zu werden. "Noch vor kurzem stritten sich Regime und Opposition, wer die wahren Sachwalter der 1979er Revolution seien... Diese Frage scheint der Vergangenheit anzugehören. Die heutige Fragestellung: Schaffen es die Iraner, die Risiken eines Bürgerkriegs zu umschiffen?" schreibt die FR. Die riots im Dezember waren eine Wasserscheide, alle "politischen Kräfte" haben sich von der "Gewalt" distanziert. Die Opposition fordert auch deshalb nun so vehement die "Trennung von Religion und Staat", weil sie Angst bekommen haben, dass Religion und Staat im Zorn der Unterdrückten untergehen. So bekäme die Region (auch die Welt) wirklich ein anderes Gesicht!

They stack the odds 'til we take to the street

Mitten in der größten Umverteilung von unten nach oben in der Geschichte der Menschheit - die der Deutsche Bank-Chef Ackermann durch einen dauerhaften Rettungsfonds für Banken auch noch institutionalisieren will - forderte der gut bezahlte Sesselfurzer Sloterdijk die Abschaffung des "Steuer- und Sozialstaats". Die Linke hat auf seinen Vorstoß so dermaßen was von defensiv reagiert, dass man sich ernsthaft fragen muss, ob der Begriff "links" jenseits von Parlamentsgedöhns überhaupt noch Sinn macht. Axel Honneth hat in seiner Antwort "links" mit dem "Sozialstaatsprinzip" verschweißt - somit wären die Linken dann diejenigen, die den kapitalistischen Sozialstaat verteidigen... Ähnlichen Mist liest man bei Winfried Wolf (S. 70). Ganz schlau kommt sich Thomas Seibert (S. 24) vor, er will Sloterdijk seine tollen Begriffe "entwenden". Die Interventionistische Linke hat von den Antideutschen gelernt, einfach immer großmäulig das Gegenteil von dem zu sagen, was man macht. Speziell gut, ihr Diskursvorturner Seibert, er will die Kommunistische Partei aufbauen. Da haben wir uns dann auch mal ein paar Gedanken zu Kommunismus heute gemacht (S. 19).

Don't lose your grip on the dreams of the past

Der Selbstmord von Torwart Enke machte Mitte November für ein paar Tage lang Ohnmachtsgefühle, Depressionen und Leistungsterror zum öffentlichen Thema, das aber nach ein paar Tagen wieder in der Versenkung verschwand. Wesentlich länger hält die Emmely-Kampagne durch, in der sich Wut gegen Entlassungen und überhaupt gegen Ungerechtigkeiten bündelt (S. 47). Gleich im Anschluss an das Interview mit einem Aktivisten dieser Kampagne kommt ein Aktivist des Scheißstreiks zu Wort (S. 50)" Wie können wir überhaupt im Pflegebereich streiken? Selbstgemachte überregionale Organisierung.

Laut Arbeitgeber hat die Produktion in der Metall- und Elektroindustrie der BRD um ein Drittel abgenommen, die Beschäftigung um 7 Prozent - die Kurzarbeit, eine Erfolgsgeschichte? Alle davon Betroffenen, mit denen wir geredet haben, erzählen von massiver Arbeitsverdichtung. "Die Lohnsenkungen sind schon mit dem Beschäftigungssicherungstarifvertrag der IGM 2005 gelaufen." (S. 34) Auch Börsenblatt, Handelsblatt, Financial Times Deutschland, Wirtschaftswoche usw. erkennen an, dass sich die Gewerkschaft im Boom gewaltig zurückgehalten hat und in der Krise bisher äußerst kooperativ war. Was sich nicht mit HartzIV erklärt, umgekehrt: HartzIV wäre nie durchgegangen ohne die aktive Unterstützung der Gewerkschaften; es war ihre Entscheidung, einerseits weil viele Gewerkschafter für die damalige Regierungspartei SPD im Parlament sitzen, andererseits weil man - immer wieder und gegen alle historische Erfahrung - hoffte, die Kernbelegschaften zu retten, indem man die Ränder zum Abschuss frei gibt.

Hybridmotor oder Klassenkampf (S. 30) versucht eine Bestandsaufnahme der Autoindustrie.

Had the guts, got the glory

In den Küstenstädten im Norden tut sich einiges. Im Interview mit Leuten vom Komitee aus Bremen und Bremerhaven erfahren wir mehr. (S. 26)

Wenn Griechen, Iren, Balten... sich gegen die radikalen Sparprogramme auflehnen, kracht das europäische Kartenhaus zusammen. Die Streiks in Griechenland graben bereits den Euro an. Die osteuropäische Arbeiterklasse hat in der Krise nicht aufgehört zu kämpfen - siehe Ungarn (S. 46), auch in Tschechien tut sich wieder was (S. 44); siehe vor allem Polen, darauf werden wir im nächsten Heft zurückkommen.

Ein Bericht aus Kalifornien gibt einen Einblick über die dortigen Mobilisierungen an den Unis (S. 60).

Aus zwei Berichten und einer Erklärung afrikanischer Arbeiter/innen aus Rosarno (S. 52) S. haben wir einen Artikel über die Ereignisse in Kalabrien zusammengestellt. Hier haben hunderte von MigrantInnen Anfang Januar ihre Wut auf die katastrophalen Ausbeutungsbedingungen und die permanenten Aggressionen und Übergriffe auf die Straße getragen; nach zwei Tagen Demos und Auseinandersetzungen wurden sie von der Staatsmacht abtransportiert - wir erinnern uns an Hoyerswerda...

In Italien hat sich eine Koordination für den Streik der migrantischen Arbeit gegründet. Sie versuchen, einen Streik am 1. März zu organisieren. http://www.primomarzo2010.it/ "Ein Streik der migrantischen Arbeit unterstützt von den italienischen ArbeiterInnen wäre die richtige Antwort auf Rassismus und Prekarität! ... Die Situation in Europa ist überall ähnlich. Es ist Zeit, gegen diese Formen der Flexibilisierung durch die EU aufzustehen!" (aus dem Aufruf) Dasselbe wird in Frankreich versucht. Für die BRD stünde ähnliches an!

It's the eye of the tiger, it's the spirit of fight

Raute

Krise: Rückblick und Ausblick

Im Frühjahr 2009 war die Gefahr einer unmittelbaren Implosion des globalen Bankensystems gebannt, und sofort begannen die Aktien einen gewaltigen Höhenflug. Im Herbst war auch die Rezession, statistisch definiert als zwei Quartale mit negativem Wachstum, vorbei. Aber jetzt ist umso deutlicher geworden: Der Kapitalismus steckt in einer langgezogenen Depression. Ihre erste Phase wurde eingeleitet durch den massiven Einbruch des kreditfinanzierten Konsums vor allem in den USA und führte zu einem weltweiten Absturz der Investitionsgüternachfrage. Die Geschwindigkeit des Absturzes war schneller als in der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre.(1) Durch eine gewaltige Liquiditätsschwemme und Konjunkturprogramme - mehr als die Hälfte davon entfielen auf die USA (972 Mrd. Dollar, 7,1 Prozent des amerikanischen BIP) und China (586 Mrd. Dollar, 14 Prozent des chinesischen BIP) - konnte diesmal die Abwärtsspirale der 30er Jahren zunächst verhindert werden; damals hatten Massenentlassungen die Nachfrage nach Konsumgütern implodieren lassen. In der BRD wurde die Situation im Innern vor allem durch die intensive Förderung der Kurzarbeit abgemildert, von außen her hat das chinesische Konjunkturprogramm den Absturz der Exporte verhindert.

Anfang 2010 verlieren die Konjunkturprogramme an Wirkung, die Industrieaufträge gehen zurück, die Arbeitslosenzahlen steigen(2), der Konsum schrumpft. Bereits im vierten Quartal 2009 hatte sich das Wirtschaftswachstum schon wieder verlangsamt, trotz historisch hoher Staatsdefizite! Die Refinanzierung der Staatsschulden beginnt vielerorts aus dem Ruder zu laufen - ausgerechnet jetzt, wo die Zentralbanken den Ausstieg aus ihren Quantitative easing-Programmen vorbereiten und nicht mehr so viel Geld wie bisher drucken wollen.

Historisch gesehen stehen wir da, wo Roosevelt 1937 den New Deal stoppte. Er reduzierte die Staatsausgaben, weil im Boom die Arbeiterklasse zu mächtig zu werden drohte. Deshalb wird heute - richtigerweise - immer gesagt: die Weltwirtschaftskrise wurde nicht keynesianisch überwunden, sondern erst in der Rüstungsproduktion und - fälschlicherweise - draus gefolgert: Krisen führen in den Krieg.

An einem Punkt hat sich die Sache anders entwickelt, als wir es in den letzten Heften der Wildcat beschrieben hatten, der Euro fiel Anfang Februar erstmals seit Mai 2009 unter 1,37 Dollar. Gewöhnlich wird diese Entwicklung mit der hohen Staatsverschuldung der südeuropäischen Länder erklärt (Portugal, Italien, Griechenland, Spanien - was die Wirtschaftspresse flugs zu PIGS-Staaten zusammenfasste; wobei Italien mit einer hohen privaten Sparquote eigentlich ein Sonderfall ist, Irland ist sehr viel stärker verschuldet, manche buchstabieren deshalb PIIGS); deren hohe Refinanzierungskosten drohten, die Eurozone auseinanderzubrechen. Anfang Februar war in etwa so viel spekulatives Kapital an den Terminbörsen auf den Kursverfall des Euro eingesetzt wie im September 2008 auf den Bankrott von Lehman Brothers. »Die Zahlen belegen, dass das Euro-Projekt seine größte Bewährungsprobe überhaupt zu bestehen hat«, sagte ein »Währungsstratege«. Die Dollar-Angst des Jahres 2009 sei einer Euro-Angst gewichen.

Warum entwickelte sich diese massive Spekulationswelle auf den Staatsbankrott südeuropäischer Länder und nicht auf den der USA? Kalifornien muss ebenfalls drei Prozentpunkte Risikoaufschlag gegenüber US-Bundesanleihen bezahlen, kaum weniger als Griechenland. Die Staatsverschuldung der PIGS-Staaten hat ähnliche Dimensionen wie die Kaliforniens. Und die USA insgesamt sind stärker als die EU verschuldet... Offenkundig schätzen »die Märkte« trotz der Mobilisierungen z.B. in Kalifornien (vor allem von MigrantInnen und Studierenden; siehe S. 60) die Klassenkämpfe in Südeuropa als gefährlicher ein (die Rentenreform ging in Portugal nicht durch, Streiks in Griechenland, die tagelange Aufstandssituation im Dezember 2008 ist nicht vergessen...).

Bezeichnenderweise hat der Euro seit Ende Oktober zehn Prozent verloren, ähnlich wie die tschechische und die slowakische Krone sowie der ungarische Forint. Die asiatischen Währungen blieben in dieser Zeit in ihrer Relation zum Dollar und untereinander stabil; es gibt also keine »Erholung des Dollar«, sondern eine Schwäche des Euro. (Übrigens fiel nur der venezolanische Bolivar noch stärker als der Euro - siehe S.79).


Rückblick: Weichenstellungen

Im September 2008 wurden die Weichen gestellt, damit alles so weiter geht wie bisher, nur härter. Winfried Wolf spricht im Kapitel 6 seines Buchs von einem »Doppelschlag« (siehe S. 70), genauer muss man von einem dreifachen Schlag sprechen:

Am 8. September 2008 wurden die Hypothekenfinanzierer Fannie Mae und Freddie Mac auf chinesischen Druck hin nationalisiert - China hatte dort eine halbe Billion Dollar investiert. Die Institute mussten aber auch gerettet werden, weil sonst die globalen Derivatemärkte kollabiert wären. Da auch die Nationalisierung aus Sicht des Kreditderivatemarktes eine Pleite im technischen Sinne darstellte, ist sie das bisher größte Kreditereignis der Geschichte.

Am 15. September ging Lehman Brothers pleite.

Am 16. September wurde AIG gerettet, der zu dieser Zeit weltgrößte Versicherungskonzern. Am 14. September hatte er von der Notenbank Fed einen Überbrückungskredit von rund 40 Mrd. Dollar gefordert. Am 16. September gewährte die Fed 85 Mrd. Anfang November pumpte die US-Regierung nochmal rund 150 Mrd. Dollar in die AIG; das war die größte finanzielle, staatliche Unterstützung für ein privates Unternehmen in der Geschichte. Im vierten Quartal 2008 machte die AIG den höchsten je von einem Unternehmen gemeldeten Verlust von 61,7 Mrd. Dollar.

Die Rettung von AIG rettete das globale Bankensystem vor dem Kollaps: Deutsche Bank, Société Générale, Barclays und UBS; 56,7 Mrd. Dollar wurden direkt an europäische Banken »durchgereicht«. (Zudem hatte AIG fast alle Cross Border Leasing-Geschäfte versichert, mit denen z.B. deutsche Kommunen ihre Infrastruktur verkauft und zurückgemietet hatten.)

Die Rettung der beiden Hypothekenfinanzierer verhinderte den Kollaps des US-Immobilienmarkts und den sofortigen Bruch »Chimericas«. Die Pleite von Lehman Brothers gab einen Warnschuss ab, bereitete den Boden für TARP und ähnliche Programme in anderen Ländern - und brach der gefährlich werdenden Rohstoff-Inflation die Spitze. TARP (Trouble Asset Relief Program) war ein Rettungspaket von 700 Mrd. Dollar zum Aufkauf »notleidender Wertpapiere« (troubled assets) von den Banken. Dieser »Putsch des Finanzkapitals« wurde gegen den Widerstand des Kongresses durchgedrückt - mit den Schockwirkungen der Lehman-Pleite. Durch die Konzentration der Banken und die Vergabe von Nullzins-Krediten konnte die nächste Spekulationswelle beginnen.

Aber um »so weiter zu machen«, wären ununterbrochene Finanzspritzen notwendig. Bis Anfang Dezember waren bereits 111 Mrd. Dollar an staatlichen Hilfen an Fannie Mae und Freddie Mac geflossen. An den Weihnachtsfeiertagen hob das US-Finanzministerium dann sogar die bisherige Obergrenze für staatliche Finanzspritzen von jeweils 200 Mrd. Dollar für die beiden staatlich kontrollierten Institute auf. Ende Januar 2010 kam der Generalinspektor für das TARP, Neil Barofsky, in seinem Bericht zu dem Ergebnis, das TARP habe das Risiko einer noch tieferen Krise des Finanzsystems erhöht. (Amerikas Bankenrettung schafft neue Risiken, FAZ 31.1.2010) Genau das, was behauptet worden war, war nicht gelöst: das »systemische Risiko«.


Grenzen der Regulierung

Quantitative Easing
Im Fiskaljahr 2009 begaben die USA Staatsanleihen im Wert von 1,885 Billionen Dollar. Da niemand die Kapazitäten hatte, ein solches Volumen zu kaufen und China als bisheriger Hauptkäufer dieser Anleihen inzwischen viel vorsichtiger zu Werke ging, hat die Fed klammheimlich im zweiten Quartal fast die Hälfte und im dritten Quartal 30 Prozent der gesamten Emissionen übernommen, also »Geld gedruckt«. Dadurch hat sie ihre Bilanzsumme 2009 ungefähr verdreifacht. Die US-Geldpolitik ist im Kern zum Pyramidenspiel geworden.

Zudem hat die Fed toxische Kreditverbriefungen im Billionenwert in ihre Bilanzen aufgenommen und großzügig Kredite zu Null Prozent Zinsen an die Banken verteilt. Mit diesem Geld konnten die bankrotten Banken dann wieder »arbeiten«. Sie haben sehr viel weniger Kredite als früher vergeben, aber sehr viel mehr spekuliert.

Die Liquiditätsschwemme durch geliehenes Notenbankgeld hat zu einem »schlichten Anlagenotstand« (FTD, 16.12.2009) geführt. Das viele Geld suchte nach Anlagemöglichkeiten. Banken liehen sich Dollar zum Nullzins und steckten es weltweit in Aktien, Rohstoffe, Immobilien und Unternehmensanleihen; somit stiegen diese massiv im Preis. Die Gewinne zwischen März und November 2009 lagen - verstärkt durch die Dollarabwertung in diesem Zeitraum - bei 50 bis 70 Prozent. »Jeder Anleger, der dieses riskante Spiel mitmacht, wirkt wie ein Genie, auch wenn er nur auf einer gewaltigen Blase reitet. ... Diese Politik nährt aber die weltweite Vermögensblase.« (Nouriel Roubini: Die Fed sorgt für eine neue Monsterblase - FTD, 3.11.2009) Diese »perverse Wette auf den Nicht-Aufschwung« (FTD, 16.12.2009) - denn bei einem Aufschwung würden die Notenbanken sofort ihr Geld wieder einsammeln - ist natürlich hochriskant und äußerst brüchig. Dementsprechend herrscht Nervosität, in den letzten Monaten kam es immer wieder zu »Panikreaktionen«, drei Beispiele:


Dubai
Der Immobilienboom in Dubai war noch stärker ausgeprägt als der in den USA und dauerte zwei Jahre länger; auch er war mit verbrieften Hypothekendarlehen finanziert. Im Frühjahr 2009 kollabierten die beiden größten Hypothekenfinanzierer und mussten verstaatlicht werden. Ende November schockierte Dubai mit der Bitte um Zahlungsaufschub für etwa 20 Mrd. Dollar, einer relativ kleinen Summe. Aufgrund der strategischen Bedeutung Dubais (Hafenlogistik und Clearing house für Ölgelder) und der befürchteten »Ansteckung« (Dominoeffekt) brachen weltweit die Aktienmärkte ein. Dubai wurde schließlich Mitte Dezember von Abu Dhabi in letzter Sekunde mit zehn Mrd. Dollar vor der Zahlungsunfähigkeit gerettet. Die globalen Finanzmärkte reagierten erleichtert; die Börse Dubai schoss am selben Tag mehr als zehn Prozent nach oben - immerhin verschafften die zehn Mrd. eine Atempause bis April 2010!


Griechenland, Portugal
Staatsbankrotte in der Folge von Wirtschaftskrisen sind keineswegs selten. Der Dot-com-Crash führte Ende 2001 in Argentinien zum größten Staatsbankrott in der Geschichte; er ist noch in lebhafter Erinnerung. Die Staatsschulden in manchen Ländern sind seit 2007 um mehr als 75 Prozent angewachsen. Deshalb stellte die FTD bereits am 2. Dezember die bange Frage »Erst Dubai, dann Griechenland?« und gab wenige Tage später Alarm, als Ratingagenturen die Bonität von Griechenland herabgesetzt hatten: »Investoren ergreifen die Flucht; griechische Aktien und Anleihen brechen ein; Dax und Euro geben nach.« (FTD, 8.12.2009) Wiederum zwei Tage später durfte Niels Kadritzke, Herausgeber der deutschen Le Monde Diplomatique, in der FTD darüber berichten, dass in Griechenland nichts in die richtige Richtung gehe, weil alle Regierungen »den Zorn der Straße fürchten«; der Streik der Werftarbeiter liege auch erst ein paar Wochen zurück.

Diese Sorge zog sich durch die letzten Wochen: lässt sich die »notwendige Schocktherapie« politisch gegen die Klasse durchsetzen? Dabei wurde die Hetze, alle Griechen seien Schummler, der gesamte Staat korrupt usw., dermaßen heftig, dass sogar der Chefökonom der FTD eine »Ehrenrettung für Griechenland« abgab, schließlich sei »die Krise allein durch griechische Mentalitätsmängel kaum erklärbar«. Noch vor drei Jahren hätten OECD-Ökonomen »geschwärmt, Griechenland habe ‹die zweitbeste Performance aller Industrieländer‹, die Wirtschaft sei dank ‹struktureller Reformen robuster geworden‹, die Etatkonsolidierung komme voran...« Die Regierung habe »entbürokratisiert« und »Elektrizitätswerke und Telekommunikationsbetriebe privatisiert«. Auch habe sich die Staatsquote in Griechenland nicht anders entwickelt als in der BRD. Die Steuereinahmen wurden auf Druck der EU gesenkt; das griechische Außenhandelsdefizit von mehr als zehn Prozent des BIP habe seine Ursache größtenteils im Lohndumping in der BRD. (Thomas Fricke, FTD 5.2.2010) Der Kern der griechischen Krise liegt nicht im Schummeln der Griechen, sondern im Funktionieren der EU: Der Arbeiterklasse in Süd- und Osteuropa müssen die Niederlagen erst noch beigebracht werden, die die Arbeiterklasse in der BRD in den letzten Jahren geschluckt hat.

Die große Aufregung um Griechenland erklärt sich aus diesem Klasseninhalt und dem drohenden Dominoeffekt: ein Staatsbankrott Griechenlands würde Portugal und Spanien mitreißen und wohl auch die eine oder andere europäische Bank, er könnte somit nach der Immobilien- und der Bankenkrise eine dritte große Krisenwelle auslösen. Deshalb muss »Griechenland gerettet« werden - das aber würde weitere Begehrlichkeiten auf Seiten der Klasse (nicht nur in Griechenland!) wecken. Die Klemme ist strukturell dieselbe, wie wir sie im letzten Heft bzgl. China rausgearbeitet haben: ohne Wachstum drohen soziale Unruhen, aber der Versuch, Wachstum zu erzeugen, führt zu Blasenbildung. Der Klassenkampf als Grenze der Regulierung.


Obamas Versuch, die Banken zu regulieren
Wie schmal der Grat zwischen neuer Blase und Regulierung ist, wurde Ende Januar sehr deutlich, als Obama ankündigte, die Banken stärker zu kontrollieren. Wieder kam es zu massiven Kursstürzen an den Aktienmärkten. Denn alle wissen, dass die Kurse nicht so hoch stehen, weil die Unternehmen wieder mehr Profite machen, sondern weil gewaltige Kreditmassen nach Anlagemöglichkeiten suchen.

Natürlich hatte Obama auch innenpolitische Gründe für sein Manöver - die Wähler und sein Unterstützungsnetz waren ihm davongelaufen. Im Kern ging es aber genau darum: die Blasen auf den Aktien- und Rohstoffmärkten anstechen, bevor sie gewaltig wachsen und dann platzen (Mechanismus: am Blasenaufpumpen verdienen Banken und »Investoren«, die Kosten beim Platzen trägt der Steuerzahler). Denn die Staatshaushalte könnten kein zweites Bailout schultern und würden sofort kollabieren.

Obamas Dilemma markiert die strategische Klemme der Regierungen. Zwar hat jeder Deregulierungsschritt das Finanzsystem instabiler gemacht, und die neoliberale Propaganda vom »trickle down«-Effekt hat volkswirtschaftlich nie gestimmt. Es hat nicht funktioniert, die Reichen durch Steuersenkungen noch reicher zu machen, damit von ihrem Tisch was abfällt, sondern die Einkommensschere ging immer weiter auseinander. Aber sozialpolitisch hat es durchaus geklappt, die Klasse damit weiter aufzuspalten, es gab immer ein paar Gewinner (wenn auch oft nur für kurze Zeit, erinnert sei an die »T-Aktie«!). Weiter deregulieren geht nicht, die Zinsen weiter senken geht auch nicht (sie sind für die Banken bereits negativ!), und eine Blase mit so großen »Einkommenseffekten« wie die US-Immobilienblase im letzten Jahrzehnt ist schwerlich vorstellbar.

Es muss also stärker reguliert werden. Das aber entzieht den Zombiebanken die Geschäftsgrundlage. Und ohne den Mechanismus einer Vermögensblase wird die nun einsetzende Exit-Strategie der Notenbanken zum Frontalangriff auf die Klasse - was sie seit der Krise Anfang der 70er Jahre immer zu vermeiden wussten. Wir gehen also extrem spannenden Monaten entgegen!

Ein selbsttragender Aufschwung kann sich nur entwickeln, wenn massenhaft neue Arbeitsplätze entstehen, an denen sowohl Mehrwert produziert wird wie ausreichende Löhne bezahlt werden, um die weggebrochene Nachfrage der »US-Konsumenten« zu ersetzen. Stattdessen ist absehbar, dass zumindest in Europa die eigentliche Welle an Arbeitsplatzabbau erst angefangen hat.

Solche Arbeitsplätze lassen sich auch nicht schaffen, der New Deal ist nicht wiederholbar! Die Versuche der SPD-Regierung in den 70er Jahren, den »Anlagenotstand« durch niedrigste Zinsen und Subventionen zu beheben, »die Pferde zur Tränke zu tragen«, wie es ein SPD-Minister ausdrückte, also die Unternehmer dazu zu bringen, wieder zu investieren, scheiterte und führte zur Stagflation. Die Hoffnung auf Keynes ist aber nicht nur trügerisch, sie ist auch politisch falsch: die keynesianische Periode war die am stärksten staatlich geprägte und von oben kommandierte Phase im 20. Jahrhundert. Das haben erst die Kämpfe 1968 ff. aufgebrochen. Eine Rückkehr ist nicht möglich, und aus unserer Sicht auch nicht wünschenswert!


Vorgeschichte der Blasenökonomie

Als Vorsitzender der Federal Reserve hatte Alan Greenspan immer bestritten, dass es eine Blase gäbe - die er derweil fleißig aufpumpte. Ben Bernanke, sein Nachfolger im Amt, hatte seit 2004 die Theorie der »Great Moderation« vertreten: die Volkswirtschaftslehre sei nun so weit fortgeschritten, dass größere Wirtschaftskrisen ausgeschlossen werden könnten. Dass Greenspan selbst nicht an seine Lügen glaubte, weiß man spätestens seit seinen Aussagen vor dem Untersuchungsausschuss im US-Kongress im Juni 1999. Von Bernanke wird man es noch erfahren, und im Fall der HRE ist bereits aktenkundig, dass die »Krisenschattenregierung« Asmussen/Weber/Sanio (Staatssekretär, Chefs der Bundesbank bzw. der Aufsichtsbehörde Bafin) zusammen mit ihrem damaligen Minister Steinbrück die Öffentlichkeit dreist angelogen haben.

Dass man solchen Leuten nicht glauben kann, ist Allgemeinwissen. Schlimmer, dass auch »Marxisten« wie Fülberth und Michael Heinrich in ihren Aussagen zur kapitalistischen Krise nicht zu trauen ist. Der eine brachte 2006 (die Krise hatte bereits begonnen) das Buch »G Strich: Kleine Geschichte des Kapitalismus« heraus, in dem er vom auf »absehbare Zeit unbesiegbaren Kapital« fabulierte und uns weitere 500 Jahre Kapitalismus voraussagte; der andere hielt noch 2008 Vorträge, in denen er die aktuelle Krise als ganz normale zyklische Krise darstellte.

Gegen solche Theoretiker des ewigen Zyklus, die sich fälschlicherweise auf Marx berufen, haben wir in den letzten Heften nochmal weit ausgeholt und die Debatte aus den 70er Jahren rekonstruiert. Hier nur in Stichworten: Das Kapital reagierte auf die breiten Kämpfe Ende der 60er Jahre (»Heißer Herbst« 69) mit der »Energiekrise«, der Ablösung des Dollars vom Gold, mit Inflation und Massenarbeitslosigkeit. Überall weiteten sich in den 70er Jahren aber die Kämpfe in den Reproduktionsbereich aus (Besetzungen und allgemein Aneignung: Rote-Punkt-Aktionen, proletarisches Einkaufen, Weigerung, die Stromrechnungen zu zahlen usw.), die Arbeitslosen funktionierten nicht als »industrielle Reservearmee«, die »Humanisierung der Arbeit« konnte die Fabriken nicht produktiv umstrukturieren. Die 70er Jahre hindurch verschlechterten sich Profit- und Akkumulationsraten, das Kapital »floh« in Finanzanlagen wie Währungsspekulation und dergleichen, weil sich hiermit risikofreier Gewinn machen ließ. Seither hat sich das Verhältnis von Kredit zu Wachstum sowie von Finanzanlagen zu realen Investitionen ständig erhöht, und die Kapitalverwertung hat sich nach allen Kriterien (Profitrate, Akkumulationsrate, Entwicklung der Reallöhne...) von Zyklus zu Zyklus verschlechtert. Aber das Kapital hat sich damit für fast ein Vierteljahrhundert so etwas wie »Stabilität« erkauft - das ist nicht wenig, wenn man sich daran erinnert, dass in den 70er Jahren die Weltrevolution nur noch einen Schritt entfernt zu sein schien!

Zumindest reichte es aus, den meisten Marxisten den (kritischen) Verstand zu rauben. Das Kapital schien unbegrenzt und entkoppelt von der realen Wertproduktion Geld drucken zu können (deswegen sagten viele Marxisten dem Wertgesetz Adieu), es schien ohne Verankerung seines Geldsystems in einer »Geldware« zu funktionieren. Daraufhin haben sich weitere Marxisten von dieser »überholten Vorstellung« von Marx abgewandt. Einer von ihnen, George Caffentzis, begründete das explizit damit, dass das Kapital auch drei Jahrzehnte nach der Ablösung der Leitwährung Dollar vom Gold noch immer »funktioniere« (dazu ausführlich im nächsten Heft). All diese Marxisten haben nicht mitbekommen, dass sich seit Mitte der 90er Jahre das Blatt gewendet hat - oder sie haben es mitgekriegt, wie Winfried Wolf, der von einem »dichten Finanzkrisen-Gewebe« spricht, aber dem nicht auf den Grund geht (siehe Seite 70).


Starker Dollar
Im April 1995 beschlossen die G5-Staaten, den Dollarkurs nach oben zu treiben. Der starke Dollar würgte die industrielle Basis in den USA ab, aber nun floss Geld ins Land und befeuerte die Finanzmärkte. Die Aktienkurse stiegen, die Zinsen konnten sinken. Natürlich war auch dieser »Boom« wieder auf die Ausweitung des Kredits gegründet, er führte aber tatsächlich zu einem vorübergehenden Aufschwung aus der bis dahin schwersten Rezession seit den 50er Jahren, der allerdings bereits im Sommer 1998 erlahmte. Im Jahr zuvor war es zur »Asienkrise« gekommen, 1998 kam die Rubelkrise dazu, in deren Folge der LTCM-Hedgefonds im August kollabierte; es drohte eine Kettenreaktion auf den internationalen Finanzmärkten und sogar der Zusammenbruch des globalen Finanzsystems. Alle damals wichtigen internationalen Banken gaben gemeinsam 3,75 Mrd. Dollar, um das zu verhindern (es war die erste Rettungsaktion dieses Ausmaßes in der Geschichte).

Im Herbst 1998 begann Greenspan mit einer Reihe von Zinssenkungen; damit gelang es ihm, eine Aktienblase aufzupumpen und vorerst das Gröbste zu verhindern. Aber schon 2000-2001 geriet die US-Ökonomie in die nächste Rezession, die »Dot-Com«-Blase platzte. Wiederum reagierte Greenspan mit aggressiven Zinssenkungen; durch die damit geschaffene Liquidität konnte die Immobilienblase entstehen. Dieses geldpolitische Manöver ging als Great Bubble Transfer, die große Blasen-Überführung, in die Geschichte ein. Mit diesen Operationen zwischen 1995 und 1998 wurde eine Entwicklung festgeschrieben, die Anfang der 70er Jahre begonnen hatte; das nach Anlagemöglichkeiten suchende Kapital hat die Branche über alle Maßen aufgebläht, die solche Anlagemöglichkeiten »schaffen« kann. Die Finanzbranche ist selber überakkumuliert und muss sich verwerten. Schon deshalb gibt es einen Zwang zu »Finanz-Innovationen«.

Höhere Löhne, Renten usw. führen zu Inflation. »Anders sieht es aus, wenn der erhebliche Geldzuwachs vorwiegend bei den ohnehin Begüterten ankommt. [...] Es entsteht ein Überschuss an Kapital, das in Anlage drängt. [...] Die gemeine Inflation tritt in diesem Fall allerdings nicht auf. Allenfalls steigen die Preise der Finanzanlagen, der Kredite, der Anleihen, Immobilien und Aktien.« (Lucas Zeise »Von Inflation keine Spur« Junge Welt 23.6.2009) Die Ausweitung der Kreditmenge durch Deregulierung der Finanzmärkte und die gleichzeitige Bekämpfung der Inflation treibt die Leute in Mehrfach- und Billigjobs.


Negative Zinsen
Der Great Bubble Transfer schuf eine Blase von noch kürzerer Lebensdauer, schon 2004 ging der Immobilienboom zu Ende. Greenspan hatte aber bereits 2003 auf die ersten Anzeichen von Erlahmung reagiert, indem er die Bedingungen für Hypothekenkredite abschwächte und die Zinsrate der Fed für zwei Jahre lang auf 1 Prozent (das heißt, der Realzins lag unter Null!) setzte. Damit begann der Boom der subprime-Immobilien und der »strukturierten Finanzprodukte« (CDOs auf CDOs auf CDOs, usw.). Erst in der zweiten Jahreshälfte 2003 kam die US-Wirtschaft aus der Rezession heraus, ein sehr schwacher Konjunkturaufschwung begann, der bereits 2006 wieder endete. Finanziert wurde dieser Aufschwung - der komplett am Immobilienboom und dessen Auswirkungen auf den Konsum hing - vor allem durch »Chimerica«. Die Weltwirtschaft wuchs, weil die USA mehr konsumieren konnten, als sie produzierten. Finanziert wurde das durch Staatsanleihen, die wiederum von Ländern gekauft wurden, die mehr produzierten, als sie konsumierten, allen voran China, Deutschland und Japan. Die asiatischen Staaten hatten in Reaktion auf ihre große Verwundbarkeit in der Asienkrise 1997 gewaltige Dollarreserven angehäuft, die vom US-Finanzsystem recycled wurden.

Die vierte Weltwirtschaftskrise seit Bestehen des Kapitalismus beendete »Chimerica«, weil der kreditfinanzierte US-Konsum zusammenbrach. An dessen Stelle sind die Staaten getreten und haben sich dabei gewaltig verschuldet. Durch die Bankenrettungsmaßnahmen haben sie eine Blase angeschoben, die wesentlich größer ist als die Dot-Com-Blase Ende der 90er und die Immobilienblase danach. Sollte diese Blase platzen, ist kein weiterer Bubble Transfer mehr möglich. Die Blasen platzen in immer kürzeren Abständen - die aktuelle Blase der (US-amerikanischen) Staatsanleihen womöglich, bevor überhaupt ein Konjunkturaufschwung eingesetzt hat - Ende des Zyklus?


Kämpfe gegen die Krise
Im Sommer 2008 gab es spontane Revolten gegen die Verteuerung der Lebensmittel in Mexiko, Marokko, Indien, Mauretanien, Tunesien, Kamerun, Senegal, Jemen, Elfenbeinküste, Haiti, Ägypten, Burkina Faso, Bangladesh, Somalia und Kenia. Bereits im Herbst 2008 reagierten die chinesischen ArbeiterInnen sehr massiv gegen die Entlassungswelle (Fabrikarbeiterinnen, Taxifahrer, Lehrerinnen). Mit dem Doppelschlag Lehman-Pleite und Bankenrettungsprogramme wurde aber die Arbeiterklasse erstmal größtenteils in Schockstarre versetzt. Die dann anlaufenden Konjunkturprogramme dienten dem zeitlichen Strecken und der sozialen Aufspaltung der Gegenwehr. Der globale Kapitalismus kam relativ unangefochten durch den bisherigen Tiefpunkt der Krise von Herbst 2008 bis Frühjahr 2009. Aber auch in den anderen Weltwirtschaftskrisen begannen die Kämpfe nicht in der Kernphase der Krise, sondern in der Stagnationsphase danach. In dieser Phase sind wir jetzt.

Es hat eine immense Bedeutung für die Herrschenden, ob sie diese Kämpfe vereinzeln können mit der Behauptung, der Aufschwung sei um die nächste Ecke, wir müssten jetzt »nur noch« die nötigen Opfer dafür bringen. Daraus ergeben sich die drei Dinge, die wir in den nächsten Monaten anpacken sollten:

• Immer wieder klar machen, dass die Krise nicht vorbei ist! Bei weiteren Einbrüchen wie »Dubai«, »Griechenland«... mit Flugis losziehen und mit den Leuten über den Charakter dieses Systems diskutieren.

• Vereinzelung funktioniert erstmal darüber, dass man nichts voneinander mitkriegt. Und das sind nicht nur Kämpfe wie der Aufstand im Südirak rund um das Ahdad-Ölfeld im April 2009 gegen den chinesischen Ölmulti CNPC (ein x-beliebiges Beispiel, um deutlich zu machen, wie wenig wir teilweise von solchen Kämpfe mitkriegen!), sondern auch die reihenweise kaputtgehenden Kleinbetriebe, von denen der Arbeiter im Interview auf S. 34 ff. sagt, »das steht in keiner Zeitung«. Also sowohl zu Betriebsschließungen, Versammlungen und Streiks hingehen, als auch dazu beitragen, dass die weltweiten Kämpfe was voneinander mitkriegen.

• Der dritte Punkt ist vielleicht der schwierigste. Welche Macht hätten denn die Leute einer 50-Mann-Klitsche, sich zu wehren? Oder gar Leute, die in ganz vereinzelten Situationen arbeiten? LeiharbeiterInnen? Arbeitslose? Darüber geht das folgende Heft. In der Autoindustrie können auch ganz kleine Belegschaften und letztlich sogar ein Team bei einem kleinen Zulieferer ganze Konzerne anhalten. Die just in time-Ketten sind real, nicht nur »die Sindelfinger« können die Entscheidungen eines Weltkonzerns umschmeißen, auch die Leute bei konnten sich durchsetzen! Die Emmely-Kampagne hat einen Nerv getroffen. Das Bremerhavener Komitee hat nach anderen Organisierungsformen zu suchen angefangen...

Aus diesen Anfängen und Erfahrungen heraus müssen wir die Systemfrage stellen. In der größten Umverteilung in der Geschichte von ganz vielen zu ganz wenigen Menschen haben viele angefangen sich zu wehren, und es wird sehr viel Kritik am Kapitalismus laut, endlich! - aber der Glaube in seine Reformierbarkeit herrscht noch immer vor. Wir sollten erklären können, dass da nix mehr zu reformieren ist! Tatsächlich war der Kapitalismus 200 Jahre lang in der Lage, Verteilungskämpfe durch Wachstum zu »unterlaufen«; aber das ist ans Ende gekommen und spätestens seit Mitte der 90er Jahre schleppt er sich nur noch von einem Kriseneinbruch zum nächsten. China ist aktuell der globale Brennpunkt, wo die Herrschenden seit dem Aufstand auf dem Platz des Himmlischen Friedens weiteren sozialen Unruhen mit hohem Wirtschaftswachstum davonlaufen, dieses aber nur mit dem Aufpumpen einer gefährlichen Blase aufrechterhalten können. Sollte es zu einer »dritten Welle« kommen und die weltweite Nachfrage nach Waren aus China zusammenbrechen, würden dort Verhältnisse ausbrechen, die diejenigen in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts in den USA noch überschreiten. Wobei nochmals daran zu erinnern ist, dass zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus eine globale Arbeiterklasse gleichzeitig von der Krise betroffen ist und solche Kämpfe womöglich ein Fenster aufstoßen zu einer globalen Neuzusammensetzung der Klasse.

Die Notenbanken beginnen in diesen Tagen mit dem Ausstieg aus den Stützungsprogrammen, In der zweiten Jahreshälfte werden die sozialen Auswirkungen der Krise(npolitik) auch in der BRD ankommen. Die harten Sparpläne in Griechenland, Spanien usw. zeigen uns, wo es hingehen soll. Die dortigen Kämpfe sind auch die unseren!


Randnotizen

Wildcat 84 / Juni 2009: »Anfang März 2009 war ein Euro 1,26 Dollar wert - am 1. Juni waren es knapp 1,42 Dollar, (diese) Dollarabwertung ... wird sich fortsetzen«

1) Im ersten Quartal 2009 schien alles auf eine regelrechte ökonomische Katastrophe zuzulaufen. Im Juni 2008 hatte Barry Eichengreen, Wirtschaftshistoriker und Makroökonom an der Berkeley University in Kalifornien, Grafiken erarbeitet (siehe Wildcat 84: »Des Kapitalismus neue Kleider«), die zeigten, dass für einen vergleichbaren Zeitraum der Umfang des Produktionseinbruchs in den USA, Frankreich, Deutschland, Italien, Großbritannien und Japan die Implosion der Jahre 1929/30 übertraf.

2) Anfang des Jahres 2010 gab die Europäische Statistikbehörde Eurostat die offiziellen Arbeitslosenzahlen für den November 2009 bekannt. Demnach hatte die Euro-Zone den höchsten Stand seit elf Jahren, im Jahresvergleich stiegen sie um mehr als drei Millionen auf über 15 Millionen Personen. Unangefochtener Spitzenreiter ist Spanien mit 19,4 Prozent Arbeitslosigkeit, mehr als ein Viertel aller Arbeitslosen in der Eurozone. Griechenland liegt mit 9,7 Prozent sogar unter dem EU-Durchschnitt und etwa auf der Hälfte der spanischen Arbeitslosenquote. Die Niederlande (3,9 Prozent), Österreich (5,5 Prozent) und Deutschland (7,6 Prozent) lagen deutlich unter dem Durchschnitt. In allen 27 Mitgliedsstaaten der EU waren im November 2009 fast 23 Millionen Männer und Frauen arbeitslos. Den Spitzenrang hatte Lettland mit 22,3 Prozent. Insgesamt erhöhte sich die Arbeitslosigkeit in der gesamten EU im Jahresvergleich um 2 auf 9,5 Prozent. Auch in den USA nahm die Arbeitslosigkeit im Dezember wieder zu. Laut Household-Survey haben im November weitere 661.000 Menschen ihre Stelle verloren, genauso viele wie in den drei Monaten zuvor. Viele Arbeitslose lassen sich nicht mehr registrieren; außerdem wurden die Statistiken immer weiter verändert; wenn man alle offiziellen Kategorien zusammenzählt, dürften in den USA etwa 20 Prozent arbeitslos sein.

- Zu den entscheidenden fünf Wochen im Herbst 2008 vergleiche: Michael Hudson: America‹s Own Kleptocracy; Counterpunch.org 20.9.2008)

- Paul Craig Roberts: The Crisis is Not Over; Counterpunch.org, 3.2.2010:
»The crisis was used by the investment banks, which controlled U.S. economic policy, to secure massive subsidies to their profits from a taxpayer bailout and from the Federal Reserve.«

- Zum Jahrestag der Lehman-Pleite am 15. September 2009 hatte Mike Withney darauf hingewiesen:
»They claimed they didn‹t have legal authority for such guarantees. It‹s a lie. The Fed has provided $12.8 trillion in loans and other commitments to keep the financial system operating without congressional approval or any explicit authorization under the terms of its charter. The Fed never considered the limits of its ‹legal authority‹ when it bailed-out AIG or organized the acquisition of Bear Stearns by JP Morgan pushing $30 billion in future liabilities onto the public‹s balance sheet. The Fed‹s excuses don‹t square with the facts.« (Mike Withney The Real Lesson of Lehman‹s Fall: Lehman Died So TARP and AIG Might Live, Counterpunch.org, 15.9.2009)

Zu den 70er Jahren siehe die Beilagen in:

Wildcat 83 mit den Artikeln: Karl Heinz Roth: »Benedetta sconfitta?« Die Zeitschrift »Primo Maggio« in der dritten Phase des Operaismus;

Steve Wright: Revolution von oben? Geld und Klassenzusammensetzung im italienischen Operaismus.

und vor allem in der Wildcat 85: Sergio Bologna: Karl Marx als Korrespondent der New York Daily Tribune

Im Kontrast zum Plaza-Abkommen von 1985, bei dem beschlossen worden war, den Dollar zu verbilligen und den Yen zu verteuern, wird das Abkommen von 1995 auch der Reverse Plaza Accord genannt; das Plaza-Abkommen hatte zur Blasenökonomie in Japan geführt, aus der Japan seither nicht mehr rausgekommen ist. Außerdem war im Oktober 1987 in den USA die erste große Finanzblase der Neuzeit geplatzt; der Dow Jones fiel in wenigen Tagen um rund ein Viertel; die mit dem Crash verbundene Sparkassenkrise zwei Jahre später löste eine Rezession aus, die erst 1992 ihr Ende fand und die Staatsschulden der USA in die Höhe katapultierte.

http://www.market-watch.com/story/the-great-bubbletransfer

Zu Chimerica siehe wildcat 82 und 85

Raute

Die iranische Revolution 1979

Die iranische Revolution und die islamische Gegenrevolution stellten 1979 einen drastischen Einschnitt für die weltweite Perspektive von Revolution dar. Die Revolution von 1977-79 war eine der bedeutendsten des 20. Jahrhunderts. Die Gegenrevolution eine der brutalsten in der jüngeren Geschichte, nach vorsichtigen Schätzungen wurden in den zehn Jahren danach mehr als 20.000 politische Gegner ermordet.

Die Enttäuschung über das Scheitern 1979 hat dazu geführt, dass sich viele Linke als Zielsetzung nur noch "Demokratie" vorstellen können. Die damalige antiimperialistische Ideologie (kapitalistische Entwicklung sei notwendig als Stufe auf dem Weg zur Revolution, der Imperialismus sei ein Hindernis dieser Entwicklung in abhängigen Ländern) und ihre heutige Umkehr (die UNO, die EU, Obama, westliche Gewerkschaften, ILO usw. sollen auf dem Weg zur Demokratie helfen) sind zwei Seiten derselben Medaille. Beide ignorieren die großen sozialen Potentiale von 1979.

Heute wird von "Demokratiebewegung" gesprochen. Für damals ein blöder, fast absurder Begriff: Es ging um Bedürfnisse, Ansprüche, das Eigentum wurde in Frage gestellt. Im folgenden wollen wir die Frage zu beantworten versuchen: Wie konnte aus einer breiten revolutionären Bewegung, die letztlich durch die Streiks der Arbeiterklasse zum Durchbruch kam, nachdem die breite Beteiligung der Slum-BewohnerInnen, der Studenten, der Arbeitslosen und des (Klein-)Bürgertums die Macht der Diktatur nicht brechen konnte, eine islamische Konterrevolution werden?

Im Interview im ak 541 (Von der Massenautonomie zum islamischen Staat) stellt Piran Asad die Frage, wie die breite Rätebewegung durch die Mullahs besiegt werden konnte, und beantwortet sie letztlich damit, dass die Linke schwach und die Mullahs stark waren. Das verengt die Problemstellung ganz entscheidend auf: "Kommen die Mullahs an die Macht oder die Linke?", ein Blick von oben auf die Geschichte. Die Vorgeschichte der "Arbeiterräte" lässt er weg. Die Frage nach den sozialen Prozessen im Vorfeld der diversen politischen Ereignisse ist aber ganz entscheidend! Viele sehen den "Anfang der iranischen Revolution" bei politischen Initiativen und Aktivitäten von oben, die Mullahs datieren ihn auf eine Demo in Qom Anfang 1978. Ausschlaggebend waren aber die Bewegungen von unten, die sich in den 1970er Jahren entwickelt hatten: Arbeiterbewegung, Studentenbewegung und besonders die Bewegung der BewohnerInnen der Vorstädte.


Kämpfe und Krisen vor 1978

Für die 60er Jahre treffen wir auf dasselbe Muster: Die Initiative wird meist dem Schah und seiner Weißen Revolution zugeschrieben, die als selbstherrliche "Revolution von oben" dargestellt wird. Sie war aber eine Reaktion auf die Wirtschaftskrise und die damaligen Kämpfe. Für Chomeini (und den heutigen Staat) ist der "Aufstand vom 15. Chordad" im Juni 1963 ausschlaggebend, eine von Basaris nach Chomeinis Verhaftung organisierte Erhebung, die blutig niedergeschlagen wurde. Dieses Datum ist sehr stark im kollektiven Gedächtnis geblieben, und seine Interpretation war von jeher umstritten. Die Volksmodschahedin sahen den Aufstand als revolutionäre, die Tudeh-Partei als reaktionäre Erhebung. Wichtig sind auch hier die Ereignisse in den Jahren zuvor. 1959 waren die ruhigen Jahre nach dem CIA-Putsch (1953) vorbei, es gab eine Wirtschaftskrise, es entwickelten sich Kämpfe. Besonders die Arbeiterkämpfe ziehen sich von 1959 bis 1963 durch, dann kamen Schüler- und Studentendemos dazu, Parteien wurden gegründet...


1958-1961

Im ersten Quartal 1958 schrumpfte das BIP der USA um 10,4 Prozent, auch in der BRD kam es zum bislang tiefsten Einbruch der Nachkriegszeit. Im Iran herrschte eine Wirtschaftskrise, die Lebensmittelpreise stiegen. Um sein Haushaltsdefizit (1962 80 Mio. Dollar) zu decken, nahm der Iran Kredite im Ausland auf, die durch Ausgabenkürzungen finanziert werden sollten.

Im Juni 1959 schoss die iranische Polizei auf 30.000 streikende Ziegeleiarbeiter. (ca. 50 Tote und hunderte Verletzte). Die Versuche der Studenten, die Proteste auf die Straße zu tragen, gingen vielfach in blutigen Polizeiaktionen unter. Im April 1961, drei Monate nach Kennedys Amtsantritt, wurde in eine Demonstration streikender Lehrer geschossen (ein Lehrer starb). Die neue Kennedy-Regierung forderte vom Iran grundlegende wirtschaftliche und politische Reformen. Unter diesen Bedingungen formierten sich die politischen Bewegungen im Iran neu. Ein Ausweg wurde in der Einleitung einer auf dem Erdöl basierenden iranischen Entwicklung gesehen. Die sogenannte Weiße Revolution kapitalisierte das Land. Zwei Millionen abhängige Bauern bekamen durch eine Bodenreform kleine Parzellen (und sind später nicht in der Lage, ihre Ratenzahlungen an den Staat zu begleichen).

Das traditionelle Dorfproletariat und die Handwerker bekommen auf dem Land keine Arbeit mehr. Viele gehen in die neuen Fabriken in den Städten oder suchen dort andere Beschäftigungsmöglichkeiten. Das Gesicht des Iran ändert sich gewaltig: In den 15 Jahren bis zur Revolution steigt der Anteil der Stadtbewohner von einem Drittel der Bevölkerung auf die Hälfte.

Chomeini profilierte sich in diesen Jahren nach anfänglichen Bitten an den Schah, das Frauenwahlrecht nicht zuzulassen, lediglich durch radikale Äußerungen gegen die USA und gegen die "Kapitulationsgesetze". Mit der Niederschlagung der 63er-Erhebung wurden diese Jahre aber im kollektiven Gedächtnis zu seinem Vermächtnis.


1963-1972

Die Jahre zwischen der Erhebung 1963 und 1968 waren vor allem von studentischen Mobilisierungen geprägt, "68" kam im Iran an. Dann meldete sich eine wiedererstarkende Arbeiterbewegung eindrucksvoll zu Wort. Ein wichtiger Streik war der Busstreik 1968. Das Regime wollte die Fahrpreise erhöhen, und alle waren dagegen: Studenten, Schüler, Fahrgäste, Busfahrer und Arbeiter der Verkehrsbetriebe - und mit einem siegreichen Streik haben sie alles wieder rückgängig gemacht. 1971 streikten die Textilarbeiter in Teheran und führten einen berühmten Marsch durch. Polizei und Savak schossen in die Demo und töteten zehn Arbeiter.

Kurz zuvor hatte die Guerillabewegung im Iran angefangen, die "als kleiner Motor den großen Motor anwerfen" wollte. Sie sahen sich durch die Textilarbeiterdemo in ihrem Konzept bestätigt ("Unsere Bewegung hat Früchte getragen"). Aber die Verbindung der iranischen Guerilla zur Arbeiterbewegung war künstlich. Die Arbeiterkämpfe waren unabhängig entstanden.

Zu Beginn hatte es in ihren Analysen nur "angepasste" Arbeiter gegeben. Nach dem Textilarbeiterstreik wurde auf die Kämpfe äußerlich Bezug genommen. In einer dritten Phase haben Guerilla-Gruppen dann ArbeiterInnen aus den Fabriken rekrutiert. Ab 1975 kam immer die Kritik: Warum habt Ihr ArbeiterInnen aus den Fabriken rausgezogen? Dort hätten sie doch viel mehr bewirken können!

Nach dem Textilarbeiterstreik flaute die Bewegung kurzzeitig ab und wuchs dann mit der steigenden Inflation wieder an. Ein weiterer wichtiger Kampf war die Besetzung einer Textilfabrik. Die Arbeiter sind drin geblieben, und nur durch ein Fenster konnte man sie mit Essen und anderem versorgen. Studenten haben diese Versorgung übernommen. Dazu musste man Mut haben, denn der Savak hatte die Fabrik umzingelt. Die Tradition, dass Studenten sich mit Arbeitern verbündeten, entstand in dieser Zeit.


Die weltweite Krise 1973 und ihre Folgen

Ist schon die massive iranische Industrialisierung nicht ohne die Krise Ende der 50er Jahre zu verstehen, so die iranische Revolution nicht ohne die globale "Ölkrise" 1973. Innerhalb weniger Jahre wurde der Iran trotz der Verfünffachung des Ölpreises - und Vervierfachung seiner jährlichen Einnahmen durch den Ölexport - voll von der Krise erfasst. Die eingenommenen Öldollars waren nicht nur im Ausland investiert (bei Krupp, Daimler usw.), sondern auch in eine überhitzte Kapitalisierung des Landes gesteckt worden. Die Investitionsausgaben wurden verdoppelt, ein gigantischer Technologieimport eingeleitet (u.a. Bau von AKWs) und die iranische Armee mit neuester Technologie ausgerüstet. Aber der Boom dauerte nur zwei Jahre, und bereits Mitte 1976 lagen die Staatsausgaben über den -einnahmen. All das summierte sich zu einer Versorgungskrise 1975-1977, die Anfang 1977 in eine Rezession überging.

Auf die seit Anfang 1974 explodierende Inflation antworten die ArbeiterInnen mit einer Welle von Streiks, die im Mai 1974 ihren Höhepunkt erreicht. Reagiert wird mit Lohnerhöhungen, gleichzeitig werden aber Arbeiter verhaftet und entlassen. Allein in der Teheraner Raffinerie wurden 52 Arbeiter verhaftet.

Nachdem es seit Jahren in den Fabriken und den Unis brodelte, fing es nun auch in den Armutsgürteln der Städte an, nicht nur in Teheran, sondern auch in anderen Städten. Die Bewegung der Slumbewohner entwickelte sich besonders im Zuge der Wirtschaftskrise. Die hier lebenden Arbeiter, Arbeitslosen und Kleinhändler waren am härtesten von ihr betroffen. Zudem überlagerten sich nun zwei Entwicklungen: Die Industrie und der Arbeitsmarkt insgesamt stellten weniger ein, aber es kamen mehr Menschen in die Städte. Ich habe selbst Mitte der 70er Jahre erlebt, dass jeden Tag neue Leute ankamen und dass es deshalb ständig kleine Auseinandersetzungen gab. Die hatten kein Wasser, keinen Strom - haben illegal gebaut, Strom angezapft oder mussten Wasser ranschaffen. Es gab ständig Auseinandersetzungen mit der Garde zur Bekämpfung der illegalen Siedlungen. Staatsmacht und Wohnungsbaukonzerne schickten Räumtrupps, in Schemira-now (Teheran) wurden z.B. im November 1974 allein 60 Häuser niedergerissen, dabei gab es Tote. Im August 1977 gab es eine große Demonstration von 50.000 Slumbewohnern. Das war wirklich explosiv.

Der Schah setzte darauf eine neue Regierung ein, deren erste Maßnahmen waren die Lockerung der Repression in den Stadtrandsiedlungen und die Abschaffung der Sonderkasse für die Bezahlung von Mullahs. Mit Aufrufen zur Einhaltung der Menschenrechte versuchten National-Liberale (wie Basargan, später Ministerpräsident), Intellektuelle und liberale Geistliche, diese "Hoffnung" zu nutzen. Und Chomeini verkündete aus dem Exil das Bündnis zwischen Intellektuellen und Mullahs.

Am 9. Januar 1978 demonstrierten Tausende Religionsstudenten und andere in Qom und wollten die Geistlichen dazu bewegen, öffentlich für Chomeini Position zu beziehen, der in einem Zeitungsartikel diffamiert worden war. Die Polizei schoß in die Menge, es gab 9 Tote und 45 Verletzte. (Heute wird dieses Ereignis vom Regime als Beginn der Revolution dargestellt). Nach Teilen der Klerikalen schloss sich nun der Basar der Bewegung an (damals waren von 5 Millionen Teheranern 400.000 Basari). Da die Moscheen für alle zugänglich sind und außerhalb der Reichweite der staatlichen Repression waren, ersetzten sie den Campus und andere Plätze als Orte der Bewegung. Die ArbeiterInnen, die zu der Zeit in den Fabriken bereits Streikkomitees gegründet hatten, zögerten zunächst, auf die Straße zu gehen. Besonders die alten, die den Mullahs misstrauten, wollten nicht unter dem Slogan "alle zusammen" demonstrieren. Sie fürchteten, dass es dabei nicht um ihre Interessen gehen würde.

In Täbris entstand 40 Tage später aus einer Trauerfeier für die Toten von Qom eine Versammlung, welche das Regime gewaltsam aufzulösen versuchte. Es kam zu einem großen Aufstand. Heute wird diese Erhebung ausschließlich in der Reihenfolge "40 Tage nach Qom" gesehen. Aber damals gab es in der ganzen Sache keine Bilder von Chomeini, die meisten kannten Chomeini oder so was wie die "islamische Republik" gar nicht. Es wurden viele Bilder von ermordeten Linken mitgeführt, manche hatten auch Schariati-Bilder. Viele, die dabei waren, hätten sich damals nicht vorstellen können, dass in dieser Bewegung der Islam oder überhaupt Religion eine Rolle spielen würde.

Ab August 1978 entwickelte sich eine Phase von Massendemos. Die Regierung reagierte mit wechselnden Maßnahmen, mal Ausnahmezustand und Massaker (wie am "Schwarzen Freitag" mit über 250 Toten und 1000 Verletzten), mal ein bisschen mehr politische Freiheit (z.B. Freilassung der politischen Gefangenen, besonders die Führungselite der Islamisten). Etliche von ihnen, wie Taleghani, Rafsandjani und Chamenei übernahmen kurz darauf die Organisierung der Demonstrationen und bildeten später mit anderen von Chomeini Berufenen den Revolutionsrat.

Zu dieser Zeit sind alle zusammen auf der Straße, in den Fabriken wurden nicht nur ökonomische, sondern auch politische Forderungen gestellt. Es war eine breite Volksbewegung: Schulen, Unis, Verwaltungen und Fabriken. Der Gedanke an einen Generalstreik war da.

Am 19. August 1978 (dem 25. Jahrestag des CIA-Putschs gegen Mossadegh) wurde dann in Abadan ein Kino in Brand gesteckt, in dem ein linker Film lief. Man verdächtigte den Savak als Urheber. 477 Menschen starben. (Für Planung und Durchführung war ein Verwandter von Chamenei verantwortlich. Das wird aber erst nach der Revolution bekannt.) Nach der Trauerfeier für die Ermordeten fand die erste Demo in Abadan statt, die hauptsächlich durch ein Arbeiterkomitee organisiert wurde. Es wurde geschossen, und einige wurden verletzt. Einen Tag danach fing der Generalstreik in Abadan an.

Ab Herbst folgte eine Phase von Massenstreiks. Bei Schulanfang am 23. September waren Schüler und Studenten im Streik und demonstrierten. Am 9.9.1978 traten die Arbeiter der Teheraner Ölraffinerie in den Streik. Am 7. Oktober die Arbeiter auf den Ölfeldern. Von Oktober '78 bis Januar '79 gab es einen Generalstreik, der von vier Millionen Arbeitern und Angestellten getragen wurde. Überall entstanden Streikkomitees, und die meisten städtischen Gebiete wurden durch Nachbarschaftskomitees kontrolliert.

Es gab weder Streikfonds noch Streikgeld, lange Streiks konnten nur mit finanzieller Unterstützung anderer Bevölkerungsschichten durchgehalten werden. Das war das Einfallstor für den Basar und die politischen Organe der Mullahs. Der Aufstand gegen das Schah-Regime wurde erst durch den Streik der Ölarbeiter entschieden, aber dieser Streik wurde auch zum Hebel der islamistischen Konterrevolution. Einer der Führer des Arbeiterrats der Teheraner Raffinerie erzählte zwanzig Jahre danach:

"Im Streik wurden die Gehälter nicht gezahlt, und an die Gewerkschaftsgelder auf der Bank sind wir auch nicht dran gekommen. Wir hatten einen Fonds eingerichtet und alle zu Spenden aufgerufen. Die Studenten, aber auch andere haben Geld gespendet, aber das reichte nicht. Dann haben wir mit Ajatollah Taleghani (der den Volksmodschahedin nahe stand) Kontakt aufgenommen. Er bat die Basaris um Hilfe - und dann war Geld da, das wir an die Arbeiter verteilen konnten. Man kann sogar sagen, dass die Arbeiter in zwei Monaten Lohn für fünf Monate bekamen. Aber damit wurden wir von reaktionären Kräften abhängig. Die Basaris bestimmten sofort, dass Hadschi Araghi [ein Islamist aus dem Basar, später Chef eines Teheraner Gefängnisses] an unseren geheimen Komiteesitzungen teilnimmt, er wurde sogar Mitglied im nationalen Streikkomitee. Dadurch bekam Chomeini sehr großen Einfluss auf unsere Bewegung. ... Wir hatten bislang den Bitten, die Raffinerie wieder in Gang zu bringen, nicht entsprochen, aber als Chomeini jetzt sagte, wir sollten für den inländischen Verbrauch die Arbeit wieder aufnehmen, haben wir das akzeptiert. Als Chomeini nach dem Februar-Aufstand die Entwaffnung der Arbeiterräte befahl, haben die Räte die Waffen abgegeben..."(1)


Die islamische Konterrevolution formiert sich

Nach und nach wurde die Verbindung zwischen dem Klerus um Chomeini und Teilen der Basaris sowie der sogenannten liberalen Bourgeoisie organisatorisch gefestigt und durch die Vertreibung der Linken und der Frauen aus den Demonstrationen der eigene Führungsanspruch durchgesetzt. Chomeini und seine Anhänger agitierten gegen die "kolonialistischen" westlichen Kulturimporte wie Fernsehen, Kino usw. Auf den Demonstrationen und in den Auseinandersetzungen mit der Polizei, der Armee und den Sicherheitsorganen wurden dann nicht mehr nur Banken, staatliche Institutionen und Polizeistationen angegriffen, sondern auch Kinos, Alkoholgeschäfte usw. Der Brandanschlag auf das Rex-Kino in Abadan war in dieser Hinsicht ein Höhepunkt (aber damals vermuteten viele das Schah-Regime und nicht die Chomeinisten als Urheber).

Chomeini plädierte immer noch aus Paris für passiven Widerstand. An "Aschura", dem Höhepunkt des Trauer-Monats der Schiiten, dem 11. Dezember 1978, veranstalteten seine Anhänger und die Religiös-Liberalen mit dem Wohlwollen und der Akzeptanz von Teilen der Armee einen Marsch mit mehr als einer Million Menschen in Teheran, der von einem eindrucksvollen religiösen Ordnungsdienst kanalisiert wurde. Die Mullahs bestimmten alles, hunderttausend Frauen im Schwarzen Tschador befolgten die Regeln der islamischen Ordnung. Die Linke und säkular orientierte Schichten waren entweder abwesend oder unerwünscht. Überall Chomeiniplakate, aber auch Bilder des religiösen Erneuerers Ali Schariati; ganz selten Bilder von Mossadegh, und hier und da Parolen gegen Kommunisten. Der Marsch wurde zum Referendum für die friedliche Machtübernahme durch Chomeini.

Beim G4-Treffen (USA, England, Frankreich, BRD) Anfang Januar 1979 im französischen Guadeloupe stand "Iran" ganz oben auf der Tagesordnung. Man wurde sich einig: Der Schah muss weg. Eine Woche zuvor hatte das französische Außenministerium in Paris den Chomeini-Vertreter Ghotbsadeh getroffen und um Informationen zur Politik Chomeinis gebeten. Zwei Dinge waren ihnen versichert worden: die Öllieferungen an den Westen bleiben unverändert sicher, und der Iran wird den Kommunismus (Russlands Einfluss im Iran) bekämpfen. Einen Tag nach der Konferenz überbrachte eine Delegation Chomeini die Nachricht, dass der Schah gehen werde. Im allgemeinen Interesse müsse eine explosive Lage im Iran vermieden werden. Chomeini wurde gebeten, für Ruhe zu sorgen und nicht gegen Bakhtiar vorzugehen, sonst drohe ein Armeeputsch.

Chomeini versicherte, dass der Iran mit dem Abgang des Schah zur Ruhe kommen, die Wirtschaft funktionieren und das Öl weiter an den Westen fließen werde. Das Treffen blieb geheim.(2)


Der Februar-Aufstand

Am 16. Januar floh der Schah, am 1. Februar landete Chomeini in Teheran. Zu diesem Zeitpunkt entstanden in allen gesellschaftlichen Bereichen Streikkomitees, die später zu Räten wurden. Aber auch Stadtteilkomitees, die viel stärker unter Einfluss und Kontrolle der Mullahs und Basaris standen. Die Verteilung von Öl und Lebensmitteln wurde durch die Menschen selbst organisiert. Dann kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen einer schahtreuen Garde und einem Teil der Armee in Teheran. Teile der Bevölkerung griffen ein, sie gingen zu dieser Kaserne und holten sich Waffen. Am 9. Februar wurden in einem bewaffneten Aufstand in Teheran und anderen Großstädten Savak-Mitarbeiter verhaftet und regimetreue Armeeteile zum Aufgeben gezwungen. In allen Städten kam es zur Entwaffnung von Polizei und regimetreuen Armeeeinheiten und zur Verhaftung von Savakis. Man schätzt, dass allein in Teheran mehr als 300.000 Waffen in die Hände der Bevölkerung kamen. In diesen Februartagen waren die Fabriken und großen Verwaltungen, Schulen, Unis usw. alle geschlossen. Die Linken hatten das Fernsehen besetzt und alle die Lieder gespielt, die davor (und auch danach) verboten waren, ein eigenes Programm gemacht... Aber sogar in den Aufstandstagen waren die Mullahs auf den Straßen und agitierten gegen die Volksbewaffnung.

In diesen Tagen wurde nicht nur die Staatsmaschinerie durch revolutionäre Arbeiterinnen, Jugendliche, Soldaten usw. zum Einsturz gebracht, sondern auch Teile dieser Maschinerie von der islamischen Konterrevolution erobert. Aus vielen Stadtteilkomitees wurden neue Organe der Konterrevolution, spätere Basidschi und Pasdaran.

Danach kam das Dekret von Chomeini, dass alle zur Arbeit zurückkehren müssen. Überall kamen Diskussionen auf: "Was sollen wir tun?" In der Fabrik konnte man bei der Arbeit natürlich keine Waffen tragen! Die wurden in einem Raum abgelegt und bewacht. Im Laufe der Zeit gab es unter diesen Bewachern Schritt für Schritt mehr Chomeini-Anhänger als Linke.

In der ersten Zeit bekam man am Feierabend die Waffen zurück. Denn alle dachten, dass das alte Regime zurückschlagen würde. Wir haben alle gesagt: "Wir kämpfen gegen ein noch nicht besiegtes, reaktionäres Regime". Alle waren noch zusammen in diesem Kampf gegen die Savakis. Im Laufe von ein, zwei Wochen stellte sich dann heraus, dass wir einen neuen Feind hatten, nicht nur am Arbeitsplatz, sondern die Stadtteilkomitees haben Demos von Frauen und Arbeitslosen angegriffen, sie als Savakis beschimpft und verhaftet. Während in den Fabrikkomitees alle ArbeiterInnen organisiert waren, es also eigentlich Räte waren, beteiligten sich an den Stadtteilkomitees auch Basaris und Mullahs, selbst frühere Savakis waren darunter. Die Stadtteilkomitees wurden so zur Organisationsform der Konterrevolution.

In Täbris hatten wir, wie in vielen anderen Städten, eine große, aktive Arbeitslosenbewegung. Nach der Revolution rief sie zu einer öffentlichen Versammlung auf, zu der zwischen 500 und 1000 Leute kamen. Wir hatten gehört, dass Stadtteilkomitees die Versammlung angreifen würden. Die Komitees störten dann nicht nur die Versammlung, sondern verhafteten Leute, brachten diese in die Moscheen, wo ihnen vorgeworfen wurde, Savakis, Konterrevolutionäre usw., zu sein.

Dann wurden Frauen auf Demos angegriffen, z.B. mit Säure, nur weil sie kein Kopftuch hatten. Später verschoben sich auch in der Fabrik die Machtverhältnisse; die islamische Regierung baute von den Stadtteilen her ihren Einfluss aus und agitierte gegen "die Linken in der Fabrik" und gegen Arbeiterräte überhaupt. Sie haben überall islamische Komitees zu bilden versucht. Von Regierungsseite wurde eine neue Geschäftsführung eingesetzt, falls die alte geflohen, verhaftet oder durch die ArbeiterInnen rausgeschmissen worden war. Später kamen Staatsorgane, die als Aufgabe hatten, revolutionäre Arbeiter rauszuschmeißen.

Diese Auseinandersetzungen mit dem neuen Staat dauerten etwa eineinhalb Jahre.


Die falsche Klassenanalyse der Linken führt zum Bündnis mit Chomeini

Carter hat sich in seinen Memoiren beklagt, dass die Mullahs ihn betrogen hätten. In Wirklichkeit sah sich das Regime durch den Februar-Aufstand gezwungen, sich zu radikalisieren und die antiimperialistische Karte zu spielen. Wenn man heute liest, was die Mullahs damals gesagt und gemacht haben, fühlten sie sich stark bedrängt; sie hatten Angst, wenn sie nichts tun, würde alles explodiern. "Es gab so viele linke Gedanken gegen die USA, gegen die Kapitalisten usw. - wir mussten handeln!" In dieser Phase war die antiimperialistische Ideologie für das Regime wichtiger als die Religion.

Die Volksfedajin z.B. hatten kurz nach dem Februaraufstand die US-Botschaft besetzt. Der damalige islamische Außenminister war schnell hingeeilt und brachte alles wieder in Ordnung. Das ist nicht im Gedächtnis geblieben. Und neun Monate danach haben ihre eigenen Studenten bestimmt von oben signalisiert gekriegt, dass sie das nun tun konnten. Nach der Besetzung der US-Botschaft stand ein großer Teil der Linken vor der Frage, "was machen wir jetzt? Wir können es nicht einfach ablehnen, wenn Studenten die amerikanische Botschaft besetzen!" Sie hatten selbst noch neun Monate vorher skandiert "Nach dem Schah die USA!". Deshalb haben viele mitgemacht. Praktischer Antiimperialismus hieß, sich hinter das "anti-imperialistische" Regime zu stellen. Später beteiligten sie sich dann am "Verteidigungskrieg" gegen den Irak (September 1980 bis August 1988) und an der Unterdrückung der revolutionären Bewegung - bis das Regime auch sie verhaftete und hinrichtete. Chomeini hat von Anfang an gegen die Uni, die Studenten und vor allem die Frauen agitiert. Aber viele Linke wollten in ihm einen Kämpfer gegen die USA, den Antiimperialisten sehen!

Die Konterrevolution hat die Frauen, die Bauern, die Arbeitslosenbewegung und die ethnischen Minderheiten unterdrückt. Sie haben die Arbeiterräte und die Studentenbewegung infiltriert. Sie haben bis zu Chomeinis Tod 1989 mehr als 20.000 Regimegegner ermordet. Aber die Linke hat sich in der entscheidenden Phase durch den Antiimperialismus selbst entwaffnet.

Viele Linke sahen im Iran einen "abhängigen Kapitalismus". Die erste Aufgabe wäre der Sturz der Schahdiktatur und das Erlangen der Unabhängigkeit vom Imperialismus. Nicht nur von der Moskau-hörigen Tudehpartei wurde eine "Klassenanalyse" gemacht, die in der Kleinbourgeoisie und der national-liberalen Bourgeoisie (z.B. Basargan) verbündete Kräfte gegen den Imperialismus sahen. Gleichzeitig sahen viele Linke die Geistlichen um Chomeini als Vertreter der Kleinbourgeoisie, also eines Großteils des Basars. Die Großbourgeoisie des Basars wurde in diesem Bild den reaktionären Kräften zuordnet, die von den "konservativen Mullahs" vertreten wurden (oft selber Großgrundbesitzer.) Zusammen mit der ML-Ideologie von den notwendigen Zwischenschritten vor einer sozialistischen Revolution, dem Bündnis mit bürgerlichen Kräften, erklärt das die Versuche vieler Linker, die Forderungen des politischen Islam von Chomeini zu radikalisieren, oder "zu benutzen". Am Ende wurden sie zum Anhängsel der Konterrevolution.

Mit ihrem ganzen marxistischen Kauderwelsch hat die iranische Linke eine viel schlechtere Klassenanalyse gemacht als Chomeini. Der hat die Klassendynamik viel besser verstanden! Er hatte kapiert, dass die 500 Jahre vorbei waren, in denen der Schiismus Staatsreligion im Bündnis mit den Feudalherren gewesen war. Die Weiße Revolution hatte diese Feudalherren tendenziell entmachtet. Chomeini hatte ein neues Bündnis Klerus-Basar geschlossen und konnte so zum Sprecher gegen die "modernen Schichten" des Proletariats werden. Dabei war sein Bündnis mit den neu aufsteigenden Kapitalisten des Basars machtpolitisch zentral - das hatte die "Klassenanalyse" vieler Linker komplett verkannt! Der Basar hatte Einfluss auf andere Schichten und ebenfalls gute Verbindungen mit den Slums, weil es natürlich in jeder Gasse ein oder zwei Läden gibt, und diese Ladenbesitzer mit dem Basar verbunden sind; sie bekommen nicht nur Waren, sondern auch Ideen geliefert. Andererseits sind sie im Slum nicht nur Ladenbesitzer, sondern wohnen auch dort, haben Einfluss...

Und diese ganzen verschiedenen Schichten im Bündnis kamen alle in den Moscheen zusammen, die tags und nachts geöffnet waren. Nach jeder radikaleren Rede eines Mullah kam es zu einer Nachtdemo. Das war die eigentliche Waffe von Chomeini. Und drittens hatte Chomeini schon vor der Revolution den Intellektuellen ein Bündnis angeboten: Ihr habt Wissen, ihr habt Intellekt, ihr seid Muslime - aber wir sind mit dem Volk! Wir sind Mullahs, wir verstehen nichts von Politik, kommt zu uns und lehrt uns die Politik! Lasst uns zusammenarbeiten!

Gegen Chomeinis Klassenbasis im Basar und sein ideologisches Bündnis mit den Intellektuellen standen die Bewegungen der Arbeiter, der Studenten, der Arbeitslosen und der Slumbewohner. Die chomeinistische Konterrevolution hat sie nicht nur nacheinander fertig gemacht, sondern konnte sie teilweise sogar gegeneinander hetzen. Eine verheerende Rolle spielte in diesen entscheidenden Jahren die antiimperialistische Ideologie, die von fast allen Linken als Hauptkampflinie gesehen wurde, der gegenüber aber auch die Aktivisten der Arbeiterkämpfe nicht immun waren.


1979 und heute

Der Artikel in der Wildcat 85 ist ausführlich auf die aktuelle Wirtschaftskrise im Iran eingegangen. Die nicht zurückgezahlten Kredite von Unternehmern an Banken sind seither auf 50 Milliarden US Dollar angestiegen. Das und die Fortsetzung des Embargos hat im Iran zu einer allgemeinen Angst vor Bankenpleiten geführt. Der Fall der Ölpreise und die Begrenzung der Kreditvergabe an Unternehmen verschärfen die Lage. Auch die Arbeitslosenzahlen steigen weiter.

Ahmadinedjad setzt seine repressive Politik fort und betreibt Subventionsabbau und Umstrukturierung der Wirtschaft. Er zieht den knallharten kapitalistischen Kurs durch, den IWF und Weltbank seit nun fast 20 Jahren fordern und woran die Vorgängerregierungen immer wieder gescheitert sind. Gleichzeitig federt er die geplanten Subventionsstreichungen mit minimalen Existenzgeldzahlungen an etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung ab. Nicht mehr die Preise von Brot und Benzin usw. werden runtersubventioniert, sondern die "Bedürftigen" erhalten direkt Zahlungen vom Staat.

Diese Politik verbündet ihn objektiv mit der sozialen Basis von Mussawi, also einem Teil der Bourgeoisie und der Unternehmer. Über die Mittel gibt es Unstimmigkeiten, die Ziele sind die gleichen.

Spätestens seit anlässlich der Beerdigung von Großajatollah Montaseri Ende Dezember zehntausende auf die Straße gingen, sind drei Dinge klar geworden: Die Ereignisse lassen sich genauso wenig zurückdrehen wie die sozialen Veränderungen, deren Ausdruck sie sind. Trotz massiver Repression gehen immer wieder Leute auf die Straße. Gleichzeitig werden die Demonstrationen in dem Sinne radikaler, dass sie sich nicht mehr auf die Wahlalternative vom letzten Sommer begrenzen lassen.

Es muss sich aber erst zeigen, ob die Bewegungen eine "Autonomie" entwickeln können:

Unter der massiven Repression sucht sich die Protestbewegung die Orte und (Jahres-)Tage, an denen sie sich artikulieren und breiter werden kann (der Jahrestag des Februaraufstands wird der nächste sein). Sie radikalisiert sich zwar, bleibt aber auf die Straßen begrenzt, mit Aktionen von ArbeiterInnen (obwohl es auch da Zeichen von Organisierung in Komitees gibt!) kommen sie noch nicht zusammen. Die Protestbewegungen haben die Sympathie vieler ArbeiterInnen und "normaler Leute".

Vielen Linken und linken Intellektuellen macht die Situation eher Angst. Viele von ihnen haben sich von der "Gewalt von beiden Seiten" distanziert, auch Asaf Beyat (den wir im letzten Heft zur Lektüre empfohlen hatten).

Die Riots an "Aschura" waren die Wasserscheide. Danach erklärte sich Mussawi durch die Blume zu Verhandlungen mit dem Regime bereit. Und viele Linke sind auf diesen Kurs eingeschwenkt. Die Formel heißt: "wir müssen einen Ausweg aus der Krise" finden, was bedeutet: "Iran muss zur Ruhe kommen".

Wir wollten nochmal auf die historischen Möglichkeiten 1979 hinweisen: Revolution! Auch heute wieder hat die Entwicklung im Iran weltweite Bedeutung - nicht nur für die "islamische Welt" (z.B. Öl). 1979 stand "Demokratie" für ein stufenweises "Rüberwachsen" in eine bessere Welt, was letztlich den Blick auf die damaligen Möglichkeiten verstellte. Heute ist es für die Protestbewegungen die Chiffre gegen eine brutale Diktatur und Zeichen des Aufbruchs. Aber "Demokratiebewegung" ist eine zu enge Klammer. Die Potentiale der aktuellen Protestbewegungen im Iran wie ihre Bedeutung für andere Teile der Welt kriegen wir nur in den Blick, wenn wir sie eben nicht als "Demokratiebewegung" festzurren.


Randnotizen

Seit mehreren Jahren redet sowohl das islamische Regime wie auch der Westen von der "islamischen Revolution". Von einer Revolution der Iraner, oder einer "Volksrevolution" zu sprechen, würde ihren Klassencharakter verschleiern.

Savak: Saseman Amniat va Etelaot Keschwar, iranischer Geheimdienst von 1957 bis 1979

Anmerkungen

1) nach: Khosroshahi, Yadullah: Khaterati az Zendegi va Mobareze ye Kargaran e Naft (Erinnerungen an das Leben und die Kämpfe der Ölarbeiter), in: Pazhuhesch e Kargari, Nr. 3, Hannover, Frühling 1999, S. 110-111

Yadollah war Gewerkschafter und Arbeiteraktivist. Unter dem Schahregime Mitbegründer der Gewerkschaft der Teheraner Ölraffinerie, später Mitglied des Arbeiterrats der Raffinerie. Wegen Streiks und anderen politischen Aktivitäten war er zu Zeiten des Schahs und Chomeinis in Haft. Am 4. Februar dieses Jahres ist er nach einem Schlaganfall in London gestorben.

2) Yasdi, Ebrahim: Akharin Talasch ha dar Akharin Ruz ha (Letzte Versuche an letzten Tagen), Teheran 2000, S. 89-98

Pierre Salinger: America Held Hostage: The Secret Negotiations, 1981, Die iranische Revolution als US-Verschwörung? in: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/28/28575/1.html

Lesenswert: Ein Funke in der Nacht, Islam und Revolution in Iran 1978-1979 von Serge B. Ricianer + Komitees und Räte: Die Aktion, Heft 208, (S. 34ff)

Raute

can anyone say communism?

KRISE UND KRITIK.
Die politische Praxis dieser Verknüpfung ist der Kommunismus. Krise ist nicht Krankheit im Unterschied zu einem vorgeblich normalen Verlauf, sondern die rasche Veränderung im Krankheitsverlauf - so wie der Begriff früher in der Medizin gebraucht wurde. Sie fällt nicht immer mit einer Gelegenheit zusammen, sondern ist der Moment der Gefahr. Aber es geht nicht darum, aus dem Tunnel heraus zu kommen und weiter auf den gewohnten Gleisen zu fahren, sondern darum, den Ablauf zu unterbrechen und einen anderen Weg einzuschlagen.


DER HOCHMUT DER SIEGER.
Die Niederlage der Arbeiterkämpfe in den letzten 40 Jahren und der Ausgang des Kalten Kriegs hat die Sieger mit Hochmut erfüllt. Durch die Gleichsetzung der Moderne mit Freiheit, Demokratie und Menschenrechten kann sich die westliche Zivilisation als Vollendung der Geschichte ausgeben. Zum vorgeblich unbedingten Charakter ihrer politischen Werte passt einzig die Mission, der Export von Demokratie und Menschenrechten, Politik zur Durchsetzung ihrer Geschichtsauffassung. Noch immer erschrocken vom Gespenst des Kommunismus, zerstören die "Sieger" nun die Errungenschaften der Arbeiterbewegung und den Rechtsstaat selbst, der ihnen im Kampf gegen den "Totalitarismus" doch so am Herz gelegen hatte. Dabei breitet sich ihre Angst auf die ganze Gesellschaft aus und schafft eine Wahnwelt, die auf dem Begriffspaar Gefahr / Sicherheit aufbaut (Vogel-, Schweinegrippe, Tief Daisy, Nacktscanner, Vorratsdatenspeicherung, Frontex...).

Aber wenn die Hochmütigen den Rechtsstaat zerstören und den Sozialstaatsgedanken angreifen, dann ist es nicht Aufgabe der Kommunisten, diese zu verteidigen. Stattdessen müssen wir ihnen die reale Macht entgegenstellen, die sie gezwungen hat und zwingt, erschrocken gegen ihre eigenen Institutionen vorzugehen. Diese Macht hat eine Tradition und einen Namen.


KANN MAN KLASSENKAMPF SAGEN?
Die europäischen Sozialdemokratien sind am Ende. Sie haben nur die bereits von der Arbeiterklasse eroberten kollektiven Rechte verwaltet und jetzt, da diese Rechte angegriffen werden, ist auch ihre administrative Rolle zuende. Um den autoritären Niedergang zu verhindern, hätten sie den Klassenkampf ermutigen müssen. Stattdessen haben sie eine unwahrscheinliche soziale Versöhnung propagiert. Wer den Klassenkampf ins blutige vergangene Jahrhundert verbannen will, braucht sich über die autoritäre Rückbildung des Rechtsstaats nicht zu wundern.


1. WAS ZUR HOELLE IST WASSER?
What the hell is water? Zwei jungen Fischen kommt ein älterer Fisch entgegen geschwommen. Er macht ihnen ein Grußzeichen und sagt: "Guten Tag, Jungs, wie ist das Wasser?" Die beiden schwimmen ein Stück weiter, dann wendet sich der eine junge Fisch fragend an den anderen: "Was zum Teufel ist Wasser?" - Uns interessiert weniger, wer der alte Fisch war, sondern seine Frage! Die Naturalisierung der kapitalistischen Produktionsweise macht die Gegenwart zu einem ahistorischen Truggebilde, somit wird die Frage nach wirklicher politischer Veränderung - nach dem Kommunismus - undenkbar. Um revolutionäre Politik neu zu begründen, brauchen wir eine andere Auffassung von Geschichte; wir müssen sie als politische Kategorie begreifen.

Es gibt eine kommunistische Geschichte, die nicht ins Archiv gehört; mehrere Generationen haben immer wieder versucht, den Kurs der kapitalistischen Moderne zu unterbrechen, um eine andere Geschichte beginnen zu lassen. Diese Möglichkeit müssen wir offen halten, indem wir die Vergangenheit als unvollendet verstehen, vom Spartakusaufstand bis zu den Bauern von Müntzer. In der kapitalistischen Konfiguration nennt sich dieser Kampf Kommunismus und ist mit dem Namen "Marx" verbunden. Und weil seine Probleme leider noch immer auch die unseren sind, müssen wir das Uneingelöste dieser Anfänge immer mitdenken.


2. DEN KOMMUNISMUS BESTIMMEN.
Der Stalinismus hat auch noch die brutalsten Schandtaten der kapitalistischen Akkumulation als Etappen beim Aufbau des Sozialismus gerechtfertigt. Die Sozialdemokratie machte aus Marxens Diktum in der Deutschen Ideologie vom Kommunismus als "wirklicher Bewegung, die den jetzigen Zustand aufhebt" die Variante von Bernstein: "Das Ziel ist nichts, die Bewegung ist alles". Der Kommunismus als Ideal, als Ziel, das man anstrebt, das aber nicht zu verwirklichen ist.

Stalinisten und Sozialdemokraten hatten dieselbe Geschichtsphilosophie vom Fortschritt und der Entwicklung der Produktivkräfte. Dieses Verständnis, das auch die faschistischen Technokratien teilten, lebt fort in der eurozentristischen Geschichtsauffassung, die neun Zehntel der Welt als Überreste betrachtet. Auch das postmoderne Weltbild ist ein lupenreines Produkt der Moderne. Sein Nebeneinanderstellen von historischen Zeiten, von Formen bäuerlicher Sklaverei neben high tech Produktionen, erklärt nichts, sondern verschleiert und unterschlägt, dass sie vom Weltmarkt gewaltsam synchronisiert werden.

Das postmoderne Nebeneinanderstellen einer Vielfalt von in-differenten Zeiten lässt nur eine mögliche Differenz gelten: die zwischen "Moderne" und "Postmoderne". Aber diese Verräumlichung der Zeit ist nur das Umkehrbild der härtesten Verzeitlichung des Raums. Die Postmoderne setzt die verschiedenen Zeiten in der Gleichzeitigkeit räumlich nebeneinander und reproduziert nur die Erscheinung, während die Moderne aus der eigenen Zeitlichkeit heraus die Zeiten hierarchisiert und in Konflikt zueinander stellt.


3. ZEITSCHICHTEN.
Die Begegnung von Marx mit den russischen Volksfreunden und seine letzten anthropologischen Studien bringen ein Problem zum Vorschein. Die vier Entwürfe des berühmten Briefs an Wera Sassulitsch stellen zwei für das Verständnis des Weltmarkts und eine ihm ebenbürtige Politik wesentliche Fragen. Wer diese Fragen ignoriert, stellt sich in die Tradition des offiziellen Marxismus, der jene Briefe als handgreifliches Zeichen "des Niedergangs von Marxens scholastischer Fähigkeit" sah.(1)

Die kapitalistische Produktionsweise integriert verschiedene Produktionsformen, aber ohne den Begriff des Werts bleibt dieser ganze Zusammenhang unverständlich. Die gewaltsame Integration in den Weltmarkt wirbelt bestehende soziale Verhältnisse und historische Formationen durcheinander, die aber nicht als Stadien auf einem historischen Fortschrittsbalken verstanden werden können, sondern als übereinandergelagerte Zeit-Schichten: "ebenso wie in den geologischen Formationen gibt es auch in den historischen Formationen eine ganze Reihe von primären, sekundären, tertiären etc. Typen."(2) Wenn man die historischen Formen nicht entlang eines Zeitstrahls von der Vergangenheit zur Gegenwart anordnet, sondern wie "geologische Formationen", in denen das schon Gewesene neben dem Jetzt existiert, wird die gemeinsame Anwesenheit von Zeitlichkeiten auf einer Oberfläche denkbar. Hat man einmal die Perspektive des historischen Flatlands verlassen, werden verschiedene pathways sichtbar. Und zwar nicht, weil die unterschiedlichen historischen Zeitlichkeiten voneinander unabhängig sind, sondern im Gegenteil, weil sie zwangsweise synchronisiert werden und sich dieser Synchronisierung widersetzen.

Die von Marx geschätzten russischen "Volksfreunde" wie Tschernischewski verspürten keine romantische Nostalgie für die alten Formen der bäuerlichen Gemeinschaft. Sie suchten nach der Möglichkeit von historischen Sprüngen: Russland muss nicht erst die Phase der "Auflösung der Gemeinde der russischen Bauern" durchlaufen, wenn sich die unterschiedlichen Situationen, die nebeneinander liegenden "geologischen Formationen" befruchten.


4. ZEITSPRUENGE UND ANACHRONISMEN.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts versuchte Ernst Bloch mit dem Bild des Multiversums über kapitalistische Ungleichzeitigkeiten nachzudenken, die vom Marxismus als historische Überbleibsel behandelt und zum Treibstoff des Nationalsozialismus wurden. Bereits der späte Marx hatte damit begonnen, sich die historische Zeit neu zu erarbeiten, als Antwort auf das Scheitern sowohl der Pariser Commune wie des Revolutionsmodells des 19. Jahrhunderts vom Aufsetzen der proletarischen Revolution auf den Fortschritt durch die bürgerliche Revolution. In seinen Anmerkungen über die Urgemeinschaften liegt keinerlei Nostalgie oder Romantizismus. Eine Rückkehr zur altertümlichen Gemeinschaft ist weder möglich noch erstrebenswert. Dort war der Gemeinbesitz an Land mit einer rigiden Arbeitsteilung verbunden. In einer "höhern ökonomischen Gesellschaftsformation" geht laut Marx das Eigentum nicht in die Hand der ganzen Gesellschaft oder gar des Staates über, nicht einmal in die Hände aller gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen! Diese sind nicht Eigentümer, sondern nur Besitzer der Erde. Die Menschen als ihre "Nutznießer haben sie ... den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen."(3)

Das verbesserte Hinterlassen ist nur möglich, weil der Kommunismus am aktuellen Stand vergegenständlichter Arbeit ansetzt, sowohl in Bezug auf ihre produktiven wie in Bezug auf ihre destruktiven Potenzen. Der Kommunismus ist der kapitalistischen Produktionsweise in jedem Punkt entgegengesetzt.


5. SITTLICHKEIT
"Wenn die kommunistischen Handwerker sich vereinen, so gilt ihnen zunächst die Lehre, Propaganda etc. als Zweck. Aber zugleich eignen sie sich dadurch ein neues Bedürfnis, das Bedürfnis der Gesellschaft an, und was als Mittel erscheint, ist zum Zweck geworden. Diese praktische Bewegung kann man in ihren glänzendsten Resultaten anschauen, wenn man sozialistische französische ouvriers vereinigt sieht. Rauchen, Trinken, Essen etc. sind nicht mehr da als Mittel der Verbindung oder als verbindende Mittel. Die Gesellschaft, der Verein, die Unterhaltung, die wieder die Gesellschaft zum Zweck hat, reicht ihnen hin, die Brüderlichkeit der Menschen ist keine Phrase, sondern Wahrheit bei ihnen..."(4) Das Mittel als Zweck. Die kommunistische Ethik des Gemeinsamen verbindet sich mit einer Anti-Teleologie der Geschichte. Der Verein, die gemeinsame Praxis der kämpfenden Arbeiter, ist kommunistische Vorwegnahme. Die in dieser Praxis enthaltenen Beziehungen werden ihrem Wesen nach bereits als das zu erreichende Ziel begriffen. Der Stalinismus war das Gegenteil kommunistischer Sittlichkeit. Der Personenkult, der noch immer in der Begeisterung für starke Führer fortlebt, rechtfertigt die heute begangenen Abscheulichkeiten mit der zukünftigen Herstellung des Reichs der Freiheit. Eine politische Organisation, die einem Einzelnen eine Führungsposition zuerkennt und politische Aktionen durchführt, die lediglich ihren Bekanntheitsgrad steigern sollen, vertagt den "Kommunismus" in eine nicht zu erreichende Zukunft. Was unterscheidet einen Führer, der beschließt, welcher Militante im Zuge einer politischen Aktion geopfert werden kann, vom faschistischen Parteifunktionär oder vom Vorarbeiter, der entscheidet, welche Arbeiter einen mit Giftgas verseuchten Tank zu reinigen haben?

Revolutionäre Praxis kann nicht mit einem äußerlichen Kriterium beurteilt werden, weder dem einer noch zu verwirklichenden Zukunft noch dem einer zu zerstörenden Welt. Es muss der Praxis selbst innewohnen, so wie "die glänzenden Resultate der sozialistischen französischen ouvriers", von denen Marx spricht. Das Glück ist keine "Beute, die an den Sieger fällt", sondern bereits "im Klassenkampf zugegen".(5) Diese kommunistische Vorwegnahme stellt das Bestehende in Frage: die Herrschaft der Sieger und einen jeden ihrer gegenwärtigen oder vergangenen Siege. Diese Vorwegnahme fassen wir in Anlehnung an Hegel(6) als Kommunistische Sittlichkeit.


6. DER BUERGERKRIEG ALS REGEL.
"Der Kapitalist behauptet sein Recht als Käufer, wenn er den Arbeitstag so lang als möglich und womöglich aus einem Arbeitstag zwei zu machen sucht. Andrerseits schließt die spezifische Natur der verkauften Ware eine Schranke ihres Konsums durch den Käufer ein, und der Arbeiter behauptet sein Recht als Verkäufer, wenn er den Arbeitstag auf eine bestimmte Normalgröße beschränken will. Es findet hier also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt. Und so stellt sich in der Geschichte der kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeitstags als Kampf um die Schranken des Arbeitstags dar - ein Kampf zwischen dem Gesamtkapitalisten, d.h. der Klasse der Kapitalisten, und dem Gesamtarbeiter, oder der Arbeiterklasse."(7)

Hier wird ein wichtiger Perspektivwechsel vollzogen. Der Kampf um den Arbeitstag wird zunächst vom Standpunkt des Rechts aus betrachtet: Gleiche Rechtssubjekte, die sich in einem symmetrischen Verhältnis zueinander befinden, kaufen und verkaufen die Ware Arbeitskraft. Jeder bemüht sich, seine Ware so teuer wie möglich zu verkaufen und so billig wie möglich zu kaufen. Die Gesetze des Marktes werden respektiert und es kommt zu keinerlei Ungerechtigkeit. Weil die Ungerechtigkeit vom Recht verdeckt wird. Eben darin besteht seine Funktion. Steigt man aber hinab in die Stätten der Produktion, dann "verwandelt sich, so scheint es, schon in etwas die Physiognomie unsrer dramatis personae. Der ehemalige Geldbesitzer schreitet voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach als sein Arbeiter; der eine bedeutungsvoll schmunzelnd und geschäftseifrig, der andre scheu, widerstrebsam, wie jemand, der seine eigne Haut zu Markt getragen und nun nichts andres zu erwarten hat als die - Gerberei."(8) Die Prosa des Kapitals ändert sich: Die Neutralität des Rechts weicht der "Neutralität" der Reports der Fabrikinspektoren. Marx reiht Zitate aus den Reports aneinander und ergänzt sie um Kommentare, die der Gruselkammer des Kapitals entstammen: Überall hausen Vampire und Werwölfe. Der Abstieg in die Stätten der Produktion zeigt, dass es im Klassenkampf nicht einfach um etwas mehr Geld geht, sondern um einen Kampf auf Leben und Tod - bei dem es aber nicht nur um das physische Überleben geht, sondern um ein wirkliches Leben.

Die Produktionsverhältnisse zeigen sich als das, was sie sind - als asymmetrische Verhältnisse. Verkauft ein Subjekt seine Arbeitskraft, dann hat es damit sein eigenes Leben verkauft, das Gebrauchsrecht über den eigenen Körper und Geist. Die Asymmetrie tritt als die Wahrheit des vom Recht verdeckten Verhältnisses hervor. Das Rechtswesen zeigt sich als das, was es in Wirklichkeit ist: als Bürgerkrieg. Nur, dass man die "Geschichte der kapitalistischen Produktion" nicht dadurch überwindet, dass man diesen Bürgerkrieg gewinnt. Denn es gibt keinen "gerechten Lohn"; als gerecht kann nur die Zerschlagung des Lohnverhältnisses, also des beständig zwischen den Klassen ausgetragenen "Bürgerkriegs" gelten. Der Proletarier ist nicht einfach der Ausgeschlossene, der verlangt, in eine neue Ordnung miteinbezogen zu werden, sondern er ist derjenige, der, weil er kein Proletarier sein will, die Ordnung zerstören muss, die aus Menschen Proletarier macht.


7. STAAT, RECHT, KLASSE
Nichts hat die (deutsche) Arbeiterklasse mehr korrumpiert als die Vorstellung, mit dem Strom schwimmen zu können, d. h. mit dem Fortschritt. Walter Benjamin hat diesen Gedanken zum Zeitpunkt einer entsetzlichen Gefahr artikuliert: zu dem Zeitpunkt nämlich, als der Nationalsozialismus, die Sozialdemokratie und der Stalinismus konzertiert auf die Liquidierung des Klassenkampfes für den Kommunismus hinarbeiteten. Tatsächlich ist die Idee des Fortschritts der des Kommunismus unmittelbar entgegengesetzt: Sie erzeugt vor allem die falsche Vorstellung, aus den Kämpfen für die Anerkennung bestimmter Rechte, also aus der "natürlichen Entwicklung" der Zivilisation des Rechts könnten bessere Arbeitsbedingungen, garantierte soziale Rechte und kollektive Arbeitsverträge hervorgehen, die Vorstellung also, die kapitalistische Produktionweise lasse sich zwar nicht endgültig überwinden, aber doch schrittweise zähmen und zivilisieren. Aber nur wenn die Klasse als Kollektivsubjekt mit einem ihr eigenen Recht auf Gewaltanwendung auftritt,(9) können soziale und kollektive Rechte dem Normalzustand der kapitalistischen Produktionsweise entgegengesetzt werden, also der Atomisierung, die mit individuellen Rechten und Verhandlungen einhergeht.

Die Arbeiterklasse ist das einzige Subjekt, dem es mit dem Streikrecht gelungen ist, sich ein Recht auf Gewaltanwendung parallel zum Staat und gegen ihn zu erkämpfen. In diesem Szenario ist der Staat nicht der geschäftsführende Ausschuss einer Klasse, sondern ein Bekämpfer des Klassenkampfs. Er kann sich durchaus auch genötigt sehen, die Interessen des Proletariats oder eines Teils der Bourgeoisie gegen andere Interessen zu verteidigen. Da sich der moderne Staat aber nur zu atomisierten Rechtssubjekten verhält, geht er gegen jede Form kollektiver Rechte vor und eignet sich, sobald er kann, das Recht auf Gewalt wieder an, das ihm die Arbeiterklasse entrissen und entgegengesetzt hatte. Vor diesem Hintergrund lässt sich das Staunen über die autoritäre Implosion des Rechtsstaates mit dem Staunen des Fischs vergleichen, der, nach der Wassertemperatur befragt, zur Antwort gibt: "What the hell is water?" Eben: Die Hölle. Die Verrechtlichung, die in den Kämpfen um Anerkennung der verschiedensten Ansprüche angestrebt wird, begleitet und produziert die Entpolitisierung des Sozialen, und damit auch die Herrschaft einer Gewalt, der "demokratisch" nicht widerstanden werden kann.


8. MASCHINEN UND WISSEN.
"Als das rastlose Streben nach der allgemeinen Form des Reichtums treibt aber das Kapital die Arbeit über die Grenzen ihrer Naturbedürftigkeit hinaus und schafft so die materiellen Elemente für die Entwicklung der reichen Individualität, die ebenso allseitig in ihrer Produktion als Konsumtion ist [...]."(10) So schafft die kapitalistische Produktionsweise die Grundlagen für das gesellschaftliche Individuum, eine neue Gesellschaftsformation und eine neue Anthropologie.

Im Maschinenfragment versucht Marx, ein Wörterbuch für den Kommunismus zu erarbeiten. Das "gesellschaftliche Individuum" und das "gesellschaftliche Hirn" sind Produkte dieser Produktionsweise, weisen aber zugleich über sie hinaus. Mit dem Ausdruck "gesellschaftliches Hirn" verweist Marx auf die Potenzialität des Gattungswissens, das Hirn ist nicht mehr nur der Inhalt eines einzelnen Schädels. Die aktuelle Krise der Wissenszweige und des gesamten Bildungssystems ist ein Symptom dieses Prozesses, durch den das Wissen zunehmend gesellschaftlichen Charakter annimmt. In der Seefahrt sind heute andere Kenntnisse erforderlich als jene, über die ein Segler einst verfügen musste. Viel davon ist in elektronischen Geräten und nautischen Unterlagen objektiviert; niemand könnte das eigenständig leisten. Obwohl viele auf die "ganze Technik" schimpfen und "einfacher leben" wollen, würde niemand ernsthaft das heutige kollektive Wissen gegen das eines antiken Steuermanns eintauschen wollen. Die Objektivierung des Wissens erreicht inzwischen den Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften. Der Einzelne erscheint in den gegenwärtigen Produktionsverhältnissen womöglich unwissender als ein Hochschulabsolvent aus dem letzten Jahrhundert. Wenn man aber nicht nur auf Individuen und individuelle Hirne blickt, sieht die Sache ganz anders aus. Vom Standpunkt der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit aus betrachtet ist das Wissen nicht verkümmert, sondern es hat sich ausgeweitet. Was romantisierend als Kulturverlust beklagt wird, ist in Wirklichkeit ein Schritt zur Produktion kulturell individualisierter Subjektivität im globalen gesellschaftlichen Wissen. Von diesem in Form von Informationen objektivierten Wissen ist mehr erhältlich, und es steht mehr Menschen zur Verfügung, als noch vor zwanzig Jahren. Kulturell steht heute ein Jugendlicher aus Singapur, Mailand oder Taiwan einem aus Tokio, New York oder Paris näher, als vor fünfzig Jahren ein Einwohner Schwabings einem Gleichaltrigen aus Mecklenburg. Aber dieses objektivierte Wissen muss neu angeeignet werden, sonst bleibt es Ausdruck kapitalistischer Herrschaft und bringt nicht gesellschaftlichen Reichtum, sondern Elend hervor. Die Analyse der neuen Formen der Produktion und des Wissens muss also gleichzeitig Wissenschaftskritik sein. Jedes ernsthafte Nachdenken über Alternativen zum Kapitalismus muss die globale Ebene in die Perspektive nehmen, ja muss von ihr ausgehen! Nationalistische oder regionalistische Abkopplungen wie Keynesianismus und Freigeld sind faktisch unmöglich. Keynesianismus war historisch die Hochphase technokratischer Entwicklungspolitik von oben, eine bewusste Strategie zur Zerstörung von Basisinitiativen, die erst von den Aufständen und Klassenkämpfen in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts gestoppt wurde.(11) Freigeldtheorien haben eine Affinität zu antisemitischen "Krisenerklärungen".


9. WELTMARKT / GLOBALE ARBEITERKLASSE.
Die Musik spielt heute global! Im Kriseneinbruch Anfang der 90er Jahre hat KH Roth das mit seinen Proletaritätsthesen herausgearbeitet: es findet eine globale Nivellierung statt bei gleichzeitiger Verschärfung der Klassengegensätze und der sozialen Ungleichheit.(12) Das ist heute offensichtlich geworden und springt in die Augen. Zum ersten mal geht die Hauptstoßkraft der Klassenkämpfe nicht mehr Richtung Entwicklung, die KPs haben ausgedient.(13) Zum ersten mal ist eine globale Arbeiterklasse in der Lage, den kapitalistischen Fortschritt zu kritisieren und damit wirklich den Kommunismus - und nicht den "Aufbau des Sozialismus" - auf die Tagesordnung zu setzen. Und zum erstenmal ist eine globale Arbeiterklasse gleichzeitig von einer kapitalistischen Weltwirtschaftskrise betroffen.(14)


10. KOMMUNISMUS.
Nur die aus dem Kapitalverhältnis heraustretende Arbeiterklasse kann die aktuellen Probleme der Menschheit lösen. Nur von der globalen produktiven Kooperation ausgehend können die Probleme von Technikkritik, Hunger, Umweltzerstörung usw. angegangen werden. Die Aneignung der ungeheuren Masse an vergegenständlichter Arbeit und das Umdrehen der produktiven Kooperation zeigen den Weg. Hier ist Benjamin gegen die üblich gewordene Verflachung seiner Geschichtsthesen in Schutz zu nehmen; er sah nicht nur in der Klasse das einzig mögliche "Subjekt historischer Erkenntnis", sondern er rückte auch mit Marx die Grundverbohrtheit der Sozialdemokratie zurecht, die bereits im Gothaer Programm die Arbeit als "Quelle alles Reichtums und aller Kultur" vergöttert hatte.(15) Kommunismus ist Abschaffung der Arbeit. Aus Akkumulation um ihrer selbst willen und (Zwang zur) Arbeit wird freie Tätigkeit.


Anmerkungen

1) Vgl. H. Wasa, Marx and revolutionary Russia, in: T. Shanin (Hg.), Late Marx and the Russian Road. Marx and "the peripheries of capitalism", New York, Monthly Review Press, 1983, Seite 42.

2) Marx an Wera Sassulitach, in MEW 19, S. 386ff.

3) K. Marx, Das Kapital, Band III, MEW 25, S. 784.

4) K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, MEW 40, S. 553-4.

5) W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: Schriften, Frankfurt am Main 1982, Bd. I/2, S. 694.

6) G.W.F. Hegel: "Die Sittlichkeit ist die Idee der Freiheit..." in Grundlinien der Philosophie des Rechts § 142; zur Kritik an Kants Begriff von Sittlichkeit vgl. auch § 135.

7) Marx, Das Kapital Bd.1, 23, S. 249.

8) Marx, Das Kapital, Bd.1, MEW 23, S. 191.

9) M. Tomba, Another kind of Gewalt. Beyond Law. Re-Reading Walter Benjamin, in: Historical Materialism 17 (2009), S. 126-144.

10) K. Marx, Grundrisse, MEW 42, S. 244.

11) Vgl. Gabriel Kolko: Main Currents of American History, 1984

12) Karl Heinz Roth, Die Wiederkehr der Proletarität, Köln 1994

13) Vgl. Loren Goldner, Der Kommunismus ist die materielle menschliche Gemeinschaft. In Wildcat-Zirkular Nr. 46/47

14) Vgl. Wildcat 82, August 2008: Was nach der Bauern-Internationalen kommt

15) Vgl. W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, a.a.O.

Raute

"Außerordentliche Geschwätzigkeit" im "Doppel einer kämpfenden und einer regierenden Linken"

Thomas Seibert: Krise und Ereignis; siebenundzwanzig Thesen zum Kommunismus; VSA-Verlag, Hamburg 2009


Gerade haben wir selber in langen Diskussionen ein paar Thesen zum Kommunismus aufgeschrieben, da erscheint ein Buch mit dem vielversprechenden Titel: "Krise und Ereignis; siebenundzwanzig Thesen zum Kommunismus". Na klar, das müssen wir lesen! Vielleicht sind ja ein paar gute Gedanken drin, die uns weiterhelfen? - Viel, viel mehr als "ein paar" - aber leider wenige gute!

"... in seinem Denken (gewinnt) vieles von dem, was im Folgenden den Begriff der transnihilistischen Reformation füllen wird, eine ganz außerordentliche Plastizität, wenn auch nicht nur um den Preis liberaler Einhegung, sondern auch um den einer ebenso außerordentlichen Geschwätzigkeit. Sei's drum, man wird sich zu helfen - und zu bedienen wissen. Ich selbst tue das, indem ich seine Begriffe der 'Vertikalspannung' und der 'Sezession' wie den der zynischen Vernunft für meine Zwecke entwende." (S. 53) Es geht hier um den Sesselfurzer Sloterdijk, dessen reaktionäre Vorstöße zur Abschaffung des Steuer- und Sozialstaats zwecks Wiedereinführung einer "aristokratischen Kultur der Gabe" immer noch irgendwelche Feuilletonisten für "Philosophie" halten. Seine hier geäußerte Ansicht - man könne die politischen Implikationen von Begriffen abstreifen und sie für die eigenen Zwecke "entwenden" - exerziert Thomas Seibert im vorliegenden Buch in Schleifen immer wieder durch. Er zitiert alle und alles, was sich zitieren lässt, von Aristoteles über Marx bis Heidegger, Nietzsche, Negri, Foucault, Fanon, Deleuze, Derrida, Vaneigem, um hier mal nur eine wirklich sehr kleine Auswahl preiszugeben. Und obwohl er im Kapitel "Fragen der Methode" (S. 61-66) die Autorität Debord aufbietet, um den Unterschied von "entwenden" und "zitieren" deutlich zu machen, bleibt er beim "Zitieren" "der theoretischen Autorität", das "Zitat geworden ... (zum) aus seiner Epoche ... gerissenen Fragment geworden ist" (Debord, zit. S. 63). Seibert vertieft keinen der vielen Gedanken, die er im Buch zitiert; seine "Originalität" besteht lediglich darin, das alles am Ende zu einem Aufruf zum Aufbau der Kommunistischen Partei zu montieren.

Seine "Thesen zum Kommunismus" gipfeln in der 27.: "Die spezifisch kommunistische Geduld und ihr unverzichtbares Anderes, die plötzliche Entscheidung, sind kein subjektives Kunststück, sondern noch immer Sache einer Kommunistischen Partei... [verstanden als] Moderate wie Radikale verbindendes Netzwerk ... [das] nach Möglichkeit im Doppel einer 'kämpfenden' und einer 'regierenden Linken' operieren muss." (S. 158 f.) Diese Kommunistische Partei sei auch dann nicht mit den diversen Linksparteien zu verwechseln, "wenn Kommunist/innen an diesen Parteien, damit auch an von diesen Parteien gestellten Regierungen teilnehmen: was einige bereits tun, andere künftig tun werden und alle, die das können, auch wollen sollten." (S. 160) Denn "in den Medien, in Parteien, Gewerkschaften, NGOs und sozialen Institutionen - gegebenenfalls auch in Regierungen" muss nach "Offenheiten für das Ereignis bzw einen ereignishaften Prozess gesucht werden". (S. 163) Die KPD der 20er Jahre hat im Parlament nach dem proletarischen Umsturz gesucht, Seibert sucht nach Offenheiten in Gewerkschaften und Regierungen. So unterschiedlich die Begründungen, so ähnlich das Ergebnis, Gesuchtes nicht gefunden!


Das Gleiten zwischen Staat und Autonomie

Moe Hierlmeier hat das Buch im ak 546 äußerst positiv besprochen und sich dabei auf die beiden Begriffe des Titels konzentriert: Krise(nanalyse) und Ereignis. Da ihm im Vorwort des Buchs gleich zweimal - u.a. als einem der "ersten Leser/innen" - gedankt wird, können wir ihn getrost als Experten nehmen (alle Zitate im folgenden Abschnitt sind aus: Moe Hierlmeier "Zuerst die Politik" in ak 546 S. 30). Hierlmeier zufolge verstehe Seibert die aktuelle Krise als "Konterrevolution" gegen den "Mai 68". Vergessen wir für den Moment unsere Befürchtung, dass Seibert "Mai 68" lediglich als Chiffre für seine vielen situationistischen Anleihen nimmt, und verstehen wir es als die reale Sache, die damaligen weltweiten Kämpfe, Bewegungen und gesellschaftlichen Umwälzungen, dann lässt sich dem Gedanken durchaus folgen: Die kapitalistische Krisenpolitik muss sich noch immer mit diesen Ereignissen und ihren Folgen auseinandersetzen. Aber Hierlmeier macht zwei kleine Verschiebungen und schon steht die Sache auf dem Kopf.

Das genauer anzugucken lohnt deshalb, weil auch das ganze Buch mit solchen diskursiven Techniken operiert.

Eingangs gibt Hierlmeier "die aktuelle Krise geht in der politischen Ökonomie nicht auf" als eine zentrale These von Seibert aus. Dem ist zuzustimmen, denn die Krise geht viel tiefer als ein Konjunkturabschwung, berührt gesellschaftliche und moralische Fragen. Hierlmeier fährt aber fort: "Der ökonomischen Krise entspricht noch lange keine ethisch-politische Krise. Dies verweist auf die Krise des subjektiven Faktors." Womöglich macht jeder dieser drei Sätze Sinn, aber sie ergeben sich nicht auseinander, zwischen dem ersten und dem zweiten liegt sogar ein logischer Bruch. Aber mit schnellen Schritten ist Hierlmeier schon wenige Sätze später dort, wo er hinwollte: "Die Krise ist vor allem eine Krise des subjektiven Faktors". Und für die braucht man natürlich die ganzen Spezialisten von Sloterdijk bis Nietzsche und von Heidegger bis Derrida. "Seibert macht deutlich, warum die Engführung des Marxismus mit Nietzsches Nihilismus und Heideggers Existenzial- und Fundamentalontologie auch heute noch unverzichtbar für eine Krisenanalyse auf der Höhe der Zeit ist." Den Marx "engführen" mit Nietzsche und Heidegger? Wollte Hierlmeier hier nicht das Gegenteil sagen? Egal, "auf der Höhe der Zeit" klingt immer gut - auch wenn's dann gleich wieder ins Zeitlose abgleitet: "Die messianische Denkfigur des Ereignisses ist für jedes linke, radikale Denken unverzichtbar", und der Gesalbte knietief in Realpolitik steht. Um diese zu begründen, werden mal wieder Benjamins Geschichtsthesen aufgerufen - und erbärmlich in ihr Gegenteil verstümmelt. Benjamin habe darauf hingewiesen, "wie sehr ein linearer Fortschrittsbegriff die Sozialdemokratie hilflos gegenüber dem Faschismus gemacht hat." Die Sozialdemokratie hat die revolutionäre Arbeiterklasse 1918 auch militärisch bekämpft und vorher und nachher jeweils mit Parlamentarismus und Fortschrittsglauben hilflos gemacht. Aber Hierlmeier will uns allen Ernstes einreden, die Alternative in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei die zwischen Sozialdemokratie oder Faschismus gewesen. Infam, sich dafür auf Benjamin zu berufen! Wie sehr sowohl Seibert als auch Hierlmeier ihre realpolitische Lektion gelernt haben, drückt sich auch stilistisch aus im routinierten Gebrauch von Floskeln wie "bis dahin muss getan werden, was getan werden muss" (Hierlmeier) oder "man wird sich zu helfen wissen" (Seibert).

Hierlmeier und Seibert hatten den Offenen Brief an die Linkspartei mit unterschrieben. Hierlmeier hatte das in der jungle world mit dem Argument verteidigt: "Die Linkspartei könnte zu einem Katalysator dieses Bruchs werden, der in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. ... Welche Möglichkeiten sich mit der Linkspartei für eine außerparlamentarische Linke ergeben, lässt sich nur bestimmen, wenn man den Spielraum auslotet." Dabei hatte er auf die seiner Ansicht nach sehr positive Zusammenarbeit der Rifondazione mit den "sozialen Bewegungen" in Italien verwiesen. Wäre heute ein Nachdenken drin, gar ein Umdenken, wo die Rifondazione so eklatant gescheitert ist? Buch und Besprechung sind deutliche Hinweise, dass Nein! Beide sind an ihre Realpolitik genagelt wie der Gesalbte ans Kreuz und keineswegs "offen" für Lernprozesse.

Ganz großer philosophischer Popanz. "Hier beginnt das Wächter/innenamt der Philosophie, auch sie ist konstitutiv aristokratischen Wesens" (S. 165). Eine Seite später bestimmt sie sogar, was Wahrheit ist... Aber eigentlich will Seibert am Ende all seiner diskursiven Pyrotechnik doch nur sagen können: "Es ist gut, wenn die IL maulradikal ist und gleichzeitig auf Regierungsbeteiligung hinarbeitet." Wenn jeder Schuld hat (S. 162: "die Partei wie ihre Militanten (laden) auch dann Schuld auf sich, wenn sie sich - was de facto nie der Fall sein wird - nichts vorzuwerfen haben"), macht es auch nichts, wenn die IL mit Bullen zusammen gegen den Schwarzen Block vorgeht.

"Die Zeit des Gleitens zwischen Kalkül und Ereignis, zwischen Staat und Autonomie ist dann aber die Krise selbst..." (S. 163)

Eben.


Randnotizen

Der "Offene Brief an die Linkspartei" wurde 2005 von FelS kurz vor der vorgezogenen Bundestagswahl verfasst und von verschiedenen linken Gruppen und Einzelpersonen unterzeichnet. Er begrüßt die Parteiforderung nach der Abschaffung von Hartz IV und einem Existenzgeld und verlangt nach einer Positionierung gegen die Diskriminierung von MigrantInnen. In erstaunlicher Offenheit wird außerdem die Hoffnung auf eine Verbesserung "der Rahmenbedingungen der eigenen Arbeit" über die Partei ausgedrückt, sprich auf Jobs und Zuschüsse.

Der Brief war ein Bekenntnis weiter Teile der Linken zu Reformismus und Parlamentarismus, Ausdruck grandioser Selbstüberschätzung ("Wir ­... waren auf die eine oder andere Weise an nahezu allen linken Bewegungen, Mobilisierungen, Kampagnen und Protesten der vergangenen Jahre beteiligt") und konstituierendes Moment für die "Interventionistische Linke".

Raute

Ende 2008 stürzten die deutschen Seehäfen in die Krise: In Hamburg strandeten 500 Seeleute, deren Schiffe mangels Ladung festlagen; auf der Raststätte Stillhorn an der A1 standen über Wochen Dutzende (süd-) osteuropäische LKW, die keine Aufträge und kein Geld für die Rückfahrt mehr hatten. Öffentliche Proteste gegen nicht bezahlte Löhne und Entlassungen hat es jedoch kaum gegeben - wie in der Industrie wurden die Kernbelegschaften des Hafenumschlags mit Kurzarbeit über den Kriseneinbruch hinweg "gerettet", gestrandete Seeleute ließ man auf den festgelegten Schiffen "rotieren", die LKW wurden nach und nach in die Heimat gebracht. Die größten Lasten hatten diejenigen zutragen, die schon im Boom der Jahre vorher auf der Strecke geblieben waren: Hafentrucker, Speditions- und Leiharbeiter, deren Grundlöhne so niedrig sind, dass Kurzarbeit keine Alternative zur Entlassung darstellt; Befristete, deren Verträge nicht verlängert wurden usw.

Einen größeren Protest gab es in Bremerhaven. Im Frühsommer 2009 führte dort die Wut über Entlassungen - und vor allem über die massive Herabstufung der Löhne bei Arbeitern mit alten Tarifbedingungen - zu Demonstrationen und schließlich zur Gründung eines Komitees, das seither versucht, den Widerstand im Hafen und darüber hinaus zu koordinieren.

Der Kernpunkt unseres Gesprächs war die Erfahrung mit den vielfältigen Spaltungen, die schon während des Booms angelegt wurden - dieser hat auch unter Arbeitern (relative) Gewinner gefunden: "Kerne", deren Grundlöhne zwar mehr oder minder stagnierten und deren tarifliche Jahresleistungen sogar gesenkt wurden, deren Gesamteinkommen aber durch Erfolgsprämien ihrer Firmen und Zuschläge für Mehr- und Wochenendarbeit deutlich gestiegen ist. "Alte" Arbeiter, die durch den Aufbau neuer Firmen und Belegschaften Aufstiegschancen hatten, auf einmal Vorarbeiter und Meister werden oder sich auf die qualifizierte und anspruchsvollere Arbeit retten konnten, während die monotone und lausig bezahlte Drecksarbeit von den jungen Arbeitern und Arbeiterinnen gemacht werden musste. Dazu noch "junge", die von einem niedrigeren Niveau aus teilweise mit "alten" um ihre Plätze konkurrierten oder neue Aufstiegschancen sahen.

Heute rebellieren vor allem die entlassenen "alten" Arbeiter - wie die notwendige Verbindung mit den Bedürfnissen der bislang im Betrieb Verbliebenen aussehen könnte, bleibt noch offen.

Vom Schauermann zum Scheuermann

Bis Ende der 90er gab es in Bremen/Bremerhaven mit dem staatlichen Umschlagbetrieb "Bremer Lagerhausgesellschaft" (BLG), der drei Viertel des Schiffsumschlags besorgte, und der staatlich geschützten Leihfirma "Gesamthafenbetriebsverein" (GHB) zwei große Betriebe mit hoher tariflicher Absicherung. Um den teuren Hafentarif nicht frontal angreifen zu müssen, sollte sein Geltungsbereich nur immer weiter eingeschränkt werden. Mit der Absicht wurde das zentrale Unternehmen im Hafen umstrukturiert. 1997 wurde die BLG in eine Privatfirma in staatlichem Besitz umgewandelt, schließlich in BLG Logistic Group umbenannt und in drei Geschäftsbereiche aufgeteilt:

Automobillogistik geht über den reinen Umschlag von Export-/Importautos hinaus und umfasst auch das Zerlegen (CKD), Warten und Aufpolieren von Autos. Die entsprechende Tochter heißt BLG Auto-Tec, die "größte Autowerkstatt Europas".
Containerlogistik: 1998 fusionierte die BLG-Containersparte mit der privaten Hamburger Eurokai zu Eurogate; über den Umschlag hinaus werden über ein Netz von Tochterfirmen auch Containerpacken und -reparatur und andere Dienste angeboten.
Kontraktlogistik: Die BLG betreibt z.B. für Tchibo das Europalager für alle Tchibo-Shops.

Die BLG hat nicht nur 3500 Festangestellte, sie ist auch größter Kunde des GHB, der pro Tag im Schnitt 1000 Arbeiter an sie verleiht (Zahlen von 2003). Der GHB selber hat die Bedingungen seiner Beschäftigten stark aufgefächert: Die alten Hafenarbeiter werden weiterhin nach ihrer Stammlohngruppe im Hafentarif bezahlt, Neueingestellte im Containerumschlag erhalten einen befristeten Teilzeitvertrag (30 Stunden) zum Hafentarif, aber schlechteres Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Weiter gibt es zwei abgestufte Kategorien von Distributionsarbeitern und schließlich die Tagelöhner, die "Roten Karten", die keine Arbeitsverträge haben. Sie erhalten nur den Lohn, den die Entleihfirmen an den GHB zahlen. 2008 waren beim GHB 2800 Leute fest eingestellt plus hunderte "Rote Karten". Mit Beginn der Krise mussten die Festen die Arbeitszeitkonten räumen, zwangsweise Urlaub nehmen und in Kurzarbeit gehen. Die Tagelöhner mussten vorübergehend zu Hause bleiben. Im Frühjahr 2009 wurde angekündigt, 800 befristete Arbeitsverträge auslaufen zu lassen. Im Juni bekamen rund hundert Leute ihre Kündigung. Über 200 Arbeiter im Autoumschlag sollten einer Änderungskündigung mit Lohnkürzung zustimmen, was kaum einer akzeptierte.

Dagegen unterschrieben im Oktober die meisten der 1110 Distributionsbeschäftigten des GHB eine Änderungskündigung hin zu einem neuen, noch niedrigeren Tarif. In der Autoverladung schloss die BLG mit Verdi Ende 2009 einen neuen Haustarifvertrag ab, wonach neu eingestellte Fahrer (die die Autos auf die Autodampfer fahren) statt bisher 13 bis 15 Euro nur noch 9 Euro erhalten. Sobald das abgeschlossen war, forderte die BLG Verdi auf, diese Lohngruppe auch in den Flächentarif zu übernehmen, um den GHB zu zwingen, seinen Leuten nur diesen Lohn zu bezahlen. Hier ist der Schauplatz des aktuellen Konflikts.

Um den Druck auf die bislang geschützten Beschäftigten im Containerumschlag zu erhöhen, hat die BLG-Tochter Eurogate angekündigt, ab diesem Jahr keine Leute vom GHB mehr zu beschäftigen - zuerst müsse das eigene Personal mit Arbeit versorgt werden...

Randnotizen

GHB ist ein Konstrukt aus Hafeneinzelbetrieben, der Stadt und der Gewerkschaft, das das gesetzlich garantierte Monopol auf Arbeitnehmerüberlassung im Hafen hat.

Die Tarifverträge für den Bereich "Distribution und Containerpackstationen" (DC-Bereich) erfassen die Arbeiten des klassischen Stauers, die durch die Containerisierung vom Schiff weg verlagert worden sind: Kommissionieren, Packen, Stauen der Ladung.


*


Privatinitiative!

Gespräch mit Aktivisten aus dem Bremerhavener Komitee

Am Bahnhof holen uns Gerd und Rita ab. Leiharbeit ist das Thema, die Perspektive für jemanden, der einen neuen Job sucht - die Zahl der Firmen explodiere geradezu. Die Stadt Bremerhaven feiert, dass die Arbeitslosigkeit "nicht so stark" gestiegen ist, "nur" auf 14 Prozent. Arbeit wird verlangt, aber zu welchem Preis...

Die Löhne befinden sich im freien Fall. In dem Supermarkt, wo sie arbeitet (nebenbei ist sie noch als Tagelöhnerin im Hafen tätig), wurde die alte Reinigungsfirma rausgeworfen. Die neue zahlt 4,70 Euro. Die ARGE zwingt die Leute, solche Jobs anzunehmen.

Die Werften sind weitgehend zu, nur die Lloydwerft macht noch Reparaturgeschäft. Das wird mit extrem vielen Leiharbeitern betrieben. Dann gebe es eine Windkraftanlagenbaufirma, dort würden in der Produktion aber fast nur Leiharbeiter arbeiten, für sieben Euro.

Andre kommt aus Bremen und bat zehn Jahre im Distributionsbereich gearbeitet. Dieter war "freie Spitze", hat überall gearbeitet. Bernd war meist im Autoumschlag, ist aber auch "auf Strecke gegangen", d.h. verschiedene Einsatzorte.


Die Spaltung fing im Boom an.

Andre: Seit der Umstrukturierung hat die BLG nicht nur Hafenarbeit gemacht, sondern auch Distributionsarbeit. Da haben sie dann auch weniger Lohn gezahlt - die höchste Lohngruppe dort entspricht 13,60 Euro [gegenüber etwas über 20 Euro im Hafen]. Aber der größte Teil war nach wie vor Hafenarbeit. Vor vier Jahren fingen sie an, auch hier auszulagern. Sie haben die Hafenarbeiter am Schiff gelassen und sich DC-Kräfte geholt, um die Waggons zu leeren. Nach den neuen Verträgen kriegst du als Hafenarbeiter den Hafentarif nur am Schiff, auf der Landseite gibt es Distri-Lohn. Das war die erste Spaltung.

Verdi hat das Spiel mitgemacht. "Das ist zwar hier ein Hafen, aber wenn ihr sagt, das ist keine Hafenarbeit, dann ist das eben so!" So haben sie einen Keil in die Belegschaft getrieben. Manche von den DC-Leuten haben zwischendurch auch im [tariflichen] Hafen gearbeitet und solange mehr Geld verdient. Man sagte den GHB-Hafenarbeitern, dass die ihnen die Arbeit weg nehmen und Lohndumping betreiben. Die festen BLG-Leute wiederum haben gesagt, "Ich bin fester Hafenarbeiter, ich arbeite nur am Schiff Sollen die GHB-Leute doch erstmal die Waggons leer machen". Die große Gemeinschaft war weg.

Sie haben erstmal nur neue Leute für den niedrigeren Lohn arbeiten lassen und den Lohn der "Alten" gelassen. Dann hast du irgendwann eine ganze Latte von Leuten mit niedrigerem Lohn. Schließlich nimmt der Arbeitgeber den Alten das Geld weg und die Neuen sagen, "Das ist doch nur fair, ich krieg' doch auch nicht mehr!" So ist es hier vor vier Jahren passiert. Sie haben für das neue Hochregallager von Tchibo einen neuen Tarif gemacht - 7,65 Euro, weniger Urlaub und Weihnachtsgeld. Den DC-Leuten vom GHB, die das ganze erst aufgebaut haben, hat man gesagt, "Ihr bekommt euren alten Lohn weiter, keine Angst, nur die Neuen kriegen weniger". Man hat 600-900 Leute neu eingestellt, alles Ungelernte, viele Frauen. Im Flachregallager hast du als Staplerfahrer nach dem alten DC-Tarif 11 Euro gekriegt, im Hochregallager nach dem neuen knapp acht. 2009 waren Tarifverhandlungen. Verdi wollte 6,5%. Die Arbeitgeber sagten: "Nur auf der Basis des neuen Tarifs". Verdi nickte das ab. So gab es formal eine Lohnerhöhung, dafür den Billigtarif für alle, der faktisch für manche Lohneinbußen von 30% bedeutet hat. Beim GHB gab es damit zum 1. Oktober ca. 1100 Änderungskündigungen, die meisten haben unterschrieben.

Bernd: ...Verdi hat sich erpressen lassen. Den Vertrauensleuten haben sie vorgerechnet, wie hoch das Arbeitslosengeld ist und wieviel man nach dem neuen Tarif verdient. Die Vertrauensleute waren überwiegend aus dem Hafen, die hat das vermeintlich gar nicht betroffen, die haben gesagt, "Ok, besser als Arbeitslosigkeit".

Andre: ...Der Krankenstand ging in die Höhe, weil viele Kollegen durch die auf sie zukommenden Existenzängste psychisch erkrankt waren. Zudem mussten viele Kollegen ihren Resturlaub nehmen. Die BLG beklagte Schäden, die von nicht ausgebildeten Aushilfen (Fremdfirmen) sowie auch von unmotivierten Hochfunktionern verursacht wurden.

Im Dezember arbeiteten manche dort durchgehend zehn Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, weil sie niemand nachgekriegt hatten. Nu' geht die BLG da bei und hat Leute von der Job AG geholt. Und wieder werden die Leute gegeneinander ausgespielt. Leute vom GHB, die Heber fahren, kriegen dafür noch 8,83 Euro. Die Leute von der Job AG machen das gleiche für 7,20 Euro. Der erfahrene GHB1er, der 12 Jahre in der Abteilung gearbeitet hat, muss jetzt an die noch schlechter bezahlte Arbeit, während der Job AGler noch nie auf'm Heber gesessen hat und nun das Ding fährt.


Das Komitee

Wie ist es nach euren Kündigungen zur Gründung des Komitees gekommen?

Andre: Privatinitiative. Ich hab gesagt, ich nehm' das so nicht hin. Ich hab neun Jahre bei der Firma gearbeitet, hab meine Arbeit gut gemacht, hab auch gute Jobs gehabt. Von einem Tag auf den anderen sagt man mir: "Morgen kannste zu Hause bleiben, du bist zu teuer!" Das wollte ich mir nicht bieten lassen; bin an die Presse gegangen, hab von mir aus ein paar Wege ausprobiert, bin aber nicht weitergekommen. Und dann bin ich drauf aufmerksam geworden, dass es in Bremerhaven das Komitee gibt. Ich hab mich mit denen in Verbindung gesetzt und bin als Bremer Seite ins Komitee eingestiegen.

Bernd: In Bremerhaven ging es los. Beim Informationsgespräch am 24.6. hatten sie uns knallhart gesagt: "Wenn ihr nicht unterschreibt, seid ihr draußen!" Unser BR-Vorsitzender: "Da kann man nichts machen, ihr könnt ja klagen!" Wir sagten: "Nee!" Erst haben wir versucht, über Verdi was zu machen. Verdi hat uns eiskalt im Regen stehen gelassen. Man müsse die 1000 Leute rausschmeißen, sonst sei der GHB pleite. Da waren wir nicht einverstanden, weil die Auswahl ungerecht war. Man hat langgediente Leute rausgeworfen und Leute behalten, die kurzfristiger im Betrieb waren. Gut, wenn Verdi nichts für uns tut, gründen wir selber was. Wir wollten was machen, wussten aber nicht, was. Dann hat uns die Linke unterstützt und vorgeschlagen, ein Komitee zu gründen. Wir haben uns schlau gemacht, haben Handzettel verteilt, dass wir ein Komitee gründen wollen, und haben uns mit 70 Leuten in einer Kneipe getroffen.

Gerd: Wir haben dort das Komitee gewählt - stimmberechtigt waren nur Mitarbeiter vom GHB. Es waren auch Außenstehende da, z.B. Kollegen von der BLG. Die hatten aber kein Stimmrecht, weil es zu dem Zeitpunkt nur den GHB betraf

Habt Ihr später wieder Versammlungen gemacht, wo neu gewählt wurde?

Gerd: Wir haben im August in Bremen eine Veranstaltung gehabt, und das Komitee wurde durch mehrere Bremer Kollegen durch eine demokratische Wahl erweitert. Wir mussten dann erstmal Hintergrundmaterial besorgen, um einen Arbeitskampf möglich zu machen. Die Leute ein bisschen wach machen, was bei uns abläuft. Aber jedesmal, wenn wir eine Demo oder Infoveranstaltung machten, wurden die Leute auf einmal zur Arbeit verpflichtet, auf andere Schichten gesetzt oder auch für Wochenendarbeit geordert. Einige von denen sind gar nicht mehr im Betrieb. Andere wiederum erreichen wir über die sehr gut besuchten öffentlichen Infoveranstaltungen. Wir diskutieren und kriegen Anregungen, was wir tun und wo wir den Leuten unter die Arme greifen können.

Was habt Ihr mit dem Komitee am Anfang vorgehabt?

Bernd: Es ging darum, dass der Sozialplan ein Unsozialplan war. Wir haben einen Termin mit dem Anwalt gemacht, da waren wir mit 150 Mann, die später alle geklagt haben. Man hätte mit uns reden können und eine andere Lösung finden: Man nimmt aus allen Bereichen gleichmäßig Lohn weg oder nutzt das Konjunkturpaket oder macht Ausbildungen. Aber all das hat man nicht mal in Erwägung gezogen. Als wir gingen, hat man die "Roten Karten" eingesetzt. Es war Mehrarbeit da, man hätte die festen Leute nicht rauswerfen müssen.

Habt ihr zu dem Zeitpunkt versucht, mit Leuten, die nach gearbeitet haben, was gemeinsam zu machen, mit den Tagelöhnern etwa...?

Gerd: Wir haben Demos gemacht, haben darauf hingewiesen, was auf die Leute noch zukommen wird. Aber das hat uns lange keiner abgenommen, Auf dem ersten Flyer, den wir verteilt haben, stand: "Erst wir, dann ihr. Dann Hartz IV!" Die haben uns ausgelacht. Die haben uns nicht geglaubt.

Andre: Zu den Tagelöhnern sagen wir klipp und klar, dass wir keine "Roten Karten" wollen. Das heißt aber nicht, dass wir was gegen die Kollegen haben. Wir fordem, dass sie, wenn sie Arbeiter brauchen, die gleich fest einstellen. Das verstehen manche falsch. Die denken, wir haben was gegen die Kollegen...

Wenn in einer Stadt wie Bremerhaven jetzt immer wieder hunderte Hafenarbeiter durch die Stadt toben, kann das ja z.B. auch Leute der Job AG, die bei Tchibo arbeiten, animieren, sich da anzuschließen...

Bernd: Das ist verdammt schwer. Die Leute denken in erster Linie an sich.

Andre: Die gehen morgens auf Schicht, und wenn sie nachmittags nach Hause kommen, wollen sie nichts mehr von Arbeit hören. Die fühlen sich nicht mehr einer Firma zugehörig - weder der BLG, bei der sie arbeiten, noch der Firma, wo sie angestellt sind. Denen ist egal, was ihr Kollege gerade tut. Das ist schwer zu erklären, aber es ist unglaublich. Wir haben mit so vielen Leuten geredet, wie wir unsere Flyer verteilt haben. Viele haben gesagt: "Jo, wir finden toll, dass endlich mal jemand auf die Straße geht!" Aber all die sind am nächsten Tag nicht gekommen. Für die waren das hält unsere Probleme und unsere Demo.

Könnt ihr einen Punkt benennen, an dem ihr von der Fixierung auf den Sozialplan ein bisschen weggekommen seid und allgemeinere Forderungen gestellt habt?

Bernd: Wir haben ja andere Veranstaltungen besucht, wir waren in Bremen bei dem Krisenbündnis und weiteren Veranstaltungen oder beim Jour Fixe in Hamburg. Wir haben u.a. durch die Demos viele Leute kennen gelernt. Wir haben oft zu hören gekriegt: "Warum hackt ihr auf diesem Sozialplan rum, es geht doch um alle?!" Irgendwann haben wir uns gesagt, dass das richtig ist, es geht ja auch um alle.

Andre: Auf den letzten beiden Demos erst am 4. Januar und jetzt - konntest du merken, dass sich die Stimmung verändert hat.

Bernd: Wir haben über Monate versucht, die Leute zu erreichen. Immer wieder haben wir gehört: "Das geht mich nichts an, ich hab meine Schäfchen im Trockenen!" Jetzt, wo sie selber betroffen sind, haben sie sich angenähert.

Euer gespanntes Verhältnis zu Verdi habt Ihr ja schon angedeutet...

Bernd: Bei der ersten Demo wollten sie uns nicht mal Transparente und Trillerpfeifen geben. Dann haben wir Leute animiert, auszutreten. Es gab in drei Tagen 69 Austritte. Danach gab es eine Solidaritätserklärung für uns von allen Hafenarbeitern, da haben 609 unterschrieben.

Gerd: Wir haben zwei Demos in Bremerhaven gemacht, eine in Bremen. Bei der zweiten in Bremerhaven haben wir Verdi ein bisschen auf die Schippe genommen. Wir hatten einen Wagen mit Hänger, da war der BR-Vorsitzende drauf, mit Peitsche, in einem schwarzen T-Shirt. Die Arbeiter hatten blaue T-Shirts an mit der Aufschrift "Fro(h)narbeiter" [der BR-Vorsitzende heißt Frohn]. Und wir waren von Verdi, wir waren die Nichtsahnenden, wir hatten dunkle Sonnenbrillen auf, eine Blindenbinde um und weiße Stöcke. Vorne stand drauf: "Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen!"

Ihr seid vor der Bundestagswahl bei den Wahlkampfauftritten der verschiedenen Parteien aufgelaufen - ging es euch auch darum, über diese Politiker Druck auf Verdi auszuüben?

Gerd: Dass Verdi mal aus der Hose kommt, genau.

Bernd: Am 9. Dezember hatten wir ein letztes Gespräch mit Beckmeyer [SPD-MdB], es sollte ein Runder Tisch mit dem DGB anberaumt werden. Bethge [zuständiger Verdi-Sekretär] ist nicht erschienen, hatte ausrichten lassen, dass es keinen Runden Tisch braucht. Damit war das Ding geplatzt. Auch von Beckmeyer gibt es seitdem kein Signal mehr. Die Politik hat null Interesse für uns!

Gerd: Dazu muss man sagen, dass Beckmeyer im Aufsichtsrat der BLG sitzt. Genauso wie der Harald Bethge!

Was versucht ihr unabhängig von Verdi zu machen?

Bernd: Bei Mdexx bin ich viel gewesen. Überall, wo wir Kontakt kriegen, sehen wir dieselben Probleme wie bei uns, ob das jetzt Schlecker ist oder die Krankenhäuser. Deshalb wollen wir uns mit denen vernetzen, und ich würde gerne mal eine große Aktion zusammen machen, wo nicht ein bestimmter Betrieb vorne steht, sondern dass wir uns ein Thema nehmen, wie etwa die Zeitarbeit. Die hat hier in Deutschland soviel kaputt gemacht.

Andre: Da laufen jetzt Gespräche, wo Betriebsräte von Schlecker da sind, Leute von Daimler und aus den Krankenhäusern. Bisher sind es überwiegend Betriebsräte und Vertrauensleute, aber wir wollen natürlich auch an die Arbeiter selbst ran.

Gerd: Wir haben über Krisen- und Mayday-Bündnis noch andere Orte, wo Leute gegen Missstände hier in Bremen ankämpfen... Leute vom Mayday in Bremen waren bei unseren Demos, die sind sozial sehr engagiert, die machen Flash-Mobs, um auf gesellschaftliche Probleme hinzuweisen . ... Für uns ist klar, dass wir uns an Aktionen wie dem Flash-Mob bei Schlecker dran beteiligen.

Bernd: Das, was wirjetzt tun, war am Anfang gar nicht unser Ziel. Wir wollten um unsere Arbeitsplätze kämpfen und unsere alten Löhne zurück haben. Was da drumherum passiert ist, was sich da entwickelt hat. Hättest du das vor ein paar Monaten gesagt, hätt ich gesagt, du spinnst.


Nachtrag 27.01.:
Anlässlich einer Diskussionsveranstaltung über die Krise im Hafen versammelten sich vor der "letzten Kneipe vor New York" ca. 60 Hafenarbeiter und Unterstützer. Ein Teil ging rein, um in der Radio-Live-Übertragung die Verdi- und BR-Vertreter anzugehen. Die übrigen blockierten anderthalb Stunden eine Straße in den Hafen und sorgten für einen langen LKW-Stau. Der BR-Vorsitzende Frohn wurde nach der Sendung von Hafenarbeitern angegriffen und musste unter Polizeischutz weggebracht werden. Demonstranten blockierten eine Hafenzufahrt in Bremerhaven.

Raute

Auf den folgenden Seiten:

Hybridmotor oder Klassenkampf - "Neues", damit alles beim "Alten" bleibt?

Das Ende des "Massenarbeiters im Stuttgarter Raum: Drei Interviews mit Arbeitern aus Auto- und Zulieferbetrieben

Wilde Streiks in Sindelfingen im Dezember 2009

Streiks in Spanien im Januar 2010

Wildcat-Streiks in Tschechien


*


Hybridmotor oder Klassenkampf

Der Verbrennungsmotor prägte die kapitalistische Gesellschaft wie wir sie kennen. Seine Krise ist die Krise dieser Gesellschaft.

Der Hybridmotor gaukelt technischen und sozialen Fortschritt vor, in Wirklichkeit ist er eine technologische Sackgasse und repräsentiert eine Niederlage. Er kombiniert das "Alte" (Verbrennungsmotor) mit dem vermeintlich "Neuen" (Elektromotor), um das Image aufzupolieren - damit alles beim Alten bleiben kann. Diese Methode, alles beim Alten zu lassen, macht gerade Schule. Kapital, Staat, Vertretung und der vereinzelte Arbeiter hybridisieren ihre jeweilige Krise. So prägt der Motor weiter alles und jedeN.


So weiter wie bisher?

Die Konjunkturprogramme verhinderten Absatzeinbrüche ins Bodenlose. Mit minus 5,4 Prozent weltweit verkauften Pkw kamen die Automultis 2009 glimpflich davon. Das lag vor allem am Zuwachs in China von 44 Prozent oder 2,5 Millionen neu zugelassenen Pkw. In Europa, Japan, Nordamerika, aber auch Russland (minus 44 Prozent!) waren die Absätze trotz Milliardenstützen rückläufig.

Die Programme nutzten den Automultis und bestimmten sozialen Schichten. In der BRD kam die Abwrackprämie Hartz TV-Empfängern nicht zugute. Trotz seiner überhöhten Preise hatte VW mit fast 18 Prozent den größten Anteil an mittels Prämie finanzierten Fahrzeugen. Die zweistelligen Absatzeinbrüche deutscher "Premiumhersteller" wurden mit dem Zuwachs in China übertüncht. Dort bediente sich vor allem die Ober- und Mittelschicht aus den Fördertöpfen.

Die globale Autoproduktion wird geografisch neu sortiert. 2008 wurden noch drei Viertel aller Autos in der Triade produziert. Aber Schwellenländer und Billiglohnstandorte holen kräftig auf, tendenziell geht es in Richtung 50 Prozent in der Triade, 50 Prozent in BRIC-Staaten. Indiens Produktion liegt nun etwa gleichauf mit Frankreich und Spanien. China zieht mit den USA gleich.

In der BRD setzen die Unternehmen auf die weitere Verdichtung und Optimierung der Arbeit und nutzten die Phase massenhafter Kurzarbeit zu einem breiten Angriff auf die Arbeitsbedingungen. Einerseits investieren sie kräftig; allein Audi, Daimler und VW legten zusammen 17 Milliarden in Sachinvestitionen an, zusätzlich zu den Ausgaben für Forschung und Entwicklung (die Sachinvestitionen der gesamten Industrie brachen dagegen 2009 mit 20 Prozent regelrecht ein). Andererseits werden Teile von Belegschaften und andere Werke, vorrangig Zulieferer, abgewickelt. Bestimmte Regionen trifft dies besonders hart. Gleichzeitig läuft ein gewaltiger Konzentrationsprozess, die gegenseitigen Aufkäufe und Fusionierungen sind in vollem Gang. Die "alten" Hersteller versuchen, mit hohen Stückzahlen und einer breiten Modellpalette weltweit konkurrenzfähig zu bleiben. Die "Neuen" kaufen das nötige Know how hinzu, um eine eigene Fahrzeugproduktion aufzubauen; einige von ihnen beginnen bereits, CKD-Fabriken weltweit aufzubauen.

Nirgendwo ist bisher eine Antwort auf Überakkumulation und sinkende Profite zu erkennen, ein neues Verwertungsmodell ist genauso wenig in Sicht wie ein neues Produkt. Stattdessen werden die staatlichen Abwrackprämien vielerorts neu aufgelegt, und die Automultis versuchen, noch weitergehende Subventionen herauszuschlagen. Die Händler liefern sich eine Rabattschlacht.


Entlassen & Abwickeln

In den USA begegneten Kapital und Staat den Überkapazitäten und dem Profitratenverfall der Autoindustrie mit Fabrikschließungen und Stellenabbau. Milliarden an Staatsgeldern waren nötig, um Unternehmen aufzukaufen und unproduktive Standorte abzuspalten bzw. zu schließen. Vor der Krise waren bereits hunderttausende Stellen abgebaut worden, nun fallen nochmals hunderttausende weg. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit wurde mit der Anhebung des Arbeitslosengelds und der Bezugsdauer von 26 Wochen auf 99 Wochen abgefedert.

In der BRD wurden die Leute noch mit Sonderschichten und Stückzahlerhöhung weiter angetrieben, als die weltweite Autokrise schon lange ausgebrochen war. Die deutschen Autohersteller nutzen jeden Tag, um weiter Autos in den Weltmarkt zu pumpen. Gleichzeitig wurden auch hier bereits im Boom und fast unbemerkt Stellen abgebaut, bei Daimler, Opel und VW jeweils um die 10.000. Die Beschäftigungsverhältnisse änderten sich massiv (Gesetzesänderungen bezüglich Leiharbeit, Befristungen, Hartz IV ...). In den letzten zehn Jahren hat die Anzahl aller Vollzeitbeschäftigten in der BRD um 1,4 Millionen oder sechs Prozent auf 22,4 Millionen ab- und die Teilzeitbeschäftigung um 1,3 Millionen oder 36 Prozent auf fünf Millionen zugenommen. Minijobs sind in den letzten sechs Jahren um 29 Prozent auf über sieben Millionen hochgeschnellt. Und jeder dritte neue Job in den Jahren 2006 und 2007 war Leiharbeit.

Mit dem Kriseneinbruch wurde Kurzarbeit als Allheilmittel gegen Massenentlassungen propagiert. Ohne Kurzarbeit wären 400.000 Arbeitsplätze in der Industrie und eine Million in der BRD mehr weggefallen. Mit Kurzarbeit sind 2009 laut Regierungsangaben 240.500 Industriearbeitsplätze gestrichen worden, der Spiegel beziffert den Abbau allein bei Daimler auf über 5000 Stellen. (Das in einem Umfeld von massiven Entlassungen in der BRD: Quelle, Siemens, Thyssen-Krupp, Metro...)

In diesen Verschiebungen stehen die Autoarbeiter in der BRD heute da, wo die Bergarbeiter Ende der 50er Jahre standen. Aber viele Bergarbeiter gingen damals in die neu gebauten Autofabriken. Heute gibt es kein solches Auffangbecken. Schwer erklärlich, dass vor diesem Hintergrund die Propaganda "Technologiestandort Deutschland" immer noch zieht. Immer wieder wird einzelnen Abteilungen oder Belegschaften eine rosige Zukunft vorgegaukelt. "Wir werden kürzen, aber auf diesen Standort (diese Abteilung, diese Berufsgruppe usw.) können wir nie verzichten!"

In den Streiks der letzten fünf Jahre war die Spaltung zwischen "Produktion" und "Entwicklung" meist entscheidend für die Niederlagen oder schlechten Kompromisse; in den seltenen Fällen, wo beide Bereiche gemeinsam kämpften, konnte viel mehr durchgesetzt werden. Der jetzige Angriff ist wesentlich umfangreicher, aber nicht unbedingt leichter zu durchschauen. Er betrifft Bandarbeiter, Entwickler und die Hierarchie selber.


Verdichten & Optimieren

In den USA schlug die Krise unmittelbar auf die (Auto-)ArbeiterInnen durch. Die Werke der Big Three wurden an die Standorte im Süden der USA bezüglich Durchlaufzeiten, Arbeitszeiten und Löhnen angeglichen. Durch massiveren Stellenabbau haben die amerikanischen Standorte die Produktivität z.B. der deutschen Konkurrenz überholt. Durch den üblichen Mix aus noch mehr Staatsknete, noch stärkerer Kostensenkung und noch höheren Stückzahlen konnten sämtliche Fahrzeugbauer am Leben gehalten werden.

Die alten Autofabriken in der BRD hinken hinterher, was Durchlaufzeiten und Arbeitsorganisation betrifft. VW liegt trotz seiner neuen effizienteren Standorte noch immer weit hinter dem Branchendurchschnitt beim Anteil an "nicht wertschöpfender Arbeit" (80 zu 60/65 Prozent im Branchendurchschnitt).

Die deutschen Automultis begegnen der Überakkumulation der ganzen Branche mit einer weiteren Ausweitung der Maschinerie - erhöhen also in den Zentren die organische Zusammensetzung. Auf die Kämpfe Ende der 60er Jahre hatte das Kapital mit einem massiven technologischen Angriff geantwortet. Heute sind die Werke derart voll gestopft mit Technik, dass das Verhältnis zwischen Investition, Arbeit und Absatz völlig aus den Fugen geraten ist. Immer wieder versuchten die Unternehmen, irgendwo eine Halle aufzustellen, wo eine Handvoll Leute in Handarbeit produzieren (Zulieferer).

In der Krise verschärft sich dieser Trend: Die großen Zulieferer übernehmen weitere Abläufe, ersetzen Einzelarbeitsplätze durch Fließbänder - was hohe Investitionen in neue Maschinen erfordert. Somit reduziert sich "Auslagerung" als Maßnahme gegen die hohe organische Zusammensetzung auf die Zweit- und Drittzulieferer. In den Stammwerken wurden alte Anlagen erneuert, aber auch neue Anlagen eingeführt. Vielfach geht es dabei um teure Hilfsmittel, die über den Entwicklungsstand z.B. bei der Vereinheitlichung der Fahrzeuge, oder der Modellvielfalt hinwegtäuschen. Nicht nur bei den großen Zulieferern, auch bei den Stammwerken gibt es einen Trend zur Vergrößerung.

Damit einher geht die Zunahme von Handarbeitsschritten. In den letzten zehn Jahren wurde der Rohbau roboterisiert und die zentrale Rolle der Schweißer untergraben. Mittlerweile werden aber zuvor ausgelagerte Arbeitsplätze, auch die von Schweißern, wieder zurück in die Stammwerke geholt. Auch in anderen Bereichen wird rückverlagert: Als Ausgleich zu Beschäftigungsgarantien holt Daimler die Sitzherstellung ins Stammwerk zurück. Die im Durchschnitt "alten" Kollegen werden den Preis für diese Garantien schnell erkennen. Die jahrelange Rationalisierung beim Zulieferer wird der Grundstein für eine effiziente Abteilung sein. Die Versetzung an solch einen "neuen" Arbeitsplatz bedeutet eine Arbeitsintensivierung, friss oder stirb! Denn von der hohen organischen Zusammensetzung der Autoindustrie kommt das Kapital nur herunter, wenn es die Arbeitergenerationen rausschmeißt, deren Verweigerungshaltung und Kämpfe mit diesen Maschinen gekontert werden musste.

Zur Vorbereitung all dieser Schritte leisteten sich Unternehmen und Staat einen gewaltigen Überhang an Leuten. Nun gehen sie in die Offensive. Während der Kurzarbeit haben Unternehmen die Arbeitsintensität um bis zu 20 Prozent hochgetrieben (die Zahl lässt sieh schwer berechnen und kaum belegen; sie beruht auf eigenen Erfahrungen und auf Gesprächen). Nun werden in vielen Werken Auftragspuffer benutzt, um testweise volle Produktion zu fahren. Dabei sind wir nicht nur mit kürzeren Taktzeiten, mehr Arbeitsschritten und weniger Leuten konfrontiert; wir sollen noch flexibler Schichten und vor allem Arbeitsplätze wechseln: kurzfristig angesagte Schichten und Schichtwechsel, phasenweise Nachtschichten, sowie auch schon wieder Wochenendschichten - während andere Abteilungen noch Kurzarbeit fahren.

Fehlende Aufträge waren das Argument für abgesenkte Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich. Teilweise wurden die Arbeitszeiten nicht abgesenkt, sondern nur die Löhne - die Leute arbeiten weiter wie bisher, um ihre negativen Stundenkonten auszugleichen. Wer zu Beginn der Krise 250 Minusstunden hatte, muss fast zwei komplette Monate umsonst arbeiten, um diese abzubauen. Der Druck durch weitere Rationalisierung sorgt dafür, dass in aller Regel in 30 Stunden soviel wie bisher in 35 gearbeitet wurde.


KVP - Grenzen der sozialen Kontrolle

Alles, was noch aus den Zeiten der "Humanisierung der Arbeitswelt" (Einbau von Puffern an den Bändern) und den Versuchen mit "teilautonomer Gruppenarbeit" übrig ist, wird beseitigt. 'Wir erleben nicht nur die ungebrochene Renaissance des Fließbandes, sondern die Bänder laufen schneller, die Takte sind kürzer, die Rotation ist nicht "Anreicherung" bzw "Abwechslung", sondern körperliche Notwendigkeit. Gleichzeitig werden alte Hierarchie-Ebenen wieder eingeführt, die die verkleinerten Gruppen direkter kontrollieren sollen - gerade dort, wo von lange zusammen arbeitenden Gruppen häufig Kampfaktionen ausgingen.

Die Aufteilung der Arbeiter in Gruppen von überschaubarer Größe mit direkten Vorgesetzten soll Konkurrenz provozieren, die durch Druck auf den Einzelnen noch verstärkt wird. In Gruppenstrukturen von etwa zehn Leuten wird ein Gemisch hergestellt, das gegeneinander arbeitet. Fünf Festangestellte, drei Befristete und zwei Leiharbeiter müssen nicht zwangsläufig Konkurrenten sein. Bei Kündigungsdruck ist dies aber objektiv so. Zudem lässt sich in derartige Gruppengrößen leicht ein "Kollegenschwein" setzen, das den Zusammenhalt untergräbt und wie eine Art Aufpasser wirkt.

Teams, die zusammenhalten, bremsen hin und wieder oder stellen sich stur bei neuen Anforderungen. Zerrissene Teams wehren sich nicht kollektiv. Aber sie gewähren dem Management auch keinen Einblick in die Produktion, weil die Vorgesetzten beim Anschwärzen und Konkurrenzgehabe nicht mehr durchblicken. Fehler werden nicht einfach behoben, sondern weitergeschickt, damit sie auch alle mitbekommen.

Diesen Widerspruch versuchen die Unternehmen mit "Ideenmanagment" und einer immer weiteren Standardisierung der Arbeit aufzuheben. Die Arbeitsabläufe werden bis ins Detail berechnet, die persönliche Einteilung soll dir bei Fehlern noch mehr Verantwortung aufhalsen. Nicht selten wird dadurch Kooperation während der Arbeit verboten, was den Produktionsprozess erstmal verlangsamt. Die Leute sollen ihr Erfahrungswissen preisgeben und unter dem Kürzel KVP - "kontinuierlicher VerbesserungsProzess" - Vorschläge zur Verbesserung ihrer Arbeitsschritte und -plätze machen. Das funktioniert aber nicht, zum einen wegen des wachsenden Arbeitsdrucks oder weil doch nur vorgeschlagen wird, beim Management zu sparen. Aus einzelnen Werken wird berichtet, dass 2009 bis zu 70 Prozent der eingereichten "Ideen" ignoriert wurden. Also werden die Prämien für produktivitätssteigernde Vorschläge nochmal kräftig erhöht.

Wie schlecht das alles läuft, zeigen die millionenfachen Rückrufe beim KVP-Meister Toyota. Jahrelange Kosten- und Personalreduzierung haben die Produktion anfällig für Fehler gemacht. Dem Management gelingt es zwar, die kollektiven Strukturen auseinanderzutreiben, aber anstatt für, arbeiten diese gegen seine Zwecke. Ein einzelner Arbeiter kann mit einer Sabotageaktion bei einem kleinen Zulieferer potenziell einen ganzen Konzern anhalten. Die Vereinheitlichung der Fahrzeugteile weitet diese Macht auf andere Konzerne aus. Alle Automultis kopieren seit zwei Jahrzehnten das Toyota-Modell - und somit auch dessen Krise. Das gesamte Produktionssystem der Automultis krankt.


Angriff auf die ArbeiterInnen

Doch "kranke Köter beißen!" Und in dem Sinne muss ihr Angriff auch verstanden werden. Um die "Notschlachtung" zu vermeiden, versuchen sie, die Symptome brachial auszureißen, das macht den Angriff politisch brisant. Denn die Arbeiter nehmen nur zögerlich wahr, dass die Automultis in ihrem Überlebenskampf dabei sind, eine ganze Generation von ihnen abzuräumen, den multinationalen "Massenarbeiter" mitsamt seinen hohen, einst erkämpften Standards, Garantien, Lohnzulagen und Sonderregelungen, von denen Leiharbeiter, Befristete und Arbeiter in neueren Kleinbetrieben nur träumen können.

Kaum eine Belegschaft erkennt ihre potenzielle Macht gegen diesen Prozess. Vielmehr herrscht die Suche nach individuellen Auswegen vor: sich mit dem Geld arrangieren, Hoffnungen auf Abfindung und neuen Job... Und die, die "verschont" bleiben, werden von den noch einmal verkürzten Taktzeiten kaputt gemacht. Denn sie sind im Durchschnitt sehr alt; wenn bei Daimler an einzelnen Standorten ein Durchschnitt von 44 errechnet wird, ist das noch niedrig.

Die Achs- und Motorenwerke haben sie nie richtig zur Ruhe bekommen. Durch etliche Verlagerungen wurde versucht, die Standorte gegeneinander aufzubringen. Durch Vereinheitlichung und auch Verkleinerung etwa der Motoren sind ganze Abteilungen überflüssig geworden. Mit der Zunahme von Elektrobausteinen bei Motoren (Einspritzung, Hybrid) und Achsen (Bremsen, Antrieb, Differenzialsperren) haben sich die Produktionsschritte verändert. Die klassische Metallverarbeitung und die Montage wurden auch hier mit Modulen von Zulieferern versetzt.

Unter anderem durch die Modularisierung an einzelnen Standorten gelang den Unternehmen die Einführung von Roboteranlagen. Daimler hat eine Anlage eingeführt, an der das Personal flexibel einsetzbar ist: an einem Rondell arbeiten mehrere Arbeiter im Kreis um eine hohe Anzahl von Robotern. Dort können unerfahrene Leute (Leiharbeiter) eingesetzt werden, die alte Belegschaft wird zersetzt. Und "ganz nebenbei" ermöglicht die Geschwindigkeitsregulierung der Roboter eine stetige Verkürzung der Takte. "Dummerweise" kam es vor drei Jahren in Harburg genau an dieser Anlage zu einem Bummelstreik, mit dem Leiharbeiter und Festangestellte gemeinsam eine Reduzierung der Geschwindigkeit durchsetzen konnten.

Die Montage-Abteilungen waren seit jeher die Zentren des Arbeiterkampfs. Die wilden Arbeitsniederlegungen kürzlich in Sindelfingen gingen von der Montage aus. Bisher wurde auch in hochtechnisierten Fabriken in den Montagehallen fast ausschließlich mit der Hand gearbeitet. Es gelang nicht, die Montagearbeit durch Maschinen zu ersetzen. Aber mittlerweile laufen bei Daimler Leichtbauroboter in der Testphase, die auch in der Montage an sich bewegenden Fahrzeugen eingesetzt werden sollen. Sie können auf unterschiedliche Werkstücke reagieren und damit auch an ständig wechselnden Fahrzeugvarianten arbeiten. Diese Roboter sind sehr klein und sollen "Hand in Hand" mit Arbeitern einsetzbar sein, da sie auf ihr Umfeld reagieren. Sie müssen weniger aufwendig "eingearbeitet" werden und sollen tendenziell ganze Arbeitsschritte übernehmen. Bis es soweit ist, werden allerdings noch viele Techniker notwendig sein. Das bringt Bandarbeiter und Techniker in den kommenden Monaten zusammen. Eine Chance, wenn beide nicht nur ihre Arbeit tun!

Denn die in den Produktionshallen eingesetzten Instandhalter trifft die Flexibilisierung und Ausdehnung der Arbeitszeit bislang am heftigsten. Wurden in Zeiten des Booms fast alle freien Tage genutzt, um kleinere Optimierungsschritte zu verwirklichen, wird nun in den wochenlangen Produktionspausen und den "freien" Nachtschichten gearbeitet. Der Arbeitsdruck nimmt erheblich zu. Die wachsende Erfahrung mit komplexen Roboteranlagen, die Wiederholung von Wartungsschritten und Fehlern ermöglicht eine Standardisierung. Sobald jemand bewiesen hat, dass ein Gelenk in einer Stunde anstatt in zwei Stunden gewechselt werden kann, wird dies zum Standard für alle.

Nicht nur die Produktion einzelner Fahrzeugteile, sondern auch deren Entwicklung wird seit langem an Zulieferer abgegeben. Die Versuche, die Fahrzeuge zu vereinheitlichen und bestimmte Teile in unterschiedlichen Modellen mehrfach zu verwenden, führt in den Entwicklungsabteilungen der Stammwerke zu häufigen Aus- und Rückverlagerungen. Mal bekommt die Tochter X, mal die Tochter Y den Zuschlag für die neue Plattformbasis. Beim Chassis das gleiche. Die Belegschaften werden so oft wie möglich durchmischt. Das macht mürbe und verhindert kollektive Versuche von Gegenwehr. In diesen Abteilungen wird viel alleine gearbeitet, und der Blick fürs Ganze ist häufig verstellt. Bei VW etwa werden die Leute so unter Zeitdruck gesetzt, dass die Abteilungen selber vorschlagen, einzelne Arbeitsschritte abzugeben. Eine solche Auslagerung spielt der Standardisierung und Beschleunigung in die Hände.

Die Selbstsicherheit der Entwicklungsabteilungen wurde immer wieder ausgenutzt: Erst wird ihre Unverzichtbarkeit beteuert, dann wird draufgehauen. Komisch, dass das immer noch funktioniert.

Auch die Autohändler bleiben nicht ungeschoren: um Absatzmärkte auszuweiten, brauchen die Automultis neue Verkaufs- und Servicestrukturen. Dazu müssen sie andere Firmen mitsamt deren Servicenetzen aufkaufen oder selber welche aufbauen. Gleichzeitig legen sie die Axt an die herkömmlichen Strukturen. Die deutschen Händler und Vertragswerkstätten gelten als veraltet. Viele Angestellte hätten nicht genug Ehrgeiz, etwas zu verkaufen. Auch im Autohandel soll die Krise zur Arbeitsverdichtung und zur Flexibilisierung der Arbeitszeiten genutzt werden. Immer mehr Werkstätten sind 24 Stunden geöffnet und müssen einen Pickup-Service garantieren. Der Arbeitsaufwand bei Rückrufaktionen verwandelt Werkstätten zeitweise in kleine Fließbänder. Sie müssen immer mehr Dienstleistungen anbieten, was sie gehörig unter Druck setzt.

Die Versuche von Daimler und PSA, das sinkende Interesse von Jugendlichen und Stadtbewohnern am eigenen Auto mit Mietangeboten aufzufangen, stellt den ganzen Händlerverkauf in Frage. Die teuren Autohäuser sollen durch den Verkauf nach dem Prinzip der Versicherungsvertreter oder via Internet reduziert werden.


In den letzten Monaten sind gemeinsame Versammlungen und Aktionen in den regionalen Clustern der Autoindustrie gelaufen, über die Trennung in Stammwerke und Zulieferer hinaus. Das ist ein wichtiger Schritt. Im nächsten Schritt müssen nun Solidarisierungen über die "Marke" hinweg laufen. Das klappt aber nur, wenn die Solidarisierung über die Straße hinaus auch in der Produktion stattfindet. Der Kampf der Takata-Petri ArbeiterInnen in Aschaffenburg (Zulieferer von Lenkrädern) hat den Stammwerkern bei BMW, Audi, Daimler und vor allem VW schon nach ein paar Stunden deren "Produktionsmacht" (B. Silver) deutlich gemacht. Durch Blockade der Werkstore verhinderten sie den Abtransport der Teile, in den Montagewerken stand die Produktion. Einen ähnlichen Effekt erzielten die ArbeiterInnen in Tschechien (siehe den Bericht auf Seite 44). Nun kommt es drauf an, die gemeinsame Produktionsmacht einzusetzen! Gegen die laufenden Angriffe könnten solche Kämpfe einen historischen Erdrutsch auslösen, erinnert sei an die Sit-down-Streiks in der amerikanischen Autoindustrie Mitte der 30er Jahre - in einer ähnlichen Krisenkonstellation wie heute, haben die (Auto-)ArbeiterInnen damals wirklich Geschichte gemacht.

Heute gleichen sich die Muster des Mürbemachens überall. Es bringt nichts, auch nur ein einziges Zugeständnis zu machen. Ein Sich-Verschanzen am einzelnen Arbeitsplatz ist nicht mehr möglich. Wir müssen einen Weg finden, dem Kapital nicht die Symptome, sondern die Ursache seiner Krise entgegenzustellen: die Verwertung der Arbeitskraft.


Randnotizen

CKD - completely knocked down

CKD-Fabriken sind Werke, wo für lokale Märkte Fahrzeuge erneut montiert werden. Zuvor wurden sie in anderen Regionen zusammengebaut, wieder zerlegt und verschifft.

Siehe dazu auch das Interview mit den Hafenarbeitern in Bremen und Bremerhaven in diesem Heft.

Triade: USA, Westeuropa, Japan

Siehe wildcat 85: "Diesmal müssen die im Westen anfangen!" Gedanken und Versuche eines ostdeutschen Autoarbeiters.

(Karrikatur) "Arbeiterklasse zu verkaufen. Schleuderpreise. Wenden Sie sich an Ihre Gewerkschaft.

Zu Sit-down-Strikes siehe: Ferruccio Gambino: Kritik am Begriff des Fordismus, wie ihn die Regulationsschule benutzt, in: wildcat-Zirkular Nr. 28/29 Auf www.wildcat-www.de. Eine Kurzfassung des Textes gab es in wildcat 67.

Raute

Das Ende des "Massenarbeiters" im Stuttgarter Raum

In der jetzigen Krise wollen die Unternehmer eine bestimmte Arbeitergeneration abräumen, die gerade im Stuttgarter Raum noch den Kern der Beschäftigten in der Autoindustrie ausmacht: zwischen 40 und 55 Jahre alt, zu einem großen Teil Migranten, z.T. aus der ersten "Gastarbeitergeneration", lange Jahre im selben Betrieb, viele Jahre hart und in Schicht gearbeitet, was Spuren hinterlassen hat. Sie haben wenig formelle Qualifikationen, schlechte Deutschkenntnisse, Probleme mit Lesen und Schreiben, knappe Schulbildung. Aber sie haben sich erfolgreich in bislang abgesicherte Bedingungen reingekämpft (Altersschutz!). Bei IGM-Streiks stellten sie immer die notwendige Masse. Auch die Weltspitze der Autoindustrie - der Daimler-Konzern - lässt die Autos genau von solchen ArbeiterInnen produzieren - und hat mit ihnen die letzten Jahre Rekordgewinne eingefahren. Arbeit am Band, in kurzen Takten oder im Einzelakkord an der Maschine, mit Handgriffen, die man in ein paar Wochen erlernen kann - nur die Kooperation in der Gruppe nicht, die Disziplin und die Routine.

Da viele Belegschaften sich wehren, muss die IGM alle paar Wochen zu einer Kundgebung vor irgendeinem Betrieb aufrufen, wo Entlassungen oder Schließung ansteht. Busse aus anderen Metallbetrieben bringen KollegInnen herbei. Man kennt sich.

"Strukturelle Probleme" benennt die Firma Behr - einer der wichtigsten Auto-Zulieferer für Kühler und Heizungen - als Grund für die Schließung der Produktion u.a. in Stuttgart-Feuerbach. Auf dem Weg zur Betriebsversammlung im Dezember hatten diese meist alten Arbeiter (zum Teil seit 36 Jahren im Werk) kapiert, dass sie jetzt handeln müssen und haben kurzerhand den Autobahnzubringer B10/27 für eine halbe Stunde blockiert. Seit 30 Jahren habe es solch eine Stimmung nicht mehr gegeben. Vorsichtshalber lässt der Unternehmer die Produktionshalle von einer privaten Sicherheitsfirma Tag und Nacht überwachen.

Zu diesen aktuellen Auseinandersetzungen befragten wir im Januar drei Arbeiter.


"Optimierungsprojekte, wo die letzte Luft aus den Arbeitsprozessen rausgepresst wird."

Roland
Arbeiter beim Autozulieferer Mann + Hummel in Ludwigsburg bei Stuttgart / global player in der Filterfertigung mit weltweit 41 Standorten und insgesamt 12.400 Beschäftigten. In Ludwigsburg sitzt auch die Hauptverwaltung.


Wieviel produziert ihr im Vergleich zur Zeit vor der Krise?

Bei Erstausrüstungen Filtergehäuse war der Einbruch im Durchschnitt im Bereich Pkw 25-30 Prozent, bei Lkw bei 70 Prozent. Die Erwartungen für 2010 liegen bei einem Rückgang von lediglich 5 Prozent in Ludwigsburg, wobei man für Deutschland insgesamt plus 3-4 Prozent erwartet. Gegenüber 2008 wäre das trotzdem minus 13 Prozent. Die Filtereinsätze werden in Markelhofen produziert, die müssen Sonderschichten fahren. Grund ist, dass die Großhändler erst ihre Lager leer verkauft haben.

Habt Ihr Kurzarbeit? Wie funktioniert die?

Kurzarbeit gibt es seit März 2009, aber seit Juli ist sie für den Pkw-Bereich wieder ausgesetzt worden. Im gewerblichen Bereich ist die Kurzarbeitsquote 7 Prozent, im Angestelltenbereich jedoch 15 Prozent, seit Juli sogar 20 Prozent, im Oktober 19 Prozent. Materiell sieht das so aus: die Leute bekommen Kurzarbeitergeld vom Arbeitsamt und die für Nordwürttemberg geltende tarifliche Aufzahlung, für deren Höhe es zwei unterschiedliche Interpretationen gibt. Es gibt also nicht wie bei Daimler Betriebsvereinbarungen, aufgrund der die Leute dann 95 Prozent kriegen. Bei mir macht die Kurzarbeit 100-150 Euro weniger beim Nettolohn aus.

Hat sich die Zusammensetzung der Belegschaft verändert durch Entlassungen, Befristete, Leibarbeit?

2009 wurden schon 130 Stellen schleichend abgebaut, d.h. die Befristeten wurden nicht verlängert, alle Leiharbeiter entlassen, und die Azubis müssen nach einem Jahr Pflichtübernahme auch gehen.

Weil der Einbruch v.a. bei Lkw war, wurden 20 Leute vom Bereich Lkw zu Pkw versetzt, von Flüssigkeitsfiltern zu Luftfiltern. Im Lkw-Bereich wurde von Zwei-Schicht auf Ein-Schicht-Betrieb umgestellt - das macht 200-250 Euro Einbußen im Lohn aus. Im Pkw-Bereich wird seit Sommer samstags gearbeitet. (Hier wurde vor ein paar Jahren der Samstag als Regelarbeitstag eingeführt. Seit Oktober wird wegen eines Großauftrags von Opel im Saugrohr-Bereich sogar in 20 Schichten gearbeitet, also auch sonntags. Die Kurzarbeit im Frühjahr war für die richtige Erholung!) Trotzdem zahlt das Arbeitsamt Kurzarbeitergeld! Da die hält eine bestimmte Quote bringen müssen, ist die Kurzarbeit im Angestelltenbereich angestiegen. Da wird 100prozentig beschissen.

Was bedeutet das im Verhältnis zur Arbeit?

An den Maschinen arbeiten viele Ungelernte. Durch die Entlassung der Befristeten, Leiharbeiter und Ausgelernten ist das Durchschnittsalter in der Produktion noch weiter angestiegen auf etwa 45 Jahre - hier wird in drei Schichten im Einzelakkord gearbeitet! Das hohe Durchschnittsalter ist das Ergebnis von zehn Jahren Arbeitsplatzvernichtung. Obwohl schon lange tot gesagt, werden immer noch Luftfilter aus Blech produziert - dort sind 65 Prozent der Kollegen über 50 Jahre alt. Und Blechbearbeitung ist schwere Arbeit, schwerer als Kunststoffbearbeitung.

Wegen der Kurzarbeit werden z.Zt. ständig Kollegen an andere Maschinen versetzt, wo sie den Akkord nicht mehr schaffen. Auch die Einsteller sind völlig überfordert, weil sie dauernd neue Leute einlernen müssen. Das sind alles Einzelakkordplätze.

Bei uns laufen seit Jahren sogenannte Optimierungsprojekte, wo die letzte Luft aus den Arbeitsprozessen rausgepresst wird. Bei den Einstellern haben sie z.B. einzelne Einstellzeiten von zwei Stunden auf 20 Minuten runtergesetzt.

Bei den Angestellten sind die Auswirkungen der Kurzarbeit wesentlich drastischer: sie machen im Prinzip die gleiche Arbeit in weniger Zeit. Von Januar bis August gab es bisher 226 Verstöße in einem einzigen Bereich gegen die Höchstarbeitszeit von zehn Stunden pro Tag! Da treibt offenbar die Angst die Menschen. Seit das ruchbar wurde, ziehen einige jetzt hält ihre Karte durch das Zeiterfassungsgerät und arbeiten danach weiter, dann wird das nicht registriert.

In der Konzernzentrale mit 1000 Angestellten - Entwicklung, Forschung, usw. hat der Betriebsrat allein im Juli 2009 298 Verstöße reklamiert und mit dem Gericht gedroht, trotzdem wurden im Oktober nochmal 207 bei 123 Angestellten registriert. Dies wurde auf der Betriebsversammlung öffentlich gemacht.

Wer wurde entlassen? Werden stattdessen Leiharbeiter eingestellt?

Mir sind keine Neueinstellungen bekannt. Im November wurden 400 Entlassungen angekündigt - und zwar als Abbau sowohl in der Produktion (45 Prozent) als auch im "Overhead" (Entwicklung, Verwaltung, Vertrieb) (26 Prozent), gestreckt bis 2012. Bei uns im Werk 2 soll die Belegschaft bis 2012 von 629 auf 287 reduziert werden. Damit ist die Funktionsfähigkeit des Standorts nicht mehr gegeben. Mit 287 Leuten kann keine Produktion in drei Schichten organisiert werden; denn da gehört ja auch die Arbeitsvorbereitung, das Lager, alles dazu. Das Betriebsgelände ist riesig. Angeblich soll alles in einer Halle konzentriert werden.

Inzwischen haben 70 Leute einen Altersteilzeitvertrag unterschrieben. (Deshalb schreiben die Zeitungen auch nur von 340 Entlassungen.) Es werden auch Abfindungsangebote gemacht, aber da reden die Leute in der Regel nicht darüber. Es gibt sogar Leute, die gehen von sich aus zum Personalbüro und fragen: "wie sieht's aus...?" Viele Kollegen machen sowas, weil sie Schulden haben und gepfändet werden sollen, da haben Leute schon schlechte Abfindungsverträge unterschrieben. Erklären kann man sich nicht, was die Leute da reitet, nach all den Erfahrungen mit Arbeitsplatzvernichtung, die diese Belegschaft schon gemacht hat. Es gibt sogar Leute, die zu einem Betriebsrat hingehen und sagen: "Stellt nicht zu hohe finanzielle Forderungen, ich will jetzt raus und meine Abfindung, alles andere ist mir wurscht." So: nach mir die Sintflut. Das ist aber die Minderheit, die meisten wissen, dass abwarten besser ist.

"Die Lohnsenkungen sind schon mit dem Beschäftigungssicherungstarifvertrag der IGM 2005 gelaufen."

Gab es indirekte Lohnsenkungen?

Die Lohnsenkungen sind schon lange gelaufen: mit dem Beschäftigungssicherungstarifvertrag, den die IGM 2005 abgeschlossen hat und der bis 2011 gilt: die dürfen bis dahin nicht aus betrieblichen Gründen entlassen. Damit wurde das Weihnachtsgeld und alle außertariflichen Zulagen gekürzt früher hatten wir zum Beispiel einheitlich 25 Prozent Leistungszulage, die war damit weg. Bis 2011 werden alle übertariflichen Zulagen auf die Lohnerhöhungen angerechnet.

Gab es Absenkungen bei den Eingruppierungen? Hängt das mit ERA zusammen?

ERA war die blanke Katastrophe, weil alle ungelernten Kollegen mit schweren Aufgaben massiv runtergestuft wurden. Sie selbst trifft das nicht, sie kriegen die "Überschreiterzulage" und behalten erstmal ihren Lohn. Wenn der Arbeitsplatz neu besetzt wird, sinkt allerdings der Lohn.

Aber schon jetzt werden alle Tariferhöhungen bis auf ein Prozent angerechnet, bis die Überschreiterzulage weg ist. Da kann es sein, dass du jahrelang keine Tariferhöhung bekommst.

In Ludwigsburg gab es 450 Reklamationen nach der ERA-Einstufung. Als Facharbeiter bist du aufgrund deines beruflichen Wissens besser dran, aber das wird heute nicht mehr im Lohn berücksichtigt. Beim alten System wurdest du als Facharbeiter einfach mit LG 7 bezahlt, egal, was für eine Arbeit du gemacht hast. Für die Qualifizierung kriegst du heute nichts mehr.

Die Angestellten sind bei der ERA-Einstufung wesentlich besser weggekommen.

Haben die Maßnahmen Auswirkungen auf die Qualität?

Ja, weil die Leute an andere Arbeitsplätze kommen, die können da nicht die gleiche Qualität bringen wie Leute, die das schon 20 Jahre machen.

Ein anderes Problem ist, dass im Zuge der Krise Zulieferer insolvent geworden sind und die neuen Zulieferer die geforderte Qualität nicht liefern können. Diese 20-, 30-, 50-Mann-Betriebe gehen reihenweise kaputt, das steht in keiner Zeitung.

"Das Ausmaß der Entlassungen ist nicht durch die Krise erklärbar."

Habt ihr Angst, entlassen zu werden?

Nach der Betriebsversammlung im November herrschte zunächst Schockstarre. Denn das Ausmaß der Entlassungen ist nicht durch die Krise erklärbar. Ich hatte auch erwartet, dass es nach der Kurzarbeit Entlassungen gibt, aber nicht in diesem Ausmaß. Nach zwei Wochen gab es einen Aushang von der IGM mit der Überschrift "Das nehmen wir nicht hin". Mehr stand nicht drin.

Die VKL stellte in ihrem Flugblatt wenigstens ein paar richtige Forderungen auf, z.B. nach Wiedereinführung des "Freizeitrasters". Mit der Kurzarbeit gab es ja keine Samstagsarbeit mehr. Aber als im Juli die Kurzarbeit ausgesetzt war und wieder samstags gearbeitet wurde, wurde nicht gleichzeitig das Freizeitraster wieder eingeführt. Das Freizeitraster legt vier Wochen im voraus fest, wann du deinen freien Tag hast, wenn du samstags arbeiten musst. Jetzt kommt der Chef zu dir und sagt: morgen hast Du frei!

Die VKL rief dann auch zu einer Aktion gegen die geplanten Entlassungen vor dem Werkstor zwischen 16 und 18 Uhr auf. Das haben sie gemacht, damit die Angestellten teilnehmen, die sich nicht trauen, während der Arbeitszeit vors Tor zu gehen. Das hat tatsächlich funktioniert: insgesamt haben 400 Leute teilgenommen, so viele Angestellte haben wir noch nie auf einer gewerkschaftlichen Kundgebung gesehen. Die Spätschicht war aufgerufen, zur Kundgebung die Arbeit niederzulegen, die Produktion ist auch komplett bestreikt worden. Sehr ungewöhnlich war allerdings, dass am Schluss seiner Rede der VK-Vorsitzende um 18 Uhr die Leute aufgefordert hat, wieder an die Arbeit zu gehen! Das hat es noch nie gegeben. Früher hat die VKL bei solchen Gelegenheiten die Leute immer abstimmen lassen, ob sie nach Hause oder zurück an die Arbeit gehen. Da wurde nicht mehr weiter gearbeitet.

Wahrscheinlich war die Aktion mit der Werksleitung abgesprochen, es brauchte einfach ein Ventil, um Dampf abzulassen. Sogar die "Center-Leiter" haben die Angestellten zur Teilnahme aufgefordert und haben selbst teilgenommen! Die letzten gewerkschaftlichen Aktionen während der Arbeitszeit, z.B. letzten Herbst die Kundgebungen gegen die Krise, waren massiv behindert worden: alle 70 Teilnehmer haben eine "Ermahnung" bekommen.

Die IGM kam mit einem Lkw, die Straße wurde abgesperrt. Fackeln und schwarze Luftballons wurden verteilt - die haben alles aufgefahren. Kurz vorher war ja der Streik in Sindelfingen, da wurde auch eine Grußadresse verlesen. Der VK-Vorsitzende hat zwar den Zusammenhang zwischen Überproduktion und Finanzkrise erklärt, aber völlig versäumt, seine Forderungen vorzutragen! Plötzlich sprachen alle vom "Kampf um alle Arbeitsplätze". Da hätte man jetzt doch mal konkret werden müssen.

Gekommen waren auch Zwei-bis Fünf-Mann-Delegationen aus anderen Betrieben (im wesentlichen offizielle Funktionäre) - das hat auf die Leute großen Eindruck gemacht, weil sie gemerkt haben, dass sie nicht alleine betroffen sind. Viele hatten vorher gedacht, die Krise sei schon vorbei, die Versammlung hat sie eines Besseren belehrt.

Sind die Maßnahmen zeitlich befristet? Werden sie wieder aufgehoben, wenn die Krise vorbei ist? Was meinst Du?

Ein Belegschaftsabbau im angekündigten Umfang von 45 Prozent bei 25 Prozent Rückgang ist eigentlich Unsinn. Entweder will man den Produktionsstandort platt machen und nimmt die Krise als Vorwand. Oder es handelt sich um eine neue Erpressung, um uns wieder ans Geld zu gehen ans Urlaubsgeld z.B., diesen Spielraum gibt es noch. Wer weiß, was denen noch einfällt: eine schlichte Lohnsenkung zum Beispiel. In einem Zuliefererbetrieb haben sie kürzlich einen Beschäftigungssicherungstarifvertrag abgeschlossen mit einer Lohnsenkung. Mit der IGM-Führung ist alles zu machen. In anderen Betrieben gibt es schon Beschäftigungssicherungstarifverträge, in denen pauschal der Lohn um zehn Prozent unter Tarif abgesenkt wird. In einem Nachfolgebetrieb von BBC in Ludwigsburg, wo sehr viele Alte gearbeitet haben, wurde im Einverständnis mit der IGM schlicht der Altersschutz ausgesetzt: also dass über 53-jährige nach 15 Jahren Betriebszugehörigkeit nicht entlassen werden dürfen. Die konnten damit gekündigt werden.

"Beschäftigungssicherungstarifverträge, in denen pauschal der Lohn um Prozent unter Tarif abgesenkt wird."

Bekommt ihr mit, wenn andere Betriebe geschlossen werden oder massiv entlassen wird? Wie wird das diskutiert?

In den letzten Jahren gab es öfter Aufrufe (z.B. von Mahle in Markgröningen), aus Solidarität zu anderen Betrieben zu gehen. Zuletzt vor einem Jahr bei Getrag. Dort hat ein Kreis von Kollegen ein eigenes Flugblatt heraus gebracht, drei Schichten haben dann komplett gestreikt.

Wird bei Euch im Betrieb über solche Kämpfe diskutiert?

Es sind Potentiale da. Es besteht die Gefahr, dass sich einige der Kollegen im VK vor den Karren des IGM-Ortsvorstands spannen lassen. Es hat sich in den vergangenen Krisen gezeigt, dass die Leute erst in der langen Depression angefangen haben, aktiv zu werden.

Bei den Lehrlingen (das sind nur noch circa 30, früher gab es über 100, in einer eigenen Lehrwerkstatt), ist eine Entwicklung erkennbar. Die hatten für die Kundgebung ein eigenes Transparent gemalt mit ihren Forderungen. Die Alten kalkulieren eher auf Abfindung und Frührente.

Interessant ist noch die Alterspyramide: in der Produktion ist die Masse Mitte 40, da gibt es sogar noch über 60jährige. Bei den Angestellten im Overhead sieht es genau umgekehrt aus. Da ist die große Masse zwischen 25 und 35!


*


Michael
Arbeiter bei Mahle in Cannstatt. Mahle ist einer der drei größten Anbieter von Kolbensystemen. 49.300 Beschäftigte an 115 Standorten.


Wie ist die Auftragslage, wieviel produziert ihr im Vergleich zur Zeit vor der Krise?

Nach der Durststrecke des letzten Jahres, in der die Aufträge in unserer Abteilung wirklich zurück gingen, ist die Auftragslage seit Ende Oktober 2009 wieder mindestens auf dem Stand wie vor der Krise.

Habt Ihr Kurzarbeit? Wie funktioniert die?

Anfangs hatten wir acht Tage im Monat Kurzarbeit, die flexibel je nach Auftragslage auf den Monat verteilt wurden. In der Regel am Donnerstag und Freitag. Das ging solange, bis man spürte, die Auftragslage zog an. Dann wurden erst einzelne Personen bis auf drei Tage aus der Kurzarbeit genommen, später immer mehr. Im Moment arbeitet die ganze Abteilung nur noch drei Tage im Monat kurz.

Ist die Arbeit anders geworden im Vergleich zu vorher?

Die Arbeit selbst ist nicht anders geworden. Aber es herrscht mehr Terminstress, der emotionale Druck auf den Einzelnen ist sehr gestiegen.

Hat sich das Verhältnis zur Arbeit geändert? Ist die Arbeit umorganisiert worden?

Seit längerer Zeit geht die Zielsetzung dahin, mit möglichst wenig Personal die selbe Arbeit zu erledigen, oder auch noch mehr. Arbeitsplätze ausgeschiedener oder versetzter Kollegen wurden erst dann neu besetzt, wenn alles am Anschlag lief und alle anderen verfügbaren Ressourcen ausgesaugt waren.

Jetzt soll ein Zellenkonzept eingeführt werden. Das heißt zwei Leute müssen in der Lage sein, einen Auftrag komplett abzuarbeiten. Ziel soll sein, schneller und noch kosteneffizienter zu arbeiten. Die dazugehörenden Schulungs- und Einlern-Maßnahmen liegen aber im Argen, da inzwischen die Personalstärke am untersten Limit liegt. Keiner kann einen anderen einlernen, wenn er seinen eigentlichen Arbeitsplatz nicht verlassen kann.

Ist die Arbeit (weiter) flexibilisiert worden?

Es war in den letzten Monaten stets ein Wechsel im Kurzarbeitsvolumen (je nach Bedarf zwischen drei und acht Tagen im Monat). Zudem wurde je nach Bedarf und Auftragslage eine Nachtschicht mit maximal zwei Personen gefahren.

Wer wurde entlassen: Leiharbeiter, Befristete ... ?

Noch wird der Stellenabbau bei uns mit weichen Maßnahmen (Altersteilzeit, Berentung, freiwilliges Ausscheiden) durchgeführt. Oft bedeutet dies allerdings ein Weichkochen von Leuten, denen immer wieder die Möglichkeit der Altersteilzeit vorgerechnet wird. So entsteht bei Kollegen, die das auf keinen Fall machen können oder wollen, ein zusätzlicher psychischer Druck. Frei gewordene Stellen werden nicht neu besetzt, die Arbeit wird dann auf die verbliebenen Leute übertragen.

Hat es indirekte Lohnsenkungen gegeben?

Lohnsenkungen gab es bisher im Zuge der Krise keine. Allerdings wurden in den letzten Jahren immer mehr freiwillige Zulagen gekürzt. Außerdem wurde der Teil der Tariferhöhung, den man im Krisenfall bis Ende des Jahres aufschieben konnte, aufgeschoben. Arbeitszeitkonten wurden soweit wie möglich abgebaut.

Gibt es Absenkungen bei den Eingruppierungen? Hängt das mit ERA zusammen?

Im Zuge der ERA wurden sehr viele unpopuläre Maßnahmen getroffen. Altere Kollegen bekamen wegen der Altersabsicherung z.B. nicht die ihnen zustehende Eingruppierung.

Haben die Maßnahmen Auswirkungen auf die Qualität?

Auf die Qualität nur bedingt, aber auf die Arbeitsleistung. Leute, die sieh vorher mit der Arbeit und der Firma identifiziert haben und durch ERA abqualifiziert wurden, machen nun eher Dienst nach Vorschrift.

Sind die Maßnahmen zeitlich befristet? Meinst Du, sie werden sie wieder aufheben, wenn die Krise vorbei ist?

Maßnahmen, die sich mal verfestigt haben, werden nicht so einfach aufgehoben. Ich glaube auch nicht, dass nach der Krise plötzlich Vorgesetzte einer umkämpften ERA-Anhebung zustimmen.

Seht ihr Möglichkeiten, etwas gegen Entlassungen bei Euch oder anderen Betrieben zu unternehmen?

Im Moment hilft nur die Solidarität, wobei diese im Vergleich zu früher sehr nachgelassen hat. Angst ist eben immer ein schlechter Ratgeber. Und solidarisch werden die Menschen wohl erst dann, wenn sie selbst betroffen sind, und dann oft nicht einmal, solange ihr Name noch nicht genannt ist. Es gilt über den eigenen Tellerrand hinaus zu sehen!

Fehlt noch eine wichtige Frage?

Ich hätte vielleicht noch einen Punkt. Die psychischen Krankheiten, die eh schon die letzten Jahre durch den zunehmenden Leistungsdruck und die Existenzangst auf dem Vormarsch sind, bekommen durch die Kurzarbeit und die Angst um den Arbeitsplatz zusätzliche Nahrung. Das zeigt sich vermehrt durch Burnout-Symptome, aber auch dadurch, dass vermehrt Leute an Herz- und Kreislaufproblemen leiden.

Das kommt erst dann an die "Öffentlichkeit", wenn es Selbstmorde wie bei France Télécom oder Renault gibt!

"Die psychischen Krankheiten, die durch den zunehmenden Leistungsdruck und die Existenzangst auf dem Vormarsch sind, bekommen durch die Kurzarbeit und die Angst um den Arbeitsplatz zusätzliche Nahrung."


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Orhan
Arbeiter in der Montage bei Daimler Sindelfingen. In Sindelfingen arbeiten insgesamt 37.000 Menschen "beim Daimler". Hier werden drei Baureihen montiert: C-Klasse, E-Klasse und S-Klasse.

Außerdem steht dort die größte Entwicklungsabteilung von Daimler weltweit mit ca. 5000 Beschäftigten.

C-Klasse und E-Klasse sind ein Bereich mit einem gemeinsamen Center-Leiter und einem Bereichsbetriebsrat. In der E-Klasse arbeiten ca. 5000, in der C-Klasse 3000 Leute in zwei Schichten. Nur im Rohbau (ca. 300 Leute), Presswerk und Lackiererei wird seit ca. 15 Jahren in drei Schichten gearbeitet.

Montage: zehn Jahre lang wurden C- und E-Klasse in einem Typenmix am selben Band produziert, jetzt wird jede Baureihe für sich produziert. Die Stückzahl in der E-Klasse beträgt ca. 1100 pro Tag, in der C-Klasse ca. 660 pro Tag.


Wie ist die Auftragslage? Wieviel produziert Ihr im Vergleich zur Zeit vor der Krise?

In der E-Klasse wird volles Programm gefahren - die ist ja neu. In der C-Klasse seit Beginn der Krise etwa ein Drittel weniger. In der S-Klasse auch etwa ein Drittel weniger.

Ist die Arbeit anders geworden als vorher?

In der C-Klasse wird demnächst die Taktzeit von 72 Sekunden auf 100 Sekunden hochgesetzt. Dadurch werden 100 Autos pro Schicht weniger produziert. Das wird nicht gemacht, damit die Leute langsamer arbeiten können, sondern 400 Leute sollen in andere Baureihen - v.a. E-Klasse - versetzt werden.

In der E-Klasse waren die Takte zehn Jahre lang 95 Sekunden. Vor einem Jahr wurde der Takt auf 85 Sekunden herabgesetzt. Das war anfangs sehr heftig. Verrückterweise schafft man nach einiger Zeit die Arbeit, hat sogar wieder etwas Luft. Aber nach Feierabend ist man einfach nur noch fertig und will nichts mehr machen.

Habt Ihr Kurzarbeit? Wie funktioniert das?

In der E-Klasse gab es 20-30 Tage Kurzarbeit, davon waren alle betroffen. In der S-Klasse gibt es seit 2009 Kurzarbeit über mehr als die Hälfte der Arbeitszeit. Hier stand im Sommer, über Weihnachten usw. wochenlang das Band. Die Kurzarbeit galt für alle in der S-Klasse. Auf diese Art kann die Kurzarbeit noch ein Jahr so weiter laufen.

Bei Euch wurde eine generelle Arbeitszeitverkürzung vereinbart...

Arbeitszeitverkürzung in dem Sinn, dass der Lohn gekürzt wird! In den Bereichen, in denen es keine Kurzarbeit gibt, gibt es von Juni 2009 bis Juni 2010 per Betriebsvereinbarung 8,75 Prozent Lohnsenkung. Das funktioniert folgendermaßen: Statt 35 Stunden pro Woche werden nur 32 Stunden bezahlt. Mit den sieben Stunden Mehrarbeit werden die Flexi-Konten wieder aufgefüllt, die vor Beginn der Kurzarbeit kräftig ins Minus gefahren wurden. Bei Daimler sind 90.000 Leute von den Lohnsenkungen betroffen - ArbeiterInnen wie Angestellte. Dadurch konnte Daimler zwei Milliarden Euro einsparen!

In der E-Klasse wird voll gearbeitet, aber die Leute bekommen 8,75 Prozent weniger Lohn. Die Kurzarbeiter, die etwa die halbe Zeit zuhause sind, bekommen netto in etwa das gleiche, weil Daimler das Kurzarbeitergeld auf 95 Prozent aufstockt. Das schafft natürlich Unmut. Aber Daimler konnte die Leute der E-Klasse ja nicht in Kurzarbeit schicken - sie wollten ja mit dem neuen Modell rauskommen. Ein Bestandteil der Betriebsvereinbarung ist, dass die Arbeitseffizienz gesteigert werden soll.

"Arbeitszeitverkürzung in dem Sinn, dass der Lohn gekürzt wird!"

Ist Beschäftigung abgebaut worden? Bzw. hat sich die Zusammensetzung der KollegInnen verändert?

In den letzten drei, vier Jahren gab es keine Neueinstellungen. Vorher gab es bis zu zwei Jahren Befristete, die dann meist übernommen wurden. 1997-2002 wurden viele übernommen, nach 2005 fast niemand mehr.

Während der Kurzarbeitsperiode wurde letztes Jahr per Betriebsvereinbarung eine neue Abfindungsregelung abgeschlossen. Die Geschäftsleitung will pro Jahr 1000 Leute abbauen: über Abfindungen, Altersteilzeit und Frühverrentungen. Die C-Klasse wird ab 2014 nicht mehr in Sindelfingen produziert, bis dahin sollen ca. 4000 Leute abgebaut sein. Bisher sind 300 gegangen. 40-50-jährigen wird eine Abfindung zwischen 120.000 und 200.000 Euro brutto angeboten. Unter 40 bekommt man weniger als 100.000 Euro. Wer über 50 ist, kriegt keine Abfindung mehr, sondern Altersteilzeit oder eine Frühverrentung. Im Augenblick ist das Durchschnittsalter in der Montage 44 Jahre. Viele Kollegen sind durch die Arbeitsbelastung krank und sehen keine andere Möglichkeit, als eine Abfindung zu nehmen und raus zu gehen. Viele der ausländischen Kollegen wollen mit dem Geld in die Heimat zurückgehen, andere wollen hier ein Geschäft aufmachen.

Gibt es überhaupt junge Leute bei Euch?

Seit 1. Januar 2010 arbeiten bei uns wieder 300 Leiharbeiter für voraussichtlich drei Monate, vorwiegend in der E-Klasse. Wenn Leute aus der C-Klasse in die E-Klasse versetzt werden, müssen die wohl gehen. Die Mehrheit von ihnen sind junge Migranten, allein 200 türkischer Herkunft.

Seltsam, dass der Betrieb Kurzarbeit anmelden kann und gleichzeitig Leiharbeiter einstellt...

Man könnte auch Leute von der S-Klasse in die E-Klasse schicken, aber Daimler will das nicht, das ist teurer als Leiharbeiter einzustellen.

Laut Betriebsvereinbarung dürfen vier Prozent der Belegschaft LeiharbeiterInnen sein: das heißt, sie können ca. 4000 Leiharbeiter einstellen! Vor der Krise gab es in Sindelfingen etwa 900 Leiharbeiter, die wurden alle entlassen, als ihr Vertrag zu Ende war. Dann gab es ein Jahr lang keine Leibarbeiter im Betrieb.

Ein fest angestellter Montagearbeiter hat 22,50 Euro plus Schichtzulage plus Urlaubs- und Weibnachtsgeld, ein Leiharbeiter 16,50, wovon die Verleihfirma 7,50 bezahlt, den Rest Daimler. Viele haben nur einen Vertrag über 130 Stunden pro Monat, arbeiten aber 40 Stunde pro Woche. Das bedeutet, dass sie die 16,50 nur für 130 Stunden bekommen, für die restlichen 32 Stunden nur den Lohn der Leihfirma.

Die fest beschäftigten Kollegen finden die niedrigeren Löhne der Leiharbeiter ungerecht. Und sie haben Angst, dass es auch an ihre Löhne gehen wird. Die Leiharbeiter werden von den Kollegen nicht ausgeschlossen, die machen da keinen Unterschied. Aber der Unternehmer gibt den Leiharbeitern die einfachste und härteste Arbeit. Sie lernen auch nur 3-4 Stationen, d.h. sie rotieren weniger.

Sind die Leiharbeiter Facharbeiter?

Eigentlich nicht, viele junge Leute, viele Studenten.

Seid Ihr alle Facharbeiter?

Nein, die brauchen da keine Facharbeiter. Die Arbeit ist so organisiert, dass sie jeder in zwei Stunden lernen kann. 20-30 Prozent der Montagearbeiter sind Migranten, früher waren es mehr. Auch viele, die ausgelernt haben, kommen erstmal ans Band. Und wenn sie nach vier Jahren nichts gefunden haben, bleiben sie da.

Seid Ihr alle in der gleichen Lohngruppe in der Montage? Gab es Absenkungen bei den Eingruppierungen? Hängt das mit ERA zusammen?

Früher waren die Leute in der Montage höher eingestuft. Heute haben sie maximal Entgeltgruppe 4 oder 5. Bis zum Jahr 2014 bekommen die langjährig Beschäftigten einen finanziellen Ausgleich, der aber auf Tariferhöhungen angerechnet wird.

Die MontagearbeiterInnen haben erreicht, dass Leute mit 24 AW in Entgeltgruppe 6 eingestuft wurden. Das haben wir in der Montage damals durch eine einmalige Aktion erreicht. Wir haben sehr viel Druck gemacht. Der Unternehmer hat gleich nachgegeben, denn wenn die Montage gestanden hätte, wäre ERA im gesamten Daimler nicht durchgekommen!

Die ArbeiterInnen in der Logistik, im Presswerk oder im Rohbau haben die Überbrückung nicht bekommen. Sie bekommen auch den finanziellen Ausgleich bis 2014, aber auf dem Papier sind sie nur noch in Entgeltgruppe 4-5 eingestuft.

Geldmäßig ändert sich für die länger Beschäftigten nichts, aber z.B. die 460 Azubis, von denen 80 Prozent übernommen werden sollen, werden ca. 800-1000 Euro weniger bekommen als früher: also 2400 statt 2900 brutto ohne Schichtzulage. Je mehr Alte rausgehen, um so mehr Leute bekommen die neue Entgeltgruppe.

Die Löhne werden immer unterschiedlicher. In 20 Jahren wird kein Arbeiter mehr Entgeltgruppe 6 haben. Nach ERA kann kein Montagearbeiter mehr Entgeltgruppe 5 bekommen. Was da verlangt wird an Qualifikation, können die meisten nicht: Lesen, Schreiben, Computerkenntnisse, mindestens drei Jahre Berufsausbildung, Arbeitserfahrung in verschiedenen Bereichen, Fehlerbehebung, Führungserfahrung....

Wie ist die Arbeit in der Montage organisiert?

Bei uns am Band gibt es seit Anfang der 90er Jahre Gruppenarbeit. Ein Meister ist für zwei Gruppen zuständig. Er hat auch einen Stellvertreter. Über dem Meister (Ebene 5) steht der Teamleiter, der Ingenieur ist (Ebene 4).

Die Gruppen bestehen aus 10-20 ArbeiterInnen. Jede Gruppe hat zwei gewählte Gruppensprecher, die für mindestens sechs Monate im Amt sind, dann können sie abgewählt werden. Sie machen im täglichen Wechsel Gruppensprecherarbeit. D.h. sie arbeiten nicht am Band mit, sondern sind zuständig für Urlaub und Freischichten, Qualität, den Q-Alarm (wenn ein Fehler auftritt oder ein Kollege nicht schnell genug seinen Arbeitsschritt macht, gibt er Q-Alarm, dann kommt ein Springer und bügelt den Fehler am laufenden Band aus, der Kollege geht zum nächsten Auto). Puffer gibt es jetzt beim neuen Band nicht mehr. Wir können nicht mehr vorarbeiten.

90 Prozent der Produktion ist auf 1 Takt organisiert, d.h. jeder Arbeiter bearbeitet jedes Fahrzeug, das sich in diesen 85 Sekunden fünf Meter bewegt. Alle fünf Meter kommt eine Linie, die der Arbeiter nicht übertreten darf; sonst schafft er das nächste Auto nicht. Wenn er mit einem Schritt nicht fertig wird, muss er Q-Alarm geben, dann kommt ein Springer. Wenn es nicht sein Fehler war, ist das nicht schlimm, wenn er selbst mehrmals am Tag Q-Alarm gibt, gibt es ein Qualitätsgespräch mit dem Meister. Die Arbeit ist aber auch so organisiert, dass du als erstes ein Problem mit deinen eigenen Kollegen kriegst, da herrscht immer Hektik. Man hilft sich schon, aber viele sagen: ich mache meine Arbeit, der Rest interessiert mich nicht.

Es gibt 16 Stationen, wir rotieren alle halbe Stunde. Das verringert die einseitige Belastung.

"Puffer gibt es beim neuen Band nicht mehr."

Wie ist die Gruppenarbeit organisiert?

Die Gruppen sind meist schon lange zusammen. Einmal wöchentlich gibt es ein Gruppengespräch (20 Minuten bezahlt, 10 Minuten Pausenzeit), in dem über Qualität, neue Maßnahmen, Sicherheit usw. informiert wird. Fortbildung gibt es nicht. Gewerkschaft und Betriebsräte sehen es gerne, wenn Vertrauensleute auch Gruppensprecher sind - schon, weil die mehr Zeit haben, aber die Kollegen wollen das nicht. Die wollen, dass der Vertrauensmann für ihre Interessen eintritt.

Die Gruppen sollen auf acht Leute verkleinert werden, ein Meister wäre dann für vier Gruppen zuständig. Es soll keine gewählten Gruppensprecher mehr geben, sondern pro Gruppe soll ein "Teamleader", praktisch ein Kapo, eingesetzt werden, der nicht mitarbeitet, sondern für KVP, Optimierung, Urlaubs- und Freischichtpläne, Qualität und Sicherheit zuständig ist. Der bildet dann die neue Führungsebene 6. Darüber wird seit zwei Jahren diskutiert, aber bei der S-Klasse haben sie nun begonnen, das umzusetzen.

Das ist ja wie früher! Man kehrt also zum alten Modell zurück und schafft alle Vorteile der Gruppenarbeit ab.


Randnotiz

Vgl. Thekla 15 über die Kämpfe bei FIAT: ein Arbeiter zieht einen Strich auf dem Boden, um die Kontrolle über sein Tempo zu haben - damit ihm der Stopper nicht die Zeit klauen kann. (S. 32)


*


"Eine spontane Kundgebung dieser Größe hat es nie zuvor bei Daimler Sindelfingen gegeben"

Aktionen

Im Sommer 2009 soll es zu Arbeitsniederlegungen an den Montagebändern gekommen sein, weil der Stress unerträglich war. Kannst Du dazu etwas sagen?

Anfang des Jahres wurde die Produktion der E-Klasse langsam angefahren, im Juni war die Kammlinie erreicht. Wegen der Kurzarbeit hatte es keine Neueinstellungen gegeben, sondern Urlaubssperre, keine Freischichten, Kranke wurden ständig zuhause angerufen.

Deshalb gab es eine Aktion, die vermutlich inoffiziell mit dem Bereichsbetriebsrat abgesprochen war. Eine Gruppe hat die Arbeit niedergelegt und ist zum Betriebsrat gegangen. Die anderen haben es nachgemacht. Wenn 30 Leute weg sind, steht das Band. Wir sind mit ca. 1000 Leuten zum für uns zuständigen Betriebsratsbüro. Es gab erstmal ein offenes Mikrophon für Leute, die den Arbeitgeber kritisiert haben, wer die Gewerkschaft kritisiert hat, wurde abgewürgt. Als er das sah, hat sich der BR-Vorsitzende Klemm an die Spitze des Protests gestellt. Der Center-Leiter musste kommen. Er versprach Neueinstellungen, ihm wurde eine Woche Frist gewährt. Der stellvertretende BR-Chef hat angekündigt, dass wir sonst wiederkommen, aber das ist natürlich nie geschehen, obwohl sich die Bedingungen kaum verändert haben. Die Aktion dauerte etwa eineinhalb Stunden. Sie hat sich trotzdem gelohnt, denn der Betriebsrat hat den Druck der Belegschaft gespürt: er hat kapiert, dass die Leute rausgehen, wenn man sie ruft. Das kann er natürlich für sich nutzen, aber er kriegt auch ein bisschen Angst.

Jetzt erzähl bitte noch, wie Ihr im Dezember 2009 die Arbeit niedergelegt habt, als bekannt wurde, dass die C-Klasse verlagert werden soll...

Diese Aktion war nicht abgesprochen. Montags gab es eine Betriebsversammlung, auf der die Verlagerung der C-Klasse nach Bremen, USA und China bekannt gegeben wurde. Am Dienstag gab es eine Kundgebung zusammen mit Leuten aus anderen Betrieben draußen vor dem Tor. Am Mittwoch fiel dann die Entscheidung. Der Betriebsrat hatte nicht erwartet, dass die Leute nach der Kundgebung und der Entscheidung nochmal auf die Straße gehen würden. Aber da hatte er sich getäuscht! Die dachten, sie hätten die Luft rausgenommen und dass die Leute die Entscheidung akzeptieren würden.

Am Mittwoch um 9 Uhr informierten die Meister die Gruppen über die Entscheidung des Vorstands und schickten die Leute wieder an die Arbeit. Aber ein Vertrauensmann hat dann gesagt: "Nein, wir geben jetzt zum Betriebsrat!" Daraufhin ist eine Gruppe mit 20 Leuten aus der E-Klasse zum Betriebsratsbüro. Andere Gruppen, die das gesehen hatten, sind hinterher. Dann gingen sie zum Bau, wo die C-Klasse montiert wird und forderten die Leute auf mitzugeben. Das Band wurde abgestellt und ca. 1000 Leute sind zum BR-Büro. Das ging alles sehr schnell. Der Betriebsrat wollte abwiegeln, wurde aber niedergeschrien: "Ihr seid nicht mehr unsere Führer." So wurden mehrere niedergebrüllt und am Sprechen gehindert. Ein Vertrauensmann rief dann auf, zum Bau 1 zur Personalabteilung über die Straße zu gehen. Dann schlossen sich auch Leute aus der S-Klasse, aus Presswerk, Lackiererei und Rohbau an. Insgesamt wuchs die Menge auf 3-4000 Leute an.

Eine spontane Kundgebung dieser Größe hat es nie zuvor bei Daimler gegeben. Günstig war, dass der BR-Vorsitzende Klemm und sein Stellvertreter an dem Tag in Hamburg bei Verhandlungen waren. Die Betriebsräte vor Ort hatten die Belegschaft nicht im Griff, sie forderten den Werkleiter auf, herauszukommen, aber den ließen die Kollegen auch nicht sprechen. Dann redete der IGM-Sekretär und schickte um 11 Uhr die Leute zurück an die Arbeit. Die sind auch in ihre Abteilung zurück, haben aber die Sachen gepackt, sind wieder auf die Straße und dann nach Hause gegangen - es war ja schon 12 oder 1 Uhr.

Als die Gegenschicht kam (da war ich dabei, aber ich hatte am Vormittag schon alles über Handy mitverfolgt), hat der Meister wieder ein zehnminütiges Informationsgespräch gemacht. Unsere Gruppe hat gesagt: "Wir gehen zum Betriebsrat!"

Die Leute sind zu fünft zum Betriebsratsbüro, dann waren es mehrere 100, die C-Klasse kam dazu. Wir haben die ganze Zeit "zu spät!" geschrien und sie nicht reden lassen. "Ihr habt das alles gewusst, aber bis heute nichts davon gesagt, jetzt ist es zu spät!" Ca. 5-6000 Leute sind auf die Straße raus. Uwe Meinhardt von der IGM-Verwaltungsstelle kam. Nach zwei Stunden wollte er die Leute wieder an die Arbeit schicken und versprach, dass es am nächsten Morgen wieder eine Demo gibt. Klemm und sein Stellvertreter waren inzwischen wieder da, wir ließen sie aber nicht reden. Eine Demo für Freitag 11 Uhr wurde angekündigt, damit die Leute am Donnerstag um 18 Uhr wieder an die Arbeit gehen.

Die Demo am Freitag fand statt, die Spätschicht hat von 14 bis 18 Uhr gearbeitet und ist dann rausgegangen. Sie sind mit 7-8000 Leuten über die Autobahn nach Böblingen gelaufen. Da waren auch viele Leute aus Zulieferbetrieben und von Daimler Untertürkheim dabei. Vertrauensleute hielten Reden.

Damit war die Mobilisierung zuende, aber Geschäftsleitung und Betriebsrat waren so unter Druck gekommen, dass sie für den folgenden Montag eine weitere Betriebsversammlung ankündigten, auf der auch Zetsche auftreten sollte, wie das die Belegschaft wollte.

Die Betriebsversammlung hat von 10 Uhr bis zum Feierabend gedauert - die Leute sollten ruhig gestellt werden. Zetsche trat auf, zehn Minuten wurde er am Reden gehindert. Das erste, was er sagte, war: wegen der C-Klasse wird es keine betriebsbedingten Kündigungen geben. Die Maßnahmen seien für uns gut, um unsere Arbeitsplätze zu retten. Damit hatte er die Hälfte der Leute für sich gewonnen. Als er versprach, bis kommenden Mittwoch ein Verhandlungsergebnis vorzulegen, war die Mehrzahl der Leute erstmal wieder beruhigt.

Am Mittwoch wurde dann die "Betriebsvereinbarung 2020" vorgelegt: so schnell ist noch nie eine Betriebsvereinbarung ausgehandelt worden! Danach sollen als Ersatz für die C-Klasse 1000-1500 neue Arbeitsplätze im Werk geschaffen werden. Es wurde aber auch vereinbart, dass die Arbeit optimiert und bei jedem Modell 30-40 Prozent der Kosten eingespart werden sollen.

So eine spontane Massenaktion ist beim Daimler zum ersten Mal passiert. Die Leute haben gesehen, dass sie etwas gemeinsam erreichen können, wenn sie sich selbst organisieren.


Randnotizen

"Spontan-Streiks in Sindelfingen nach Aus für C-Klasse Tausende Schaffer legen Daimler lahm"
BILD Stuttgart 3.12.2009

Die Aktion hat dazu geführt, dass am Montag im Montagewerk in Rastatt die Spätschicht keine Türen mehr hatte und nicht arbeiten konnte.

"Die Sindelfinger Belegschaft fand bisher den Betriebsratschef Erich Klemm gut, jetzt fühlen sie sich betrogen."

"Die Lage ist im Moment unter Kontrolle. .... Was hätte passieren können, ist abgewendet worden."

Kommentar eines alternativen Betriebsrats aus Mettingen

Raute

Hyundai, Dymos, Grammer:

Vorsichtige Rückkehr des Klassenkampfs in Tschechien

"Liebe Mitarbeiter, aufgrund einer Havarie im südafrikanischen Motorenwerk entfallen heute die Spät- und Nachtschicht." Mitten im Boom, parallel zu Sonderschichten und Stückzahlerhöhung begleiteten Meldungen wie diese die Stopps der Automobilproduktion in der BRD. Noch bevor die Zeitungen vom Lkw-Fahrer-Streik in Spanien berichteten, war klar, was mit "Havarie" gemeint war. Die Produktion stand still, weil der Materialfluss gestoppt war.

Mit Einbruch der Krise strafften alle Autohersteller aus Kostengründen ihre Produktionsketten. Wo einst zwei Zulieferer die Teile lieferten, ist heute meist nur noch einer. Puffer sind reduziert worden. Die Staplerfahrer und allgemein die gesamte Logistik müssen in vielfach erhöhten Fahr- und Wechselzeiten den Materialfluss garantieren. Hinter den Schlagwörtern "Just in time" und "Just in sequence" steht eine alte Philosophie, deren Rationalisierung nur eine Grenze kennt: die ArbeiterInnen selbst.

Osteuropa und insbesondere Tschechien, Polen und die Slowakei sind Vorreiter in Sachen europaweiter Produktionsketten. Gerade deutsche Zulieferer lagerten hierher aus oder gründeten neue Standorte und beliefern europaweit die unterschiedlichsten Stammwerke. Neben vielen anderen Automultis setzt speziell Hyundai/Kia mit zwei Fabriken in Tschechien und der Slowakei auf einen engmaschigen Materialfluss. Mit unterschiedlichen Methoden. In der Slowakei fahren Lkws das Material bis an die Montagehallen, in Tschechien laufen die Sitze von Dymos auf Förderbändern bis ans Montageband.

Ende 2009 kam es zu Kämpfen bei Hyundai und Dymos, die rasant die räumliche und rechtliche Trennung auf hoben, wenn auch nur kurzfristig Nur zwei unter vielen Kämpfen der letzten Monate, die deutlich machen, wie angreifbar die gesamte Autoindustrie (geworden) ist. Der Streik der Lkw-Fahrer in der Slowakei genoss breite Unterstützung in der Öffentlichkeit und zwang die Regierung, die Einführung der elektronischen Mauterfassung zurückzunehmen. Die Arbeiter an den verschiedensten deutschen, österreichischen oder osteuropäischen Fahrzeugmontagebändern erfahren immer mehr von dem Potenzial, wenn es bei einem kleinen Zulieferer kracht. Genossen aus Tschechien haben mit den Arbeitern geredet und uns den folgenden Bericht geschrieben.


Die Wildcat-Streiks bei Hyundai, Dymos (beide Dezember 2009) und Grammer (Januar 2010) haben nach fast zehn Jahren Stille den Klassenkampf in Tschechien wiederbelebt. Die Arbeitsniederlegungen wegen zurückgehaltener Löhne wirkten sich auch auf das Maschinenwerk CKD in Prag, die Traktorenfabrik Zetor Brünn und die Flugzeugfabrik Let in Kunovice aus.

Zwischen den Streiks gab es einige Ähnlichkeiten. Sie wurden ohne die Gewerkschaften organisiert - das ist für Tschechien ungewöhnlich. Gestreikt wurde für bessere Arbeitsbedingungen und gegen Mobbing am Arbeitsplatz. Alle drei Werke sind Autozulieferer, die hier (und in der Slowakei) seit 2000 eine stürmische Entwicklung erlebt haben, aber bislang von offenen Arbeiterkämpfen verschont geblieben waren.

Die Beschäftigten bei Hyundai streikten zudem gegen die häufigen Überstunden, die sie seit dem Herbst 2009 machen müssen, und thematisierten die hohen Löhne der Manager.

Die Werke von Hyundai und Dymos liegen in Nosovice nebeneinander. Dymos stellt für Hyundai Autositze her und gehört zum Hyundai-Konzern. Der Streik bei Dymos begann nur einen Tag nach der Arbeitsniederlegung bei Hyundai. Die Arbeiter standen miteinander in Kontakt.

Die ArbeiterInnen bei Grammer kämpften gegen den Versuch ihrer Chefs, die Löhne zu senken. Als sie auf ihrem Lohnzettel eine vorher nicht angekündigte Lohnsenkung fanden, traten sie spontan in Streik.

Die Kämpfe hatten auch ähnliche Grenzen. Sie dauerten nur ein paar Stunden. Die Streikenden (Hyundai: 400 Leute, Dymos: 100, Grammer: 300) versammelten sich spontan. Das Management griff an allen drei Orten hart durch. Die aktivsten ArbeiterInnen von Dymos wurden entlassen. Fünf "Rädelsführer" von Grammer wurde noch während des Streiks gekündigt. Die Kündigungen wurden letztlich zurückgezogen, allerdings erst, nachdem die ArbeiterInnen zugesagt hatten, im Ausgleich für ihre Streikstunden Sonderschichten zu leisten.

Nur die streikenden ArbeiterInnen von Hyundai gingen straflos aus dem Streik hervor. Das war eine Grundbedingung der Gewerkschaften während der Verhandlungen mit den Managern. Die Gewerkschaften bei Hyundai wurden 2008 gegründet und bestehen bis jetzt nicht aus Berufsfunktionären, sondern werden von ArbeiterInnen aus der Produktion getragen.

Alles in allem erreichten die Kämpfe also kaum materielle Verbesserungen. Das haben uns die ArbeiterInnen bei Hyundai auch selber so gesagt, die sehr offen und bereitwillig mit uns über ihren Kampf geredet haben. Sie sind offen für Anregungen.

Es lässt sich noch nicht sagen, ob wir am Beginn eines neues regionalen Kampfzyklus stehen. Das hängt auch stark von der Klassendynamik in den benachbarten Ländern ab.

Gruppe "Kolektivnê proti kapitálu"

Raute

In der spanischen Autoindustrie kam es im Januar zu zwei wichtigen Streiks.

In den beiden Werken von Nissan bei Barcelona war die Belegschaft letztes Jahr über Entlassungen, freiwillige Abfindungen und Frühverrentungen von 4200 auf 2800 verringert worden, auch dabei war es zu Mobilisierungen gekommen. Es drohten weitere Entlassungen und Kurzarbeit. Als die Nachfrage wieder anzog, ließ die Unternehmensleitung trotzdem die Kurzarbeit weiter laufen, da mit baldigem Wiedereinbruch der Nachfrage zu rechnen sei. Stattdessen wurden Samstagsschichten angeordnet und 43 ArbeiterInnen aus einem von Kurzarbeit betroffenen Werk im 500 km entfernten ‘vila nach Barcelona versetzt. Am 23. und 30. Januar verweigerten die ArbeiterInnen diese Extraschichten und blockierten die Werkstore. Daraufhin hat die Firmenleitung ihre Einschätzung der Auftragsentwicklung geändert und die Kurzarbeit und die Samstagsschichten ausgesetzt. Sie hat sogar den Lohn für die bestreikten Schichten nachgezahlt.

Die Belegschaft der beiden Seat-Werke in Barcelona und Martorell wurden im März 2009 im Poker um die Fertigung neuer Modelle dazu aufgerufen, "ein Zeichen zu setzen": Lohnverzicht für Arbeitsplatzerhalt. Die Seat-Leitung war trotz ihres Erfolgs unzufrieden mit dem Ausgang der Abstimmung. Knapp 58 Prozent der ArbeiterInnen verweigerten die Zustimmung (37 Prozent Enthaltungen, 18,9 Prozent Ablehnungen, 2 Prozent ungültige Stimmabgaben). Die Regierungen lobten das beispielhafte Verhalten der Belegschaft.

In den vergangenen zehn Jahren wurde das Personal in der Produktion um 28 Prozent reduziert, während die Indirekten um 18 Prozent reduziert wurden. Im September bestimmte VW einen neuen Präsidenten für die Seat-Firmenleitung. Der holte im Januar zu einem neuen Schlag aus mit der Ankündigung, 300 Beschäftigte wegen "mangelnder Leistung" zu entlassen. Es ging gar nicht um konkrete Verstöße. Dazu wollte er nicht einmal den vorgeschriebenen Weg einer regulierten Entlassung bemühen. Zunächst hieß es noch, es würde sich um Angestellte aus den mittleren Führungsebenen handeln, aber bald wurde klar, dass das ein Bluff war. Als sich in den Werkstätten die Nachrichten von den Kündigungen rumsprachen, schlug die Wut schnell in Aktion um. Am 21. Januar wurde die Arbeit im Presswerk in der Zona Franca (1500 Beschäftigte) niedergelegt. Am selben Tag kam es im Montagewerk im 35 km entfernten Martorell (13.500 Beschäftigte) zu einer 35-minütigen Unterbrechung. Die Mobilisierung wurde wesentlich von den Instandhaltern getragen. Sie organisierten die Aktionen unabhängig von den Gewerkschaften, die sieh erst später dazu gezwungen sahen, offiziell zum Streik aufzurufen und die Verhandlungsführung mit dem herbeigeeilten Präsidenten aufzunehmen.

Auch die Beschäftigten des Subunternehmens Gearbox, das seit Monaten von Kurzarbeit betroffen ist, organisierten den Streik aktiv mit. Am Tag danach weitete sieh der Streik erst richtig auf Martorell aus, Barrikaden wurden gebaut, um die Produktion stillzulegen. Der Präsident behauptet, er wüsste genau, wer die 700 Aktivisten gewesen seien. Er versucht eine Spaltung zwischen Bandarbeitern und Instandhaltern zu beschwören.

Für Montag, den 25 Januar riefen die Gewerkschaften zu einer Abstimmung in den Werkstätten auf, um über die Annahme des von ihnen ausgehandelten Kompromisses zu entscheiden. Von den 93 versammelten Instandhaltern stimmten 65 dem Angebot zu. Das Ergebnis ist komplex; die meisten ziehen es vor, mit der angebotenen Abfindung die Firma zu verlassen.

Raute

(Bummel-)Streik im öffentlichen Nahverkehr in Budapest

Sztrájk! seit dem 12. Januar 2010 bei den Budapester Verkehrsbetrieben BKV ("Budapesti Közlekedési Vállalat"). 5700 von 12.000 ArbeiterInnen beteiligten sich und blockierten 1000 der 1300 Busse des innerstädtischen sowie des Pendlerverkehrs aus den Vororten. Als sie eine Woche danach die Arbeit wieder auf nahmen, hatten sie fast alle Forderungen durchgesetzt.


Schon seit der Jahreswende kam es zu erheblichen Störungen im Betriebsablauf des Öffentlichen Nahverkehrs. Die Tarifverhandlungen waren gescheitert, da begann etwas, das in Presse und Internetforen "Partisanenaktionen der Busfahrer" genannt wurde. Fahrer und Mechaniker bedienten sich des geltenden Arbeitsgesetzbuchs(1) und kleinerer Sabotageaktionen(2), um Druck zu machen gegen die Senkung der Arbeitgeberanteile an der Sozialversicherung. Oft reichte "Dienst nach Vorschrift", um den maroden Budapester ÖPNV lahm zu legen. Dass dieser in den letzten Jahren überhaupt noch halbwegs funktioniert hatte, war größtenteils der Improvisationsbereitschaft der Busfahrer, der Mechaniker und der Fahrgäste zuzuschreiben. Nun wurde schon ein zerbrochener Spiegel zum Ausmusterungsgrund für täglich rund 200 Busse. Auf 15 Prozent der Strecken fuhr nichts mehr.

Anfangs versuchte die Firmenleitung, durch Kontrollen der Werkstätten die ArbeiterInnen einzuschüchtern und Saboteure ausfindig zu machen. Ein Mechaniker wurde gefeuert, weil er Reifen an einem Bus nicht rechtzeitig gewechselt hatte. Bei anderen Durchsuchungen wurden zerschnittene Schläuche von Scheibenwischanlagen gefunden. Laut BKV wurden die anwesenden Arbeiter sofort verhaftet. Aufgrund angeblicher Bombendrohungen mussten Arbeiter die Werkstätten verlassen und stundenlang in der Kälte stehen. Vor allem Arbeiter aus den Werkstätten wurden mit Disziplinarverfahren abgestraft oder versetzt.

Am 12. Januar 2010 wurde von der Mehrzahl der 26 Teilgewerkschaften bei der BKV der unbefristete Streik ausgerufen. Immer mehr Polizisten und Security begleiteten die noch fahrenden Busse und Bahnen. Sie sollten zwischen Streikenden und Streikbrechern schlichten. Auch in den Depots wurde die Situation zwischen Streikenden und Nichtstreikenden immer gespannter. Einige Busdepots wurden besetzt, um so den Einsatz von "Fremdkräften zu verhindern".

Allen Gehässigkeiten seitens der Regierung und der Presse zum Trotz genossen die streikenden ArbeiterInnen breite Sympathie.(3) Die Wut richtete sich mehr gegen das Management der BKV und dessen Skandale des letzten Jahres.(4) Die BKV spart täglich 50 Millionen Forint (200.000 Euro) durch nicht ausgezahlte Löhne, minimierte Sprit- und Instandhaltungskosten ein. Die Gerüchteküche trug so ihren Teil zur Stimmung bei: "Die BKV hat ein Interesse an einem langen Streik, und am Ende macht sie noch mit den Gewerkschaften gemeinsame Sache."

Angesichts des drohenden Verkehrschaos, das die Regierung gleich nutzte, um auch das seit Jahren schwelende Problem des krassen Smogs in Budapest den Streikenden unterzuschieben, bildeten sich spontan viele Fahrgemeinschaften. Einige hatten versucht, eine BKV-Ersatzbewegung zu gründen, die den ÖPNV mit privaten Mitteln (PKW) ersetzen und für die Passagiere kostenlos sein sollte. Viele stiegen auch aufs Fahrrad um.

Ab 18. Januar wurde die Arbeit wieder aufgenommen. Die vielen technischen Mängel und Unwägbarkeiten scheinen wieder handhabbar. Obwohl der Tarifvertrag wegen des Gerangels der vielen Teilgewerkschaften bisher noch nicht unterschrieben ist, wurden die gewerkschaftlichen Forderungen inhaltlichen erfüllt: 3% Kranken- und Rentenkassenzuschüsse der Firma, "Putengeld" von 45.000 Forint (160 Euro) vor Weihnachten, Gutscheine im Wert von 6000 Forint (25 Euro).

Da die BKV das Gesamtvolumen der Lohnkosten für 2010 um eine Milliarde Forint (ca. 3,5 Millionen Euro) kürzen will, stehen die nächsten Auseinandersetzungen um andere variable Lohnbestandteile schon bevor.

Am 13. Januar demonstrierten 29 gekündigte PostarbeiterInnen. Sie waren nach einem Streik von 150 ArbeiterInnen gefeuert worden. An der Kundgebung vor der Postzentrale beteiligten sich VertreterInnen des Gewerkschaftsbundes LIGA und der streikenden BKV-MitarbeiterInnen.

Am 15. Januar kam es zu einem kurzem Solistreik der VDSzSz (Gewerkschaft der EisenbahnarbeiterInnen) für die BKV-ArbeiterInnen. Zwischen 4 und 8 Uhr morgens fielen daraufhin 35 Züge aus, was eher symbolische Geste als realer Streik war. Aber ungarische Genossen halten die kurzen Aktionen für wichtige Zeichen, denn in Ungarn sei es schwierig, überhaupt "widerständige Solidarität" und Unterstützung für streikende ArbeiterInnen zu bekommen.

Wichtig war der BKV-Streik, weil er der erste große "Test" seit den harten Haushaltskürzungen der Regierung Ende 2009 war, die harte Einschnitte für jeden bedeuten werden. Es könnte also 2010 weitere Auseinandersetzungen in ganz Ungarn geben. Der BKV-Streik könnte in diesem Sinne ein positiver Katalysator gewesen sein.


Anmerkungen

1) Ende 2009 wurde kein neuer Tarifvertrag vereinbart. Somit gilt das Arbeitsgesetzbuch. Dieses erlaubt u.a. die Fahrzeuge bei Übergabe für eine unbegrenzte Zeit zu überprüfen, denn nun ist jeder individuell für seinen Bus verantwortlich. Im Tarifvertrag musste die Übergabe in 20 Minuten abgeschlossen sein.

2) Früher gab es durchschnittlich 8-10 technische Fehler pro Tag, nun waren es 172. An jedem Morgen waren bestimmte Fehler besonders häufig: am 4. Januar die Mikrofone, am 5. die Innenbeleuchtung im Passagierraum, am 6. die Scheibenwischanlagen, am 7. die Lenkung.

3) Auch fünf Tage nach Beginn des Streiks sprachen sich bei einer Umfrage 40% dafür aus, dass die "BKV-ArbeiterInnen dafür kämpfen sollen, dass ihre Lohnzulagen gegenüber dem letzten Jahr nicht sinken". Das spiegelt auch die Stimmungslage in den Kommentarforen der Nachrichtenportale wider.

4) Im Dezember 2008 wurde ein Streik bei der BKV durch eine staatliche Soforthilfe von 140 Millionen Euro beendet. Ein Großteil dieses Geldes versickerte aber auf privaten Firmenkonten, in illegalen Lohnfortzahlungen ans Management und anderen dubiosen Kanälen. Dies kam im letzten Jahr ans Licht und wuchs sich zu einem handfesten Skandal aus. Die Stadt musste Anfang Januar nochmals 84 Millionen Euro "Nothilfe" zusagen, knüpfte diese aber an Einsparungen. Dies bedeutet u.a. eine Fahrpreiserhöhung um 4%. Ein Monatsticket kostet seit Jahresbeginn 9400 Forint (34,65 Euro). Der durchschnittliche Bruttolohn lag 2008 in Ungarn bei 849 Euro im Monat, Industriearbeiter kamen auf 528 Euro.

Raute

Bons oder Boni?

Interview mit einem Mitleid des Komitees "Solidarität mit Emmely"

Emmely, seit dreißig Jahren beim Betrieb beschäftigte Verkäuferin, wurde im Februar 2008 fristlos gekündigt: Die Kaisers-Tengelmann AG verdächtigt sie, Pfandbons von Kunden im Wert von 1,30 Euro bei einem Einkauf nach der Arbeit abgerechnet zu haben. Tatsächlich hat Emmely den Streik in "ihrer" Filiale in Berlin-Hohenschönhausen organisiert: Kolleginnen angerufen, Treffpunkte ausgemacht, die Streikgeldliste verwaltet. Sie ließ davon auch nicht ab, als die Distriktmanagerin die Arbeiterinnen einzeln ins Gebet nahm und die Kolleginnen der Reihe nach den Streik aufgaben. Die Tarifauseinandersetzung dauerte über eineinhalb Jahre. Die Mobilisierungsfähigkeit war in den meisten Gegenden gering, und nachdem die Berliner Tarifkommission in letzter Minute den Streik in der umsatzstarken Weihnachtszeit abgeblasen hatte, schrumpfte die Streikbegeisterung weiter. Am Ende kam ein Abschluss unterhalb der Inflationsrate heraus.

Der Kündigung folgte eine ungewöhnliche arbeitsrechtliche Auseinandersetzung: Emmely verweigerte sich einer schlechten "gütlichen Einigung" und will statt dessen auf gerichtlichem Weg ihr Recht durchsetzen. Aus einer Streikunterstützungsgruppe bildete sich das Komitee "Solidarität mit Emmely", das den Fall öffentlich macht. Gegen die Darstellung der Kaiser's-Tengelmann AG und der Gerichte vertritt das Komitee, dass die Kündigung Repression gegen eine Streikende sei. Es informiert über den weithin unbekannten Umstand, dass man auf Verdacht gekündigt werden kann und skandalisiert die Unverhältnismäßigkeit von Bagatellkündigungen. Es folgen zwei Niederlagen in der ersten und zweiten Instanz.

Mit jedem Gerichtstermin gewann der Fall an Medieninteresse, bei der Urteilsverkündung der zweiten Instanz im Februar 2009 war Emmelys Rausschmiss zum bundesweiten Medienereignis geworden. Das Komitee zählte Berichterstattungen in allen europäischen Ländern und auf allen Kontinenten außer der Antarktis. Seitdem berichten die Medien regelmäßig prominent über weitere Fälle von Bagatellkündigungen. Das Komitee versuchte, mit einer Petition gegen Verdachts- und Bagatellkündigungen in den Diskurs einzugreifen, diese erreichte aber kein vergleichbares Medienecho und wurde vom Petitionsausschuss nicht veröffentlicht. Im Wahlkampf wurde Emmely immer wieder als Symbol für mangelnde soziale Gerechtigkeit benutzt. Inzwischen beschäftigen sich auch Fachöffentlichkeiten mit Verdachts- und Bagatellkündigungen, die Arbeitsrichterschaft muss sich für ihre sehr spezielle Rechtsprechung rechtfertigen.

Bei der Berliner ver.di herrscht weitgehend Funkstille. Nachdem der Tarifvertrag endlich in trockenen Tüchern war und Emmely die erste Instanz verloren hatte, verteilte der FB Handel von ver.di Protest-Postkarten an seine Mitglieder, die sogar einen Boykottaufruf gegen Kaiser's enthielten. Doch nachdem der Betriebsrat von Kaiser's ver.di öffentlich aufforderte, die Aktion einzustellen, und öffentlich mit dem Austritt "seiner" 700 Mitglieder aus ver.di drohte, war mit dem Engagement ab Anfang 2008 Schluss.

Derweil machte das Komitee Veranstaltungen und Kundgebungen und versuchte Brücken zu anderen Kündigungsfällen oder Kämpfen, wie im Kino Babylon Berlin-Mitte, zu schlagen. Das Bundesarbeitsgericht verhandelt Emmelys Revision am 10. Juni 2010.


Soziale Wut

Alle waren erstaunt über den Erfolg der Emmely-Kampagne. Du selber hast es mal damit erklärt, hier sei eine soziale Wut an die Oberfläche gekommen...

Emmely und der Pfandbon sind ein Symbol für soziale Ungerechtigkeit, das zum Ausdruck all dieser grummelnden untergründigen Strömungen sozialer Unruhe wurde. Es ist wie ein Kessel unter Druck, dann ist irgendwo das Loch aufgegangen, durch das jetzt der Dampf raus kommt. Diese soziale Wut geht erstmal von Gerechtigkeitsbegriffen aus. Leute werden wütend und aktiv, weil sie ganz persönlich betroffen waren. Weil jeder das kennt: Sich wehren zu wollen und nicht zu wissen, wie weit man gehen kann. Leider äußert sich das in Gerechtigkeitsbegriffen und nicht in Begriffen wie "Ich will was haben".

Die Medien haben vor allem die unschuldige Verkäuferin in den Mittelpunkt gerückt. Ihr hattet hingegen zunächst versucht, ihre aktive Rolle im Streik zu thematisieren...

Nee, der Streik ist anderthalb Jahre her und in den Medien geht's nicht nur um Emmely. Und das ist gut so. Jetzt poppen all die Fälle auf in denen die "Tat" unstrittig ist: Frikadellenfall, Maultaschenfall, Handy aufladen... Im Mittelpunkt steht nicht mehr die Frage danach, ob sie den Pfandbon gemopst hat, sondern ob eine Entlassung nach dreißig Jahren angemessen ist. Und das ist ja schon ein sozialer Anspruch, weil da drinsteckt, dass die Vorstellung von Eigentum nicht so rasiermesserscharf ist, wie die BAG-Präsidentin sich das vorstellt. Eine Frikadelle ist eben nicht nur Eigentum, sondern auch ein Nahrungsmittel. In den Gerechtigkeitsfragen sind soziale Interessen drin. Unsere Aufgabe ist es, die auszupacken und in den Vordergrund zu rücken.

"Wir haben immer weniger, und den Managern stopfen sie die Boni in den Rachen"; die Krise allgemein: Hat das damit zusammengepasst?

Offenbar, das wussten wir aber auch erst hinterher. Der lange Tarifkonflikt im Einzelhandel; dass seit zehn Jahren die Löhne real sinken, die soziale Kluft größer wird und dass alle das scheiße finden. Ohne die Krise und die Managerboni hätte das nicht so geknallt, zwei Jahre vorher wäre das ganz anders gelaufen.

Gleichzeitig war das schon lange da. Untersuchungen darüber, wie die Deutschen zur sozialen Marktwirtschaft stehen, fallen seit Jahren schlechter aus. Die finden viele nicht toll, und speziell die Ossis nicht. 2008 war der Tiefpunkt erreicht, 70 Prozent Ablehnung.

Als sich die Öffentlichkeit der Emmely-Kampagne viel weiter entwickelte, als Ihr das hattet hoffen können, was habt ihr politisch draus zu machen versucht?

Das gleiche wie vorher. Wir versuchen, eine sehr klare, parteiische Position einzunehmen, völlig innerhalb der Spielregeln. Das Arbeitsrecht, die Richter und deren Standesprivilegien anzugreifen. Was man da an Effekt einfahren kann, in so einer breiten Mediendebatte, ist schwer zu bestimmen. Ich halte es für einen Erfolg, wenn in der BILD mal nicht Königin sowieso auf dem Titel ist oder wenn die Arbeitsrechtsprechung sich mal rechtfertigen muss - wenn man vorher davon ausgeht, dass die Kräfteverhältnisse sehr eindeutig sind und man eh nicht viel reißen kann, ist das schon viel. Es ist uns gelungen, einen Begriff zu platzieren, jetzt müssen alle über "Bagatellkündigungen" reden. Die BAG-Vorsitzende muss dann sagen: "Es gibt keine Bagatellen" - und klingt damit wenig überzeugend.

Wie beziehen wir uns auf diese soziale Wut? Ich könnte mit meinen Kolleginnen gut darüber reden, weil Emmely alle kennen. Aber dass der kleinen Frau nix geschenkt wird, wissen sie alle - wie kommen wir darüber hinaus, das nochmal zu bestätigen?

Du kannst ja mit deinen Kolleginnen über den Emmely-Fall reden, obwohl Du weißt, dass alle zustimmen werden, weil man damit vielleicht auch nochmal über die eigenen Arbeitsbedingungen reden kann. Oder wenn irgendjemand antwortet: "Diebstahl ist Diebstahl" weißt du: Der Kollege ist es nicht.

Emmely stand im Betrieb alleine da, ihre Kolleginnen haben sich nicht solidarisch verhalten. Das zeigt also auch, dass es ein ganz schönes Risiko ist, wenn man streikt. Wie können wir da weiterkommen?

Weniger Angriffsfläche bieten: Als VerkäuferIn im eigenen Laden einkaufen, nicht mit ec- und Paybackkarte. Das haben wir während des Streiks in die Flugis geschrieben. Ansonsten Solidaritätsnetze bilden und mit Solidarität versuchen öffentlich zu werben. Soliarbeit steht immer im Ruf, unpolitisch zu sein, Schlagwort Sozialarbeit. Aber sie ist ein Türöffner, man kommt mit Leuten in Kontakt, wenn man versucht, das nicht ausschließlich auf einer Politebene zu machen. Und in der Öffentlichkeit dann "unideologisch" und, so weit es geht, voraussetzungslos auftreten. Damit viele sich in Bezug setzen können. Und vielleicht beteiligen. Andere können sich beteiligen, wie sie wollen. In Bremen hat sich aus der Emmely-Soliarbeit zwanglos eine Kampagne gegen Schlecker XL entwickelt. Deshalb treten wir ohne Label auf, wir haben ja kein Markenrecht auf Solidarität. Ich und andere aus dem Bündnis auch glauben, dass die Leute abgeschreckt sind von so was, weil sie denken, da wird ihnen auch wieder was verkauft. Und da ist es egal, ob man ihnen das Schicksal einer Kaffeeverkäuferin oder den Kaffee verkaufen will, wenn es dann doch in schicker Warenform daherkommt. Ich glaube, dass dies einen kleinen Bestandteil des Erfolges ausmachte. Dass die Leute nicht immer aus demselben marketingoptimierten Blickwinkel auf den Fall Emmely aufmerksam gemacht wurden, sondern jeweils unterschiedlich.


Kräfteverhältnisse

Im VerkäuferInnenstreik sind Leute aktiv geworden, die das vorher nicht waren. Aber er blieb unter der Kontrolle der Gewerkschaft. Was können wir denn machen, wenn es keine unabhängigen Aktivitäten gibt?

Es gab eine gemeinsame Aktion mit verdi, eine Reichelt-Filiale zu blockieren.
[http://dichtmachen.wordpress.com/werwirsind/dokumentationreichelt/] Ich fand es richtig, das zu machen, wegen der Lerneffekte. Man konnte sehen: Wie machen die das, wie machen wir das. Ich hätte mir gewünscht, dass man mehr an diesem Prozess drangeblieben wäre.

Nach der Aktion fand eine Auswertung mit allen Beteiligten statt, darunter einige Betriebsräte von Reichelt. Die Leute von Reichelt waren froh, dass mal was passiert ist, und entsetzt, dass es so radikal war. Das war interessant zu erfahren. Seltsamerweise war aber nicht vorgesehen, dass die beteiligten Gruppen ebenfalls ihre Auswertung darstellen. Es war mir unklar, warum sich mehrere linke Gruppen in der Stadt daran beteiligten und gar keine eigenen Perspektiven einbrachten. Es ging nur noch darum, wie man's besser machen kann: Stellen wir uns mit den Flugis 50 Meter weiter nach rechts? Was ich daraus lerne, ist eine noch frustrierendere Einschätzung der Größenverhältnisse. Wenn man von außen kommt, ohne Erfahrung in der Branche, dann muss man dahin gehen, wo schon was organisiert ist, und das ist dann immer bei einer Gewerkschaft und in deren Umfeld. Der Ort der Begegnung wird von der Gewerkschaft geschaffen, und dann ist er ohne sie auch wieder weg. Solange man nur vermittelt über die Gewerkschaften Kontakte hat, wird man immer deren Anhängsel bleiben.

Im "Komitee Solidarität mit Emmely" gab es immer eine Kritik am großen, hierarchischen Gewerkschaftsapparat; einige wollen davon Abstand halten, gleichzeitig findet eine Zusammenarbeit statt Ich halte es für eine Illusion, auf Abstand bleiben zu können und sich nicht vereinnahmen zu lassen.

Die gesamte Linke, insofern sie überhaupt soziale Fragen behandelt, ist die ganze Zeit damit beschäftigt, ihr Verhältnis zur Gewerkschaft zu bestimmen. Das ist ein Indiz dafür, wie wichtig die sind. Das gesamte soziale Gefüge ist im Sozialstaat zentriert, in dem die Gewerkschaften die Interessen der Beschäftigten vertreten und in den Staatsapparat kooptiert sind. Daher sind sie so wichtig, verfügen über die Kontakte, über das Geld, sitzen am Hebel, wenn es um Tarife geht. Sie sind auch in die Arbeitsrechtsprechung eingebunden, insofern sie die Hälfte der beisitzenden Richter stellen. Alle Linken versuchen, einen Abstand zur Gewerkschaft zu bestimmen. Und darin raucht man sich auf Die Frage ist, ob es möglich ist, da rein zu gehen und zu gucken, ob man eigene Beziehungen zu den Beschäftigten aufbauen kann oder nicht.

Dir ist wichtig, ein offenes Bündnis zu machen?

Es ist typisch, dass Soligruppen bunt zusammengewürfelt sind, die entstehen hält nicht aus zehn Jahren gemeinsamer Marxlektüre. Es ist gut, wenn man viele verschiedene Beteiligungmöglichkeiten hat und jeder sich was aussucht. In diesem Kreis waren wir zu Hochzeiten zwanzig Leute, da gibt es welche, die haben ihre Magisterarbeit zu Organizing geschrieben, die wollen jetzt in der Gewerkschaft Organizing machen. Dann gibt es Linksgewerkschafter, die bissig über ihre Gewerkschaft reden, aber niemals von ihr lassen würden, und die Anarchos, die den hierarchischen Apparat und die Umgangsweisen in einer Großgewerkschaft ganz furchtbar finden. Wenn man ein breites Publikum ansprechen will, dann bietet diese Vielfalt dazu Möglichkeiten.


4200 emails

Wie hat sieh die Zusammenarbeit im Komitee entwickelt?

Anfangs hat es so funktioniert, dass man vor Filialen gezogen ist und Buh gerufen hat, Kundgebungen gemacht hat und so. Das kann ein lokales Komitee stemmen, das hat Spaß gemacht. Wir kannten uns untereinander kaum, unterschiedliche Umgangs- und Sichtweisen mussten zusammenkommen. Das war anstrengend, aber interessant. Dann wird es immer abstrakter, geht um trockenes Arbeitsrecht und ne Petition, da sind wir geschrumpft. Entscheidungen in so einer Gruppe legitimieren sich irgendwo zwischen Mehrheitsentscheidungen, wo keiner Bauchweh äußert, und dem Umstand, dass, wer die Arbeit macht, auch entscheidet. Wer da noch Einfluss nehmen will, muss in einem ähnlichen Umfang mitmachen und es als erstrebenswert empfinden, ein Flugi in der dritten Version zu diskutieren. Von der Ursprungsgruppe bröckelten der anarchistischere, aktionistischere Teil und die, die nicht so viel Zeit hatten, fast ganz ab.

Habt Ihr in der Zeit andere interessante Kampagnen oder Leute kennen gelernt?

Das Komitee in der Summe ganz sicher. Und Emmely überhaupt. Ich selber auch, aber ich bin dermaßen im Gerödel versunken, dass ich eigentlich noch einsamer bin als ich vorher rein gegangen war. Sonst hab ich immer meine sozialen Kontakte über die Sachen hergestellt, die ich politisch gemacht habe, und diesmal nicht, weil ich so wahnsinnig viel vorm Rechner gesessen hab. Das empfinde ich als Niederlage, es war alles so checkermäßig.

Was hast du denn konkret tagtäglich gemacht?

Was ein Solikomitee so macht... Mein Teil war unter anderem so was wie Büroarbeit. Kürzlich hab ich gezählt: Ich hab 4200 emails geschrieben. Irgendwo hinrennen und die Geschichte erzählen. Flugblattentwürfe rumschicken, ne Diskussion drum haben... Ich hab zu Leuten Kontakt aufgenommen, wo ich im Traum nie dran gedacht hätte, z.B. alle Parteien im Wirtschauftsausschuss der Bezirksverordnetenversammlung Hohenschönhausen. Leute finden, die auf Kundgebungen reden. Geld von Stiftungen beantragen, Verteiler pflegen, Protokoll schreiben. Es ist von den Auswirkungen her das dickste Ding, was ich je gemacht hab, und das motiviert natürlich. Aber eigentlich bin ich angewiesen auf eine Gruppenauseinandersetzung, und wenn es die nicht gibt, hänge ich durch.

Persönlich dabei auf der Strecke zu bleiben, dass hat doch auch mit der Entscheidung zu tun, ein Bündnis zu machen - das bedeutet etwa mit "allen" zusammenzuarbeiten, auch wenn klar ist, dass sie sich nur bis zu einem bestimmten Punkt bewegen - und trotzdem sollst du noch alles unter einen Hut kriegen! Klar gibt das Frust, daraus kann nur im unwahrscheinlichen Fall was Bereicherndes und Dynamisches werden, wenn sich der Bündnischarakter auflöst, weil sich die Leute zusammen verändern.

Dass sich Leute zusammen verändern, durch Konfrontation, ist klasse, wenn's denn passiert. Nach meiner Erfahrung geht das sehr langsam, passiert auch im Komitee. Aber es verändern sich nicht alle zusammen: Einige gehen. Da ist der Widerspruch, dass der Versuch auf Offenheit, auf Anschlussfähigkeit auch zum Verlust an Mitstreiter_innen geführt hat. Das hat damit zu tun, diese Zusammenarbeit "mit allen" zu wollen, zu können und auszuhalten. Darin liegt auch ein ungeheueres Frustrationspotential.

Frust entsteht auch im Zusammenhang mit der medialen Öffentlichkeit. Es wäre wichtig, hier an der Idee der "proletarischen Öffentlichkeit" weiterzuspinnen - einer Öffentlichkeit, die von eigenen Erfahrungen bestimmt ist, in der sich die eigene Handlungsfähigkeit erweitert, weil man sich mit anderen zusammentut.

Jaaa - ein Moment von Frust ist, dass man die Erfolge, die sich in der öffentlichen Diskussion eingestellt haben, nicht wirklich erfährt. Dass wir den Begriff Bagatellkündigung kreiert haben, das erfahre ich ja nicht, sondern das wird mir Monate später mal beim Lesen eines Spiegel-Artikels klar. Anfühlen tut sich dieser Medienrummel für mich so: Das Komitee steht auf dem Bahnsteig in der Provinz, und der ICE rauscht durch. Weder fahr ich mit, noch sitz ich im Führerhaus der Lok, und schon gar nicht bin ich im Stellwerk.


Der Film "Das Ende der Vertretung. Emmely und der Streik im Einzelhandel" von zwei unabhängigen Filmemacherinnen wurde in dutzenden von Städten vorgeführt. Er zeigt u. a. Emmely als Streikaktivistin vor ihrer Kündigung - www.kanalb.de

Raute

Scheißstreik - selbstgemachte überregionale Organisation

Interview mit einem betriebspolitisch Aktiven, der bei einem großen Berliner Träger der persönlichen Assistenz für Schwerbehinderte arbeitet.

Erzähl doch kurz, wie Ihr auf die Idee mit dem Scheißstreik gekommen seid!

Es hat seit Jahren keine Erhöhung der Vergütungssätze gegeben, was massive Reallohnverluste für die Beschäftigten in der persönlichen Assistenz bedeutet. Die Träger und Einrichtungen haben die Sparpolitik der öffentlichen Haushalte an die Beschäftigten durchgereicht. Im Sommer 2007 ging es bei uns im Betrieb dann auch an die Nominallöhne ran, mit einer Massenänderungskündigung sollten Zuschläge und Urlaubstage gekürzt werden. Nachdem zahlreiche Beschäftigte dagegen geklagt hatten, wurde das zurückgenommen. Aber Anfang 2008 kam ein neuer Angriff: Die Löhne für Neubeschäftigte wurden gekürzt, die sich auf arbeitsgerichtlicher Ebene dagegen nicht wehren können. Wir haben versucht, auf verschiedenen anderen Ebenen dagegen vorzugehen: Der Betriebsrat klagte, eine Aktionsgruppe organisierte u.a. die Besetzung der Geschäftsstelle. Der Scheißstreik sollte an das alles anknüpfen.

Gab es wieder einen konkreten Anlass?

Im November 2008 haben wir ein erstes bundesweites Treffen von Leuten gemacht, die in der persönlichen Assistenz arbeiten - viele sind GremienvertreterInnen, unabhängige Betriebsräte, aber es ist offen für alle und nicht gewerkschaftlich angebunden. Dort entstand die Idee, eine überbetriebliche und überregionale Aktion zu machen.

Außerdem stehen in diesem Jahr Vergütungsverhandlungen im Land Berlin an, und wir wollen Druck aufbauen, Öffentlichkeit schaffen. Oft wird Pflege versteckt und tabuisiert. Gern wird so getan, als wäre das gar keine Arbeit, wir wollten die sichtbarer machen. Deshalb sind wir auf den Scheißstreik gekommen: Kotröhrchen sollten an die Verantwortlichen geschickt werden, an Betriebe, Dachverbände, die Kostenträger und zuständigen Politiker. In Berlin haben wir am ersten Tag der Aktion eine Kundgebung vor dem Gesundheitssenat gemacht. Ein Klohäuschen wurde aufgestellt, damit die Leute ihr Röhrchen füllen und direkt abschicken konnten. Alle sollten auf einer Webseite dokumentieren, an wen sie ein Röhrchen verschickt haben. Außerdem gibt es dort Kontakte, Linklisten, viele Texte zu Pflege und aus dem Krankenhaus.

Konntet Ihr Euch über die Website organisieren? Konntet Ihr Öffentlichkeit herstellen?

Ein paar Kontakte zu Leuten sind tatsächlich darüber entstanden, wäre schön, wenn es mehr gewesen wären. Einige Leute meldeten sich, die direkt bei Assistenznehmern angestellt sind und nicht bei einem Träger. Es kann sein, dass die nie einen Kollegen sehen, keine Teamsitzungen oder so was haben und völlig von einer Person abhängig sind. An die wären wir sonst nicht rangekommen.

Der Scheißstreik hat vor allem in Internetforen Reaktionen ausgelöst. Der NDR ist durch uns auf das Thema aufmerksam geworden und hat einen ganz guten Fernsehbeitrag gemacht. Die Lokalpresse hat viel und überwiegend wohlwollend berichtet. Es lag schon viel Gewicht auf Öffentlichkeit. Auf bürgerlicher Öffentlichkeit, aber vor allem der Öffentlichkeit unter den Beschäftigten.

Haben sich viele beteiligt?

Im Kern wurde es von wenigen Leuten organisiert. Die Aktion lief einen Monat lang ab Ende April. Am ersten Mai waren wir in Berlin und Bremen auf den Demos, auch deshalb haben sich doch relativ viele Leute beteiligt. Aus unserem Betrieb kamen zur Auftaktkundgebung 60 bis 70 Leute. Auf der betrieblichen Ebene war es umstritten, für viele war es zu wenig betriebsspezifisch, schon zu übergeordnet. Einige fanden das mit der Scheiße zu eklig.

Ist ja schwierig, in eurem Bereich gemeinsame Aktionen zu machen.

Wir hatten es Scheiß-Streik genannt, weil wir mit dem Begriff Streik genau das thematisieren wollten: wie können wir überhaupt streiken, welche Kampfformen sind bei uns möglich? Die klassischen tariflichen Auseinandersetzungen fallen weg, da wir nicht tarifgebunden sind, Gewerkschaften sind auch gar keine vertreten. Und ohne diese institutionelle Deckung ist es ja schnell heikel, wenn du das Wort Streik auch nur in den Mund nimmst.

Es ist bei uns schwierig, eine Aktionsform zu finden, die direkt in den betrieblichen Prozeß eingreift, weil es um die Betreuung von Schwerbehinderten geht. Wir wollten ausprobieren, ob man auch so etwas Aufsehenerregendes und Mobilisierendes machen kann.

Hat es vor diesem Hintergrund geklappt, hat es seinen Zweck erfüllt?

Es hält was am Köcheln, das ist das Wesentliche. Eine richtige Mobilisierung übers Internet, das ist schwierig, dazu bleibt es zu anonym, und von Vielem kriegst du als Initiator gar nichts mit. Man kommt nicht so zusammen wie bei einem Streik, wo man am selben Ort ist und dort gemeinsam was macht.

Gab es Diskussionen auf Betriebsversammlungen darüber?

Ziemlich heftige, besonders mit Leuten von der unteren Leitungsebene, die das blöd fanden. Die verdienen besser als der Großteil der Beschäftigten, fühlen sich geschützter. Auch bei denen wurden die Einstiegslöhne abgesenkt, aber die Fluktuation ist nicht so hoch wie bei uns. Bei uns arbeiten schon jetzt 25 Prozent zu den neuen Löhnen. Und in drei oder vier Jahren ist das dann fast eine flächendeckende Absenkung.

Gibt es unter den neueingestellten jüngeren Leuten Unmut über ihre schlechteren Bedingungen?

Nö, eigentlich nicht. Die Leute sind braver. Die Veränderung an der Uni kommt zum Tragen. Früher haben viele als Studijobber bei uns gearbeitet, die nicht wirklich studiert haben. Und heute mit den Bachelor-Studenten, kannst du dir ja vorstellen... Viele sind völlig überqualifiziert, schon irre, was die für Berufs- und Studienabschlüsse haben. Es sind keine klassischen Pflegekräfte, sondern Leute, die irgendwas im pflegerischen Bereich studiert haben. Aber auch Maschinenbau. Wenn Pflegefachkräfte kommen, dann nur, weil sie das Projekt gut finden...

Das "Projekt" ist in den 80er Jahren aus der Behindertenbewegung entstanden, es haben viele Jobber aus der Linken bei euch gearbeitet. Ist da noch etwas Substanzielles von übrig, auf das ihr speziell bei solchen Aktionen zurückgreifen könnt?

Das Verhältnis zur Behindertenbewegung hat sich ziemlich abgekühlt. Auch aufgrund der ökonomischen Situation. Behinderte sehen oft die Vertretung von Arbeitnehmerinteressen als gegen sich gerichtet. Einige AssistenznehmerInnen haben den Scheißstreik unterstützt und waren auch bei den Aktionen dabei, aber das waren größtenteils eben nicht die organisierten, politischen. Unter den KollegInnen gibt es einige Leute aus politischen Gruppen, die man für solche Aktionen ansprechen kann.

War das hilfreich?

Ja, sie haben geholfen, aber sind dann auch wieder weg. Die Mühen der Ebene sind nicht so ihrs. Die machen eher was zu Lateinamerika oder sind im Sozialforum aktiv, bringen das aber nicht mit ihrem Job zusammen. Das bricht zwar auf, wenn es kämpferische Phasen gibt - im Guten, weil die Leute dann aktiv sind, und im Schlechten, wenn sie ihr ganzes politisches Agitationszeug mit rein ziehen und ihre Organisation pushen wollen. Für alles ihre Schablonen haben und nicht offen sind für das, was vor sich geht.

Ein Problem Eurer basisorganisierten Versuche der letzten Jahre war die mangelnde Kontinuität. Wie schafft man es, dass nicht alle wieder wegrennen, wenn grad nix passiert?

In unserem überregionalen Zusammenhang versuchen Leute, mit einem Organizingansatz ranzugehen. Das hat eine gewisse Attraktivität, weil sie damit Kontinuität und überbetriebliche Organisierung reinzubringen versprechen. Aber das geht ganz stark in eine gewerkschaftliche Richtung, dockt eben an die Organizingkampagnen von Verdi an...

Aber ihr versucht euch doch auch überbetrieblich zu organisieren!

Auf diesem Treffen sind einerseits diverse Politfraktionen vertreten, andererseits sind viele KollegInnen politisch relativ unbedarft. Es ist kein Kadertreffen, und das finde ich gut so. Aber die gewerkschaftsorientierte Fraktion nimmt natürlich Einfluss, steuert viele der Aktionen und kann immer drauf verweisen: "Es gibt hier ne Organisation, da könnt ihr Mitglied werden." Die Gewerkschaft hat Geld, bietet Strukturen an, hat vermeintlich viel Macht. Diese Leute versprechen sich was von einer tarifpolitischen Anbindung. Aber das ist umstritten, denn du hast womöglich mehr Schutz, aber die Frage ist, wo sie dich eingruppieren. Tarifbindung heißt ja nicht automatisch höhere oder gleichere Löhne! Wenn man sich so ansieht, mit welchen Mindestlöhnen die rumhantieren, dann sind wir ja noch im grünen Bereich. Aber viele Leute haben noch keine Erfahrungen mit der Gewerkschaft, deshalb kann ich es nachvollziehen, wenn sie sich das erstmal anschauen wollen. Das hört dann wieder auf, wenn die ersten schlechten Erfahrungen gemacht wurden.

Blöderweise haben wir an der Stelle selber keinen guten Vorschlag. Denn "Alternativ-Gewerkschaft" kann es ja nach den Erfahrungen der letzten Jahre auch nicht sein! Wie bei den Cobas in Italien oder bei Sud in Frankreich. Erst ist was los und die Leute schließen sich zusammen, dann kommen die dürren Zeiten und daraus wird ein Verein, eine Bürokratie. Dann geht es hauptsächlich drum, dass der am Leben bleibt.

Daraus hat man den Schluss gezogen, dass es nix bringt, eine Bewegung in Institutionen zu verstetigen. Du bist die letzten Jahre bemüht gewesen,jenseits davon autonome Aktionen zu machen, bei denen Leute mitmachen können. Wäre es nicht eine Perspektive, sich auf andere Leute zu beziehen, die ebenfalls in eher vereinzelten Verhältnissen beiten?

Die Aktion ist von Gruppen und Initiativen mit großem Interesse verfolgt worden, die vor ähnlichen Problemen stehen. In einem Hartz IV-Internetforum haben sie überlegt, wie sie die Idee des Scheißstreiks aufgreifen können, ob sie löchrige und abgetragene Schuhe an die Verantwortlichen verschicken sollen.

Außerdem wird es ja gerade im Pflegebereich in nächster Zeit nicht gut aussehen. Und es werden ja auch immer mehr Billigarbeitskräfte in diesen Bereich rein gedrückt.

Pflegehelferkurse gefördert durch das Arbeitsamt, Einwohnmodelle für osteuropäische Frauen, Ehrenamtlichkeit und unentgeltliche Nachbarschaftshilfe, all das ist am Laufen. Und unser Betrieb macht seit Jahren Miese. Fragt sich, wie lang das noch gut geht. Es kann durchaus nochmal zu einer riesen Wut kommen, wenn russische Verhältnisse herrschen. Wenn zum Stichtag dein Lohn nicht kommt, weil der Betrieb nicht bezahlen kann. Und bei uns bereitet die Leitung sich drauf vor. Und dann werden die Leute einen Hals haben. Und dazu werden wir auf jeden Fall was machen.


Informationen

Die Website des Scheißstreiks:
http.//www.jenseits-des-helfersyndroms.de/

Die sehenswerte Reportage vom NDR: Wie Pflegeassistenten ausgebeutet werden.
http://www.daserste.de/plusminus/beitrag_dyn~uid,I5chniw37shn10vh~cm.asp

Im Süden nichts Neues: Von der Unmöglichkeit radikaler Gewerkschafterei. Interview mit einem SUD-Aktivisten.
In: wildcat #70 http://www.wildcat-www.de/aktuell/a035sud.htm

Raute

Rosarno, Europa

Von Mimmo Perrotta

Rosarno ist eine Kleinstadt mit 15.000 Einwohnern in der Piana di Gioia Tauro in der Provinz Reggio Calabria. Am 7. Januar werden hier drei vom Feld zurückkehrende afrikanische Immigranten, die wegen der Zitrusfruchternte da sind, darunter ein Asylbewerber aus Togo, von drei »hiesigen Jungs« angeschossen. Hunderte von MigrantInnen, unterbezahlten saisonalen LandarbeiterInnen, die unter katastrophalen Bedingungen in zwei stillgelegten Fabriken und in verlassenen Bauernhäusern wohnen und permanent Opfer von Aggressionen und Übergriffen werden, gehen in Rosarno auf die Straße und lassen ihre Wut an Autos und Müllcontainern aus. Die Polizei greift ein. Zwei Tage lang kommt es zu Auseinandersetzungen mit den kalabrischen Bürgern, die die ImmigrantInnen zum Teil weiter verprügeln und beschießen und auf den Feldern Menschenjagden veranstalten.

Am 9. Januar werden 1300 AfrikanerInnen (Regulären[1] wie Irregulären) vom Staat in sogenannte Identifikations- und Abschiebezentren (CIE)[2] in Crotone und Bari deportiert; andere verlassen die Stadt auf eigene Faust und gehen vor allem nach Neapel und in die norditalienischen Städte. Alle müssen Rosarno ohne Lohn für die bisher geleistete Arbeit verlassen. Andere verstecken sich weiter auf den Feldern in der Piana und setzen die Zitrusfruchternte fort, die noch bis März geht. Insgesamt werden 66 Verletzte gezählt (30 ImmigrantInnen, die teilweise Aufenthaltserlaubnisse aus humanitären Gründen bekommen, 17 Ortsansässige und 19 Polizisten), sieben ImmigrantInnen und drei Rosarneser werden festgenommen. Hundert irreguläre ImmigrantInnen werden aus den CIE in Bari und Crotone abgeschoben.

Wie sich herausstellt, waren die lokalen 'Ndrangheta[3]-Clans an der Geschichte beteiligt: Zu den während der Auseinandersetzungen festgenommenen Rosarnesern gehört auch der Sohn eines lokalen Bosses, und die als »Negerjäger« auf den Feldern eingesetzten jungen Männer sollen Handlanger der Clans sein. Dazu gibt es verschiedene Theorien: Die Clans hätten die Wut der Rosarneser ausgenutzt und sich schließlich zu Verteidigern der Einwohner aufgeschwungen; oder aber die Clans hätten die Revolte absichtlich inszeniert, nachdem sie einige Tage zuvor ein massives Attentat auf die Staatsanwaltschaft von Reggio Calabria verübt hatten, und zwar genau an dem Tag, als die Minister Maroni[4] und Alfano[5] in Reggio neue Maßnahmen gegen die 'Ndrangheta ankündigen. Anscheinend kontrollieren die 'Ndrine (die 'Ndrangheta-Clans) die Saisonarbeit der ImmigrantInnen und die Kapos nicht direkt. Allerdings kontrollieren sie faktisch die Wirtschaft der Piana (in Rosarno wurden 52 Grundstücke der 'Ndrine beschlagnahmt), und es ist kaum vorstellbar, dass sie nicht beteiligt gewesen sein sollen.

Am 10. Januar organisieren einige EinwohnerInnen von Rosarno eine Demonstration gegen den Vorwurf des Rassismus, auf der sie behaupten, sie würden mit den MigrantInnen »seit 20 Jahren zusammenleben«. Die Demo sagt aber nichts gegen die Gewalt gegen die MigrantInnen in den vorherigen Tagen und muss sich ein unklares Verhältnis zur 'Ndrangheta vorwerfen lassen.

Gerade Rosarno war in den 50er und 60er Jahren Schauplatz von LandarbeiterInnenkämpfen für Arbeit und dann ab den 70er Jahren gegen die Mafia. Nach einem Wahlsieg der Kommunistischen Partei wurde 1980 Giuseppe Valarioti, ein im Kampf gegen die Clans engagierter lokaler Parteiführer, ermordet. Giuseppe Lavorato, ein Genosse von Valarioti, der dann von 1994 bis 2003 Bürgermeister war, führte das Engagement gegen die Mafia fort und wurde auch zum Ansprechpartner für die saisonalen ImmigrantInnen.[6] Seit 2008 wurde die Kommunalverwaltung von Rosarno aber wie in vier weiteren Nachbargemeinden wegen Unterwanderung durch die Mafia aufgelöst und einer kommissarischen Verwaltung unterstellt. Die 'Ndrangheta hat die Kontrolle über Stadt und Land zurückgewonnen.

Überrascht sein kann eigentlich niemand über die Ereignisse von Rosarno. Die Situation der SaisonarbeiterInnen von außerhalb der EU in der Zitrusernte und die landwirtschaftliche Ökonomie der Piana di Gioia Tauro im allgemeinen wurde in den letzten Jahren bereits in vielen Recherchen und Untersuchungen - von Forschern, Journalisten, Gewerkschaftern und NGOs, aber auch von Teilen der Institutionen - beschrieben und aufgezeigt.

Die Gewerkschaft CGIL, die seit Jahren die Situation beklagt, schätzt, dass es 2007 20.000 irreguläre gegenüber 6400 regulären SaisonarbeiterInnen in der ganzen Region gegeben habe. Es wird geschätzt, dass jedes Jahr 8000 bis 15.000 Irreguläre zur Zitrusernte in die Piana di Gioia Tauro kommen, allein nach Rosarno zwischen 1500 (Fondazione Field)[8] und 4000 (MSF)[9]. Laut INEA[10] werden sie vor allem in den mittelgroßen Betrieben (kleiner als 20 ha) beschäftigt, während die großen Betriebe keine EU-Ausländer einstellten. Ebenfalls laut INEA[11] besitzt von den in der Zitrusernte (aber auch der Tomaten-, Fenchel- und Olivenernte) in Kalabrien eingesetzten ImmigrantInnen niemand einen regulären Arbeitsvertrag, und die Löhne betragen 16-20 Euro am Tag für Frauen und 20-25 Euro am Tag für Männer (für normalerweise 250 Kilo Tomaten am Tag) im Vergleich zu einem tariflichen Lohn, der etwa 39 Euro am Tag. ...

Auf der Suche nach Tagelöhnerarbeit stellen sich die MigrantInnen morgens an den Straßen im Ort auf; andere werden direkt von den Kapos kontaktiert, häufig Leute aus ihren eigenen Ländern, die sie auf den Feldern einteilen. Der Kapo bekommt einen beträchtlichen Teil des Tageslohns (oftmals 5 von 25 Euro). Im Mai 2009 wurden drei Landwirtschaftsunternehmer aus Rosarno und drei bulgarische Kapos unter dem Vorwurf festgenommen, einer Organisation zur Ausbeutung meist aus Zentralafrika stammender illegaler EinwanderInnen für die Zitrusernte anzugehören.

Bis in die 70er/80er Jahren wurde der Arbeitskräftebedarf zur Erntezeit durch Tagelöhner, Hausfrauen, Rentner und Schüler aus dem Ort oder der Gegend gedeckt; diese wollen nicht mehr arbeiten, weil sie den Tageslohn zu niedrig finden. Die Landwirtschaftsunternehmer wiederum sagen, sie könnten keine höheren Löhne zahlen, da der Preis der Zitrusfrüchte zu niedrig sei (in diesem Jahr zwischen 12 und 22 Cent pro Kilo). Im übrigen werden die Märkte für Agrarerzeugnisse und die Zitrusfruchtverarbeitung häufig von den Clans der 'Ndrangheta kontrolliert, die die Preise festlegen.

Andere ArbeiterInnen, vor allem Frauen aus Osteuropa und Afrika, arbeiten dagegen in der Weiterverarbeitung (z.B. beim Entkernen von Orangen für die Saftherstellung) und werden im Akkord bezahlt (laut MSF[12] bekommen sie 15 Cent pro Kilo, was einen Tagesverdienst von etwa 15 Euro bedeutet).

Letztlich entladen sich auf den Saisonarbeits-ImmigrantInnen alle Widersprüche einer verzerrten Agrar-Ökonomie; durch die unterbezahlte (oder wie bei vielen von denen, die im Januar 2010 aus Rosarno weggejagt wurden, gar nicht bezahlte) Arbeit können die kalabrischen Betriebe sich auf einem Markt halten, von dem sie ansonsten durch die Konkurrenz der spanischen und nordafrikanischen Zitrusfrüchte verdrängt würden. Das aber verhindert, dass der Sektor ernsthaft reformiert wird und sich moderner aufstellt.

Wer sind die MigrantInnen, die jedes Jahr von November bis März zur Orangen- und Mandarinenernte in die Piana di Gioia Tauro kommen?

Als erste kamen in den 80er Jahren Maghrebiner; dann kamen Afrikaner aus dem subsaharischen Afrika und in den letzten zehn Jahren schließlich Osteuropäer hinzu (zuerst Polen, dann Rumänen, Bulgaren, Ukrainer), so dass schon von einer »Verdrängung von Arbeitskräften« gesprochen wurde (die Osteuropäer verdrängen die Afrikaner)[13].

Es geht um MigrantInnen mit unterschiedlichen Geschichten. Laut MSF-Untersuchung[14] folgen einige den sogenannten »saisonalen Kreisläufen«: Sie leben in Kampanien, wo sie im Winter und Frühling in den Treibhäusern arbeiten; von Juli bis September ziehen sie zur Tomatenernte weiter in die Gegend von Foggia; dann ernten sie Oliven in Apulien oder Kalabrien; im November kommen sie zur Zitrusernte in die Piana di Gioia Tauro und bleiben bis Februar. Hierbei handelt es sich vor allem um afrikanische ImmigrantInnen (aus Côte d'Ivoire, Ghana, Mali, Sudan, Äthiopien, Senegal, Nigeria, Burkina Faso, Togo), die keine Aufenthaltserlaubnis haben oder einen Asylantrag gestellt haben und, sobald sie die Aufenthaltserlaubnis bekommen, in andere Teile Italiens oder Europas und in andere Beschäftigungssektoren gehen.

Andere kommen aus den Städten im Norden herunter, wo sie den Rest des Jahres in der Fabrik oder auf dem Bau oder als Straßenhändler arbeiten. In diesem Jahr hat die Wirtschaftskrise und die Arbeitslosigkeit mehr ImmigrantInnen wegen der Ernte in den Süden getrieben, was teilweise die Revolte vom 7. Januar erklären könnte: Viele dieser ImmigrantInnen sind nämlich Gewerkschaftsmitglieder und an eine größere Achtung ihrer Rechte bei der Arbeit gewöhnt. Ein anderer Anstoß für die Revolte war möglicherweise die Anwesenheit von MigrantInnen aus Castel Volturno in Kampanien, wo es schon im Oktober 2008 eine Revolte gegen die Camorra-Clans gab, die sechs Afrikaner ermordet hatten.

Andere in der Ernte beschäftige MigrantInnen kommen aus Osteuropa und haben Familienangehörige oder Freunde in der Gegend wohnen. Sie kehren zu Saisonende in ihre Heimatländer zurück. Von den wenige, die dauerhaft in Rosarno wohnen, sind die meisten OsteuropäerInnen. Per 31.12.2008 waren nur gut 1000 AusländerInnen in Rosarno gemeldet (6,5 Prozent der EinwohnerInnen gegenüber durchschnittlich 3,6 Prozent in der Provinz), 200 weniger als im Vorjahr. ...

In vielen landwirtschaftlichen Zentren Süditaliens sieht die Situation ähnlich aus wie in Rosarno: Häufig sind praktisch sämtliche ArbeiterInnen irregulär. In Norditalien spielt die Irregularität ebenfalls eine Rolle, aber eine begrenztere, laut INEA etwa 10-15 Prozent.[15] In anderen Teilen Europas spielt die Irregularität eine geringere Rolle, weil es verschiedene von Land zu Land unterschiedliche saisonale Verträge gibt, mit denen Arbeitskräfte in formalem Rahmen angeworben werden.

Wie die Untersuchungen von Alessandro Leogrande[16] und Anselmo Botte[17] gezeigt haben, gibt es das Kaposystem auch in anderen Teilen des Südens, z.B. in Apulien und in Kampanien. Hinsichtlich der Tomatenernte in der Provinz Foggia fand 2007 und 2008 der erste Strafprozess in Europa gegen das transnationale Kaposystem statt, nachdem die Antimafia-Staatsanwaltschaft (DDA) in Bari gegen Menschenhändler ermittelt hatte, die polnische MigrantInnen in Apulien in Halbsklaverei gehalten hatten. ...

Innenminister Maroni (der von 2001 bis 2006 auch Arbeitsminister war) hat erklärt, Schuld am »Niedergang« in Rosarno trage die Duldung der »illegalen Einwanderung«, gegen die die Berlusconi-Regierung aber tätig werde. Das Instrument, mit dem die italienischen Regierungen seit 2002 (seit dem sogenannten Bossi-Fini-Gesetz) die Migrationsströme in der Landwirtschaft regeln, sind wie gesagt die jährlichen Kontingentverordnungen, mit denen Region für Region und Branche für Branche »Quoten« von Saison- wie anderen ArbeiterInnen festgelegt werden. Die Quoten decken den Arbeitskräftebedarf aber nicht vollständig, und vor allem im Süden hängt die Beschäftigung von irregulären ImmigrantInnen mit den niedrigen Preisen der Produkte in der Verarbeitungskette zusammen. Der verheerendste Aspekt dieses Gesetzes ist, dass es die ArbeiterInnen ohne Aufenthaltserlaubnis völlig den Kapos und Arbeitgebern ausliefert, sie daran hindert sich zu regularisieren oder Anzeige zu erstatten (da sie die sofortige Abschiebung riskieren). So gesehen ist die Irregularität kein Fehler im System, sondern im Gegenteil notwendig und funktional für die Senkung der Produktionskosten und für die Kontrolle über die Arbeitskräfte.

Den fortschrittlichsten Vorstoß auf institutioneller Ebene stellt wahrscheinlich ein auf Druck von Regionalpräsident Vendola im Oktober 2006 erlassener Beschluss der Region Apulien dar, mit dem die Regularisierung der irregulären Arbeit in der Landwirtschaft gefördert werden soll, indem kommunale, nationale und regionale Mittel nur noch an Landwirtschaftsunternehmer vergeben werden sollen, die beweisen können, dass sie die Tarifverträge einhalten.

Das eigentlich Neue an den Ereignissen in Rosarno ist vielleicht die Tatsache, dass die ausländischen ArbeiterInnen, vor allem aus Afrika, die Übergriffe und Diskriminierungen nicht mehr hinnehmen. Ihre Empörung hatte sich schon im Dezember 2008 öffentlich in Rosarno und im Oktober 2008 in Castel Volturno gezeigt. Diesmal war die Wut zerstörerischer. Und es stellt sich die Frage, was während der bevorstehenden Erntekampagnen in Villa Literno, in der Piana del Sele und in Foggia passieren wird ...


Anmerkungen:

Wir haben den Artikel übersetzt und gekürzt. Die vollständige Fassung mit allen Literaturhinweisen ist auf www.wildcat-www.de nachzulesen.

[1] Wir übernehmen hier zum Thema Beschäftigung, Aufenthalt usw. den italienischen Sprachgebrauch (»regulär« und »irregulär«) statt des deutschen (»legal« und »illegal«). Dafür haben wir »clandestino« als »illegal« übersetzt.

[2] Centri di identificazione i espulsione, Identifikations- und Abschiebezentren.

[3] Die 'Ndrangheta ist die kalabrische Version der Mafia.

[4] Roberto Maroni, italienischer Innenminister (Lega Nord).

[5] Angelino Alfano, italienischer Justizminister (Forza Italia bzw. inzwischen Popolo della Libertà).

[6] Antonello Mangano (Hg), Gli africani salveranno Rosarno. E, probabilmente, anche l'Italia. Terrelibere.org edizioni 2009.

[8] Fondazione Field, »Focus 2 - Il territorio di Rosarno«, a.a.O.

[9] Medici Senza Frontiere, I frutti dell'ipocrisia, a.a.O., und Medici Senza Frontiere, Una stagione all'inferno, a.a.O.

[10] Giuliana Paciola, »Il caso della Calabria«, a.a.O

[11] Ebenda.

[12] Medici Senza Frontiere, I frutti dell'ipocrisia, a.a.O.

[13] Angelo de Bonis, »Processi di sostituzione«, a.a.O.

[14] Medici Senza Frontiere, I frutti dell'ipocrisia, a.a.O.

[15] Ebenda.

[16] Alessandro Leogrande, Uomini e caporali. Viaggio tra i nuovi schiavi nelle campagne del Sud, Mondadori: Milano 2008.

[17] Anselmo Botte, Mannaggia la miserìa. Storie di braccianti stranieri e caporali nella Piana del Sele, Ediesse: Roma 2009.

Raute

Rosarno: Der Rassismus und die 'Ndrangheta sind Alibis

von Elisabetta della Corte und Franco Piperno

Inzwischen sind einige Wochen seit den Ereignissen von Rosarno vergangen, und in den Medien hat es ausführliche Rekonstruktionen und Kommentare gegeben. Wir können also zumindest eine vorläufige Bilanz ziehen und nach den mutmaßlichen Ursachen fragen. Um es gleich zu sagen: Für uns zeichnen die Aufstände von Rosarno ein noch nie dagewesenes und übles Bild der Zukunft der Landwirtschaft in Süditalien, besonders in den großen Piane[18].

Die Meinungsmacher der norditalienischen Zeitungen suchen die Ursachen vorzugsweise im fremdenfeindlichen, wo nicht gar offen rassistischen Trieb, der tief in der kalabrischen Seele verwurzelt sei, während die Kommentatoren der süditalienischen Zeitungen meist die These vertreten, hinter allem stünden die Clans der 'Ndrangheta: Deren Bosse hätten die Krawalle in Gang gesetzt - sowohl die der schwarzen Tagelöhner als auch die der italienischen Bürger der Piana.

Unserer Meinung nach tragen beide Erklärungen nur dazu bei, das, was man eigentlich erklären will, noch wirrer erscheinen zu lassen. Und beide landen sie bei dem wahnsinnigen Ruf nach noch mehr Staat in Süditalien, als hätte diese Strategie in den letzten 150 Jahren seit der Einheit Italiens nicht schon genug Schaden angerichtet.

Sehen wir uns die Dinge aus der Nähe an. Wenn man einmal von der Rhetorik absieht, sind Fremdenfeindlichkeit und Rassismus bei den Einwohnern von Rosarno sicher genauso verbreitet wie in Norditalien oder in der Schweiz. Aber die Behauptung, diese Ressentiments dominierten die Gefühle der Kalabresen, läuft jeder Evidenz zuwider. Seit Jahrhunderten leben in unserer Region ethnische, sprachliche und religiöse Minderheiten wie Flecken auf einem Leopardenfell zusammengewürfelt erfolgreich zusammen; in der jüngsten Vergangenheit, d.h. in den letzten 20 Jahren hat es hin und wieder Fälle von Intoleranz gegen Fremde gegeben, aber mit Sicherheit viel weniger als anderswo in Europa. Und andersherum gab es in Rosarno wie anderswo in Kalabrien immer wieder beispielhafte Gastfreundschaft und Solidarität gegenüber Migranten. Als Erklärungsansatz ist der Rassismus also zu oberflächlich und kaum brauchbar.

Die Zuweisung der Verantwortung für die Ereignisse von Rosarno an die 'Ndrangheta wiederum beruht nicht auf Forschungen, Rekonstruktionen oder dokumentierten Untersuchungen, sondern auf Mutmaßungen, wo nicht gar Mythen. Das Argument lautet etwa so: Angesichts der dämonischen Allmacht der 'Ndrangheta lässt alles, was in Rosarno geschieht, aber auch alles, was in Rosarno nicht geschieht, sich letztlich auf eine Strategie der Mafia zurückführen. Es ist unmöglich, dass die Kriminellen nicht Bescheid wissen, also stecken sie dahinter. Die 'Ndrangheta wird hier zu einer Art "absolute Ursache". Dabei werden aber Ursache und Wirkung verwechselt, so als produziere und reproduziere die 'Ndrangheta die soziokulturellen Bedingungen der Städte der Piana und nicht umgekehrt diese Bedingungen die Kriminalität.

Interessanterweise ist die Entdeckung der 'Ndrangheta als absolute Ursache besonders beliebt bei den Anti-Mafia-Profis, um es mit Sciascia[19] zu sagen. Diese sichern sich damit nicht nur ihre Pfründe, sondern sprechen zugleich die Politiker in Rom und vor Ort und die ganze regionale Führungsschicht einschließlich Unternehmern, Journalisten und Akademikern von ihrer spezifischen Verantwortung für den Niedergang des zivilen Lebens in Kalabrien frei. Auch diese Erklärung passt nicht zusammen: Einerseits wird die böse Macht der 'Ndrangheta über jedes Maß hinaus übertrieben und ihr eine ausgeklügelte Strategie und eine paranoide Effizienz zugeschrieben, andererseits werden Aktionen und Gesten, die sich nicht nur als kriminell, sondern vor allem als idiotisch, sinnlos und selbstmörderisch herausstellen, heruntergespielt.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Welchen Vorteil hätte die 'Ndrangheta davon, in den Gegenden, die sie kontrolliert, Krawalle anzuzetteln? Bei ihren riesigen internationalen Unternehmungen hat sie ein ganz klares Interesse daran, ihre Geschäfte in sozialer Ruhe zu betreiben, wobei ein massenhafter Ansturm von Staatsanwälten, Polizisten, Journalisten und Feierabendforschern bloß stören würde.


Das Wirtschaftswunder in den Gärten und die Lebensbedingungen der Migranten

Natürlich sollte die Ursache der Ereignisse von Rosarno vor Ort gesucht werden, aber nicht in der Unterwelt, sondern in den ökonomisch-sozialen Strukturen. Um diese Strukturen zu rekonstruieren, greifen wir auf Forschungen von SoziologInnen der Università di Calabria zurück, speziell auf die Dissertation von Antonio Sanguinetti.[20]

In Rosarno leben 5000 Familien. Die Wirtschaft dreht sich schon seit langem um die Agrarproduktion, hauptsächlich Oliven und Orangen. Der Landbesitz ist stark zersplittert und verteilt sieh auf knapp 2000 Familien, die jeweils durchschnittlich gut einen Hektar besitzen. Letztlich besitzt jede dieser Familien einen "Garten", wie man in Rosarno sagt. Bis vor ein paar Jahren gab es über 1600 landwirtschaftliche Betriebe, fast einen pro Familie, die mehr oder weniger ständig 3000 Tagelöhner aus Rosarno beschäftigten, knapp zwei pro Betrieb. Seit den 90er Jahren bis 2008 wurden die EU-Zuschüsse für die süditalienische Landwirtschaft nach der Menge der produzierten Früchte bezahlt; dadurch bezog der Besitzer für jeden Hektar eine Art von der europäischen Bürokratie garantierte Grundrente in Höhe von etwa 8000 Euro pro Hektar. Für die 3000 Tagelöhner gab es die soziale Absicherung über die INPS[21]: Man musste nur 51 Tage im Jahr arbeiten (bei Naturkatastrophen sogar nur 5 Tage) und hatte danach ein ganzes Jahr Anspruch auf Arbeitslosengeld.

Deshalb beziehen viele der Tagelöhner von Rosarno schon seit langem lieber Arbeitslosengeld und machen andere Arbeiten - seit es nämlich reichlich ausländische Migranten gibt, die zur Orangenernte ultraflexibel und zu lachhaften Kosten in den Zitrushainen schuften. Wegen der billigen Migranten und der stabilen Verkaufspreise waren die Orangen aus Rosarno auf dem Lebensmittelmarkt konkurrenzfähig. Mehr noch: seit über zehn Jahren ist die Produktion der Gärten ständig gestiegen - und damit ganz allgemein die in der Stadt verfügbaren Geldeinkommen.

Diese ohne jeden Fortschritt in den landwirtschaftlichen Produktionstechniken zustande gebrachte Steigerung der Orangenmenge kam scheinbar aus dem Nichts, als handle es sich um einen Schöpfungsakt. Aber keine nationale oder lokale Autorität schien über dieses seltsame Phänomen beunruhigt zu sein, keiner der vielen "Prediger der Legalität" machte sich Sorgen, kein Forscher zeigte Neugierde; und kein junger Journalist auf der Suche nach der großen Story interessierte sich für diese bizarre Tatsache. In Wirklichkeit beruhte das Wirtschaftswunder in der tyrrhenischen Piana nämlich auf Betrug und öffentlichen Lügen; genauso wie zur gleichen Zeit die norditalienische Milchproduktion und das weltweite kreative Finanzwesen.

Die Sache funktionierte wie folgt: Die Genossenschaften der kleinen Landbesitzer sammelten die Orangen ein und verkauften sie dann auf den großen Obst- und Gemüsemärkten oder an die Lebensmittelindustrien im Norden. Dieselben Genossenschaften, deren Führungspersonal zu gleichen Teilen aus Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Politikern bestand, verwalteten auch die EU-Mittel. Da letztere direkt von der Menge der von den Bauern bei den Genossenschaften abgelieferten Früchte abhingen, produzierte Rosarno unendlich viele Orangen, viele an den Bäumen, aber noch mehr auf dem Papier. Wenn ein Bauer eine bestimmte Menge ablieferte, dann stellte die Genossenschaft eine Rechnung über die dreifache, fünffache oder sogar zehnfache Menge aus. So kassierten die Gartenbesitzer überhöhte Subventionen. Einen eher bescheidenen Teil davon gaben sie an die Landarbeiter weiter und sicherten sich so deren kollektive Komplizenschaft. Um die Arbeitslosen kümmerte sich wie gesagt die INPS mit ihren gefälschten und uferlosen Listen von arbeitslosen Landarbeitern, für die längst nicht alle fälligen Beiträge gezahlt wurden.

Um diesem massenhaften Betrug herum florierten noch verschiedene andere Betrügereien, ebenfalls mit EU-Mitteln. Insbesondere gab es alle möglichen Industrien, die die Papierorangen zu Papiersaft verarbeiteten. So entwickelte sich in Rosarno seit den 90er Jahren bis vor kurzem eine ungewöhnliche Produktionsweise, in der verschiedene Epochen oder Zeitalter miteinander verflochten sind; Zeitalter, die in der Geschichte des Westens in ein Vorher und ein Nachher zerfallen waren, erscheinen in der Piana alle gleichzeitig und zusammen.

Es gibt ein protokapitalistisches Zeitalter, das der ursprünglichen Akkumulation. Dazu gehören die Besitzer der Gärten und die Migranten, die dort als Saisonarbeiter arbeiten.

Erstere sind als "Lumpenkapitalisten", die um jeden Preis schnell reich werden wollen, nicht besonders zimperlich, und zeigen rücksichtslos die typische soziale Grausamkeit, den tierischen Geist des Frühkapitalismus. Sie üben ihre Hegemonie über die Tagelöhner aus Rosarno durch eine völlig willkürliche Jobvergabe aus - sowohl was echte als auch besonders, was falsche Jobs angeht.

Letztere, die überwiegend aus Afrika stammenden Migranten, sind wie während der Entstehung der Manufaktur in England Anfang des 19. Jahrhunderts nackte Arbeitskraft - ohne Krankenversicherung, Arbeitsvertrag und gewerkschaftlichen Schutz. Sie arbeiten nicht nur schwarz, wie es in der kalabrischen Wirtschaft auch die italienischen Staatsbürger meist tun, sondern ihr Schwarzlohn beträgt weniger als die Hälfte des Schwarzlohns der einheimischen Tagelöhner.

Dann gibt es das üppig wuchernde Regelgestrüpp der Sozialversicherungen, das an die ständische Agrarpolitik des christdemokratischen Regimes direkt nach dem 2. Weltkrieg erinnert. Und schließlich gibt es das postmoderne Zeitalter der europäischen Bürokratie, die in ihrer aufgeklärten Abstraktheit letztlich die kreative Papier-Landwirtschaft fördert, genauso wie sie das kreative, ebenfalls nur auf dem Papier existierende Finanzwesen möglich gemacht hat.

Diese unwahrscheinliche Wirtschaftsordnung funktionierte fast 20 Jahre lang ganz gut; aber vor ein paar Jahren war schon das erste Knirschen im Gebälk zu hören. Ein paar im Kampf gegen die Mafia engagierte Staatsanwälte sind wach geworden, es gab erste Ermittlungsverfahren, einige besonders spektakuläre Betrugsfälle kamen ans Licht; sogar die INPS schien aus ihrer Lethargie aufzuwachen und überprüfte die Liste der registrierten Tagelöhner, die dann um die Hälfte ausgedünnt wurde. Zuguterletzt schwenkten 2008 auch die Bürokraten aus Brüssel ein und änderten aufgeschreckt von der Aufdeckung der Betrügereien kurzerhand die Kriterien und banden die Subventionen an die Fläche statt wie bisher an die Produktion. Dadurch bekam ein Gartenbesitzer vorher 8000 Euro pro Hektar statt jetzt weniger als 1500. Gleichzeitig ging die Zahl der landwirtschaftlichen und erst recht der Verarbeitungs- und Handelsbetriebe sofort drastisch zurück.


Globale Krise und Klassenkampf in der tyrrhenischen Piana

So sah es in Rosarno aus, als letztes Jahr die globale Finanzkrise auch die Piana erreichte: Auf dem Weltmarkt brach der Orangenpreis zusammen. Gleichzeitig kamen etwa 1000 Migranten mehr als sonst, nämlich Arbeiter, die von den Fabriken in Mittel- und Norditalien entlassen worden waren und sich in der süditalienischen Landwirtschaft auf die Suche nach Verdienstmöglichkeiten machten, und seien diese noch so geringfügig und schwarz. In Rosarno musste man also plötzlich mit drei Problemen gleichzeitig fertig werden: mit der drastischen Verringerung der EU-Subventionen, mit dem weltweiten Verfall der Lebensmittelpreise und mit der Zunahme der Zahl der arbeitssuchenden Migranten vor Ort. Das Zusammentreffen dieser Faktoren hat einen Klassenkonflikt ausgelöst zwischen dem gesellschaftlichen Block, der sich um die kleinen Landbesitzer schart, und den tausenden von Migranten, die seit Jahrzehnten als Saisonarbeiter in diesen Gärten arbeiten.

Um die Situation mit einem Bild zu verdeutlichen: in diesem Jahr ist ein großer Teil der Orangen in Rosarno an den Bäumen geblieben, weil ihr Verkaufspreis nicht mal die Produktionskosten deckt. Wo noch vor ein paar Jahren über 2000 Migranten für die Erntearbeit benötigt wurden, reichten in diesem Jahr weniger als 200. Wegen der Wirtschaftskrise kamen aber 3000 von ihnen in die Piana. So entstanden die Bedingungen für einen sozialen Konflikt: einerseits das Recht des "Lumpenkapitalisten" auf Profit, andererseits das Gewohnheitsrecht der "schwarzen Migranten", sich jedes Jahr in Rosarno das Nötigste zum Überleben zu verdienen.

Schon im Dezember war innerhalb weniger Wochen die Stimmung umgeschlagen. Die von den Gartenbesitzern hegemonisierten Rosarneser empfanden die Anwesenheit der Migranten plötzlich als überzählig und überflüssig. Waren diese bisher Hände gewesen, die für sie gearbeitet hatten, so wurden sie nun zu ausländischen Vagabunden, die eilig nach Hause geschickt werden mussten, so eilig, dass sie nicht bezahlt wurden, dass nicht mal mehr Zeit war, die von einigen von ihnen bereits geleistete Schwarzarbeit zu bezahlen.

Die Regionalverwaltung und die Präfektur[22] in Reggio Calabria waren unfähig, irgendeine politische Vermittlung zu leisten. Also steigerte sich der Unmut oder vielmehr eine Art Klassenhass bis hin zu körperlichen Auseinandersetzungen zwischen den Rosarnesern und den Migranten. Unter diesen Umständen reichte schon eine verantwortungslose Geste oder vielleicht eine von Gerüchten noch aufgeblasene bewusste Provokation, um Feuer an die Lunte der sozialen Explosion zu legen. Aber noch einmal: Der Rassismus spielte eine rein folkloristische Rolle: Wären die Migranten groß, blond und blauäugig gewesen, hätten sich der Antagonismus und die soziale Auseinandersetzung zwischen Unternehmern und Tagelöhnern unter den gegebenen Umständen mehr oder weniger genauso abgespielt.


Aus den Fakten lernen

Die Krawalle von Rosarno waren schlimm, aber das Schlimmste sind nicht die Krawalle selbst, sondern die bereits vorher vorhandene soziokulturelle Situation, die sie sichtbar gemacht haben, und zwar nicht nur in der tyrrhenischen Piana, sondern auch in der ionischen Piana und in vielen anderen "landwirtschaftlichen Entwicklungsgebieten" in Süditalien. Kennzeichnend für diese Situation ist die öffentliche Heuchelei. Damit sind wohlgemerkt nicht die Betrügereien gemeint (so etwas ist immer möglich, denn das Fleisch ist bekanntlich schwach), und auch nicht die kollektive Dimension dieser Betrügereien, die ja im Gegenteil immerhin eine gewisse Macht der Kooperation bezeugt, sondern der öffentliche Lobgesang, den in Kalabrien alle - die lokalen und nationalen Autoritäten, die Zeitungen, die Bischöfe, die Schuldirektoren bis hinunter zu einschlägig bekannten Dieben - auf die Legalität anstimmen. Diese Legalität wird geradezu besessen beschworen, obwohl jeder weiß, dass sie permanent schlicht in völligem Gegensatz zum gesunden Menschenverstand steht.

Im Rahmen dieser öffentlichen Heuchelei können Verwaltungen und Abgeordnete in Regionen, Provinzen und Gemeinden, kommissarische Verwalter, Zivilschutz, Staatsanwälte und Polizisten, Parlamentsabgeordnete und Senatoren seit Jahren ignorieren, unter welchen illegalen und vor allem unmenschlichen Bedingungen seit langem tausende von Migranten leben, die zur Schwarzarbeit in der süditalienischen Landwirtschaft gezwungen sind. Alle haben dies verdrängt, als hätten sie einen kollektiven neurotischen Tick, und daher war auch niemand verantwortlich.

So schafft es seit 20 Jahren keine der verschiedenen Behörden, sich um Unterkünfte, Wasser, Strom und sanitäre Anlagen für die Migranten zu kümmern, obwohl das möglich wäre und in anderen Regionen auch geschehen ist. Das Fehlen von Verantwortlichkeiten als Ergebnis der öffentlichen Heuchelei erklärt übrigens auch, warum sich während der Krawalle kein einziger führender Regionalpolitiker in Rosarno auf der Straße hat sehen lassen, obwohl die süditalienischen Politiker traditionell immer das Rampenlicht suchen. Aber sie haben recht, denn schließlich sind Migranten ja keine Wähler.

Doch Heuchelei gibt es nicht nur bei den lokalen Autoritäten, sondern genauso bei den Gewerkschaften. Wie gesagt wird ein Großteil der abhängigen Arbeit im privaten Sektor in Kalabrien schwarz geleistet. Die großen Gewerkschaften unternehmen keinen Versuch, in Süditalien die Sozialgesetzgebung durchzusetzen. Die nationalen Tarifverträge werden nicht angewendet und lassen sich vielleicht auch nicht anwenden. Aber es sind ja gerade die zentralisierten Tarifverhandlungen, die die ideologische Rechtfertigung für die Existenz der Gewerkschaftsbürokratie und zugleich die Grundlage ihrer materiellen Selbsterhaltung liefern. Diese historische Heuchelei ist seit einem halben Jahrhundert typisch für das kalabrische Gewerkschaftsleben. Im letzten Jahrzehnt ist ein weiterer, akuter und beleidigender Aspekt hinzugekommen, der sich so beschreiben lässt: Die in der kalabrischen Landwirtschaft verwertete lebendige Arbeit konzentriert sich fast vollständig in den Körpern der schwarzen Migranten, aber die drei großen Gewerkschaftsverbände, deren Mitgliedschaft immer mehr aus Rentnern besteht, schaffen es noch nicht mal, mit diesen Malochern zu sprechen. Die Arbeiter, die unsere Felder bevölkern, sind für die Gewerkschaft letztlich Unbekannte, vielleicht aus Absicht, vielleicht aus Unfähigkeit.

Trotzdem muss natürlich daran erinnert werden, dass die Beteiligung an der öffentlichen Heuchelei weit über Politiker und Gewerkschaften hinausgeht und sich in den Seelen von vielen von uns, in den Seelen fast aller Kalabresen eingenistet hat. Immun geblieben sind im Grunde nur die Leute von den ehrenamtlichen Vereinen, den katholischen Freiwilligenorganisation und den Centri Sociali. Und wir müssen den Migranten von Rosarno danken, dass sie unser Gewissen wieder geweckt haben.


Ein paar bescheidene Aktionsvorschläge im Hier und Jetzt

Die Ehrenamtlichen, diese handelnden Gemeinschaften, sind der einzige authentische Gesprächspartner der Migranten, der einzige, der sie im Namen von uns allen für das, was geschehen ist, um Entschuldigung bitten kann. Es versteht sich von selbst, dass Entschuldigungen in solchen Fällen nicht mit Worten, sondern mit Gesten und Handlungen einhergehen.

Man könnte z.B. die Regionalregierung mit einer öffentlichen Kampagne anprangern und zwingen, sofort ein außerordentliches Bauprogramm in den Piane und den Landwirtschaftsgebieten aufzulegen, wo die Migranten arbeiten. Ähnlich könnte man von den drei kalabrischen Universitäten fordem, kostenlose Studienplätze und Stipendien anzubieten, nicht nur völlig wahllos für Spanier und Chinesen, sondern vor allem für jene jungen gebildeten Migranten, die ihre Ausbildung mit einem akademischen Studium abschließen wollen, wenn sie schon bei uns in der Piana arbeiten.

Aber wenn die Ehrenamtlichen sich mit den Migranten solidarisieren wollen, dann sollten sie nicht Forderungen für sie aufstellen, sondern ihre soziale Autonomie fördern, ihnen helfen, sich selbst zu organisieren. Die einzige Möglichkeit, die Würde der Schwarzarbeiter zu schützen, besteht nämlich nicht in regionalen, nationalen oder sonstigen Gesetzen, sondern in der bewussten Organisierung der Migranten selbst, nur sie hat eine Chance, das aktuelle ungünstige Kräfteverhältnis zu kippen.

Die unmittelbare Voraussetzung für alle Aktionen ist Wissen: Wir sollten eine große Massenuntersuchung starten und in Filmen und Interviews die Geschichten und die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Migranten auf den kalabrischen Feldern dokumentieren. Dabei können wir uns am Beispiel der Arbeiteruntersuchungen in den 70er Jahren orientieren, mit denen damals von außen (manchmal auf jakobinische Art) versucht wurde, Wissen zu gewinnen und die Selbstorganisation zu fördern.

Wenn wir sofort mit dieser Untersuchung anfangen, hätten wir die glückliche Gelegenheit, Wissen und Aktion direkt ineinander übergehen zu lassen. Seit ein paar Wochen kursiert unter den Migranten in ganz Italien nämlich die schöne Idee eines eintägigen Generalstreiks Anfang März, autonom organisiert, abseits von Gewerkschaften und Parteien, ganz wie an den Anfängen des Kapitalismus.

Zum Erfolg dieses Streiks beizutragen wäre doch eine angemessene Geste der Wiedergutmachung für die Ereignisse während der Krawalle von Rosarno. Jeder versteht wohl, was für einen Bewusstseinssprung der Erfolg dieser Initiative auslösen würde, die an einem einzigen Tag blitzartig die Macht der Kooperation der Migranten ins allgemeine Bewusstsein rücken würde, denn ohne sie würde nicht nur die Wirtschaft, sondern das Alltagsleben der Nation selbst zusammenbrechen.


Anmerkungen

[18] Piana = Ebene. Gemeint sind die fruchtbaren, intensiv landwirtschaftlich genutzten Ebenen an der tyrrhenischen (West-) und ionischen (Ost-) Küste der überwiegend gebirgigen süditalienischen Region Kalabrien.

[19] Leonardo Sciascia (1921-1989), sizilianischer Volksschullehrer und Schriftsteller. 1975 wurde er über die Liste des PCI in den Stadtrat von Palermo gewählt, 1979 als Abgeordneter der linksliberalen Radikalen Partei ins Europaparlament. 1987 kritisierte er in einem vielbeachteten Artikel im Corriere della Sera die damals prominenten Anti-Mafia-Staatsanwälte als Karrieristen.

[20] La resistenza dei migranti: il caso Rosarno [Der Widerstand der Migranten: der Fall Rosarno], Unical 2009.

[21] Instituto Nazionale Previdenza Sociale: italienische Sozialversicherungsanstalt.

[22] Präfektur (Prefettura - Ufficio Territoriale di Governo), Außenstelle des Innenministeriums, die als Verbindungsstelle zwischen gewählter Provinz- oder Regionalverwaltung und der Zentralregierung in Rom dient.


Randnotizen

Tag ohne Migranten
Gruppen in Frankreich und Italien rufen für den 1. März zu einen Migrantenstreik auf. Vorbild ist der Streik in den USA an 1. Mai 2006, der v.a. von den Latinos organisiert wurde.

Aber auch der Migrantenstreik in Vicenza an 15. Mai 2001, an dem sich damals 30.000 MigrantInnen aus der Provinz Vicenza beteiligt hatten. Die Gewerkschaft CGIL hatte die Aktion unterstützt. (Siehe wildcat zirkular 64 / Juli 2002; in Archiv auf www.wildcat-www.de)


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"Die Mandarinen und Oliven fallen nicht vom Himmel"

Heute, am 31. Januar 2010, haben wir uns in Rom getroffen und die Versammlung afrikanischer Arbeiter/innen aus Rosarno gegründet.

Wir sind die Arbeiter/innen, die Rosarno verlassen mussten, nachdem wir unsere Rechte eingefordert hatten. Wir haben unter unmenschlichen Bedingungen gearbeitet. Wir lebten in den Fabriken, völlig allein gelassen, ohne Wasser oder Strom. Unsere Arbeit wurde schlecht bezahlt. Von unseren Schlafstätten mussten wir jeden Morgen um 6 Uhr los; um 20 Uhr kamen wir dann zurück, für 25 Euro, die nicht einmal in unseren Taschen landeten. Manchmal wurden wir nach einem harten Arbeitstag nicht bezahlt.

Wir kamen mit leeren Händen zurück, krumm vor Müdigkeit. Seit mehreren Jahren wurden wir diskriminiert, ausgebeutet und auf jede erdenkliche Art malträtiert. Tagsüber wurden wir ausgebeutet und nachts wurden wir von den Kindern unserer Ausbeuter gejagt. Man verprügelte uns, machte uns fertig und nutzte uns wie die Tiere aus ... wir wurden weggeworfen, einer von uns ist auf immer verschwunden. Man machte uns runter, zum Spaß oder aus Interesse von irgendjemandem, aber wir haben weiter gearbeitet.

Mit der Zeit wurden wir immer leichtere Ziele. Wir konnten nicht mehr. Diejenigen, die nicht angeschossen wurden, wurden in ihrer Würde verletzt, in ihrem menschlichen Stolz. Hilfe konnten wir nicht erwarten, wir waren unsichtbar, für die Behörden existierten wir nicht.

Dann haben wir uns gezeigt, wir sind auf die Straße gegangen und haben unsere Existenz herausgeschrien. Die Behörden und die Polizei kamen und schaffte uns aus der Stadt, weil wir dort nicht mehr sicher waren. Die Bewohner/innen von Rosarno fingen an, uns zu jagen, dieses Mal wollten sie uns auf organisierte Weise lynchen, eine wahre Menschenjagd. Dann sperrte man uns in Migrantenlager. Viele sind noch dort, andere sind nach Afrika zurück, wieder andere über verschiedene Städte im Süden verstreut. Wir sind in Rom. Wir haben keine Arbeit, keinen Schlafplatz, wir sind ohne unsere Sachen, unser Lohn ist noch in den Händen der Ausbeuter. Wir sagen, dass wir die Akteure des ökonomischen Lebens dieses Landes sind, die die Behörden weder sehen noch anhören wollen. Die Mandarinen und Oliven fallen nicht vom Himmel, sie werden von Händen gepflückt.

Wir hatten es geschafft, eine Arbeit zu finden, die wir wieder verloren haben, nur weil wir gefordert haben, wie Menschen behandelt zu werden. Wir sind nicht als Tourist/innen nach Italien gekommen. Unsere Arbeit und unser Schweiß diente Italien wie auch unseren Familien, die große Hoffnungen in uns gesetzt hatten.

Wir fordern, dass die Behörden dieses Landes uns wahrnehmen und unsere Forderungen anhören: Wir fordern, dass das humanitäre Bleiberecht, das elf verletzte Afrikaner/innen aus Rosarno bekommen haben, auch uns zugestanden wird, die wir alle Opfer der Ausbeutung und des irregulären Status sind, von der Arbeit rausgeschmissen, allein gelassen und auf der Straße vergessen. Wir wollen, dass die Regierung dieses Landes ihre Verantwortung wahrnimmt und uns die Möglichkeit einer anständigen Arbeit garantiert.

Die Versammlung afrikanischer Arbeiter/innen aus Rosarno, Rom, im Januar 2010

Raute

"Shut it down!" Bewegung an den kalifornischen Hochschulen

Die Auswirkungen der Krise sind weltweit spürbar, und in Kalifornien benutzt Gouverneur Arnold Schwarzenegger - ein ehemaliger Action-Movie-Star - das Haushaltsdefizit als Rechtfertigung für Angriffe auf die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse und für neoliberale Privatisierungen. Während Kalifornien bei Entlassungen und Zwangsvollstreckungen USA-weit führt, scheinen hier auch die ersten Anzeichen für Widerstand auf

Die Geschichte wiederholt sich. Der StudentInnenprotest an der Universität Berkeley Anfang der 1960er war durch die Beteiligung von StudentInnen an der Bürgerrechtsbewegung beeinflusst und markierte die Schwächung des McCarthyism und die Geburt der Neuen Linken. Die Bewegung für Redefreiheit in Berkeley 1964 entwickelte sich zur Bewegung gegen den Vietnamkrieg und beeinflusste viele andere, wie die Black Panther Party in der Nachbarstadt Oakland. Auf dem Höhepunkt führte sie zur Kritik der StudentInnen an der Funktion der Ausbildung in einer kapitalistischen Gesellschaft.

Ronald Reagan, Filmstar aus Hollywood, wurde 1966 Gouverneur mit der Parole "den Saustall in Berkeley ausmisten". Sein Regierungsprogramm bestand aus Angriffen auf die öffentliche Bildung und dem Abbau anderer Sozialprogramme aus dem New Deal. Er beschimpfte die protestierenden StudentInnen als "verzogene Gören", "Missgeburten" und "feige Faschisten". Angesichts der Unruhe auf dem Campus und der Notwendigkeit, "die Ordnung wiederherzustellen", sagte er: "Wenn es ein Blutbad braucht, dann bringen wir es hinter uns. Schluss mit der Beschwichtigungspolitik!" Wenige Tage darauf erschoss die Nationalgarde bei Protesten gegen den Vietnamkrieg an der Kent State University vier StudentInnen und erfüllte somit Reagans Prophezeiung.

Reagans Vermächtnis, sowohl als Gouverneur (1967-75) wie später als Präsident (1981-89), waren Kürzungen im Bildungshaushalt. Als Gouverneur kürzte er den Fonds für höhere Bildung jedes Jahr um 20 Prozent und beendete die seit 101 Jahren bestehende kalifornische Tradition kostenloser Bildung, indem er an der UC (University of California), den California State-Universitäten und den zweijährigen Gemeindecolleges eine neue "Bildungsgebühr" einführte, eine de facto-Studiengebühr. Die "Gebühr" an der UC vervielfachte sich von 150 Dollar Ende der 1960er bis auf 10.300 Dollar an der UCLA (University of California Los Angeles) am 19. November 2009.

Als Reagan 1966 sein Amt als Gouverneur antrat, war das K-12-Programm (Kindergarten bis 12. Klasse) der öffentlichen Schulen nach Ausgaben pro Schüler unter den besten in den USA. Das dreigliedrige öffentliche höhere Bildungswesen in Kalifornien war das umfassendste kostenlose Bildungssystem der Welt. Heute besteht es aus den Forschungsunis der UC mit zehn Standorten, den 23 Unis des California State University-Systems (früher Lehrerkollegien) und den 110 zweijährigen California Community Colleges. Nach Reagans Amtszeit 1975 war das K-12 auf einen mittleren Rang in den USA abgerutscht, heute steht es ganz unten. Die höhere Bildung war auf ihrem Weg von einem öffentlichen zu einem schrittweise privatisierten System von Firmen auf einem Bildungsmarkt.


Reagans Vermächtnis

Das System der UC benutzt die Einnahmen aus den Studiengebühren als Sicherheit zur Stützung ihrer Wertpapierkurse, mit denen es die Bauprojekte finanziert. Von denen dienen nur wenige für den Unterricht. Die meisten Unis sehen mit vielen Baustellen nach "Bauboom" aus - in krassem Gegensatz zu den Phrasen von der "Krise" zur Rechtfertigung von höheren Studiengebühren. UC-Präsident Mark Yudof verteufelt in seiner Propagandakampagne die Steuerzahler als zahlungsunwillig. Das wurzelt in der Reaganschen 1960er-Ideenwelt der Privatisierung, die kalifornische Wähler 1978 mit der Proposition 13 (Senkung der Grundsteuern) bestätigten - angetrieben durch rassistische Mythen über Vorstädter, die den Sozialbetrug im Ghetto mitfinanzieren. In Kalifornien ist der Kampf ums Wohnungswesen, oft durch den spalterischen Gebrauch des Rassismus, so unauflöslich mit den Klassenbeziehungen verbunden, wie der um Bildung oder Zugang zu Jobs. Zusätzlich werden subprime loans, wie sie die Immobilienblase aufgebläht hatten, jetzt als Finanzhilfe für StudentInnen angepriesen. Sie sollen ihre Zukunft verpfänden, um immer teurere Bildungswaren zu erwerben.

Als im Herbst das neue Studienjahr begann, hatten die UC-Regents [staatliches Aufsichtsgremium für Bildungseinrichtungen] bereits ihre Lösungen für die Haushaltskrise angekündigt: Entlassungen, unbezahlter Zwangsurlaub für die noch Beschäftigten, erhöhte Studiengebühren und größere Klassen. Als Antwort riefen die UPTE [University Professional and Technical Employees; Gewerkschaft für Lehr- und technische Kräfte der Universität], die an den zehn Standorten 11.000 ArbeiterInnen vertreten, für den 24. September zu einem eintägigen Streik auf. An der UC Berkeley führte das zu Kundgebungen und Demos von über 5000 ArbeiterInnen und StudentInnen, an der UC Santa Cruz zur einwöchigen Besetzung der Graduate Student Commons [ähnlich AStA] durch einige Dutzend StudentInnen, die erst endete, als die Besetzer eine Gelegenheit sahen, ohne Verhaftungen wieder rauszukommen.

In den folgenden Monaten versuchten StudentInnen sogenannte "weiche Besetzungen", wie das sleep-in in der Bibliothek der Anthropologie aus Protest gegen die verkürzten Öffnungszeiten. Am 24. Oktober gab es an der UC Berkeley ein landesweites Treffen, um den kollektiven Kampf gegen die Kürzungen zu planen. Obwohl über 800 StudentInnen, LehrerInnen und andere UnterstützerInnen teilnahmen, kontrollierte eine Koalition trotzkistischer Gruppen die Tagesordnung und setzte statt einem Aufruf zu einem gemeinsamen Streik durch, dass jeder Campus die "Autonomie" haben solle, selbst zu bestimmen, welche Aktionen er am gemeinsam festgelegten 4. März 2010 durchführen wolle. Die Teilnehmer aus Berkeley beschlossen einen dreitägigen Streik ab dem 18. November, der Haushaltssitzung der Regents.

Am 18.11.09 fanden an vielen UC-Standorten Streiks und Besetzungen statt. An der UC Davis besetzten StudentInnen das Verwaltungsgebäude, 52 wurden festgenommen. Beim Treffen der Regents an der UCLA protestierten 5000 StudentInnen vor dem Gebäude und unterbrachen die Sitzung durch Lärm und zivilen Ungehorsam. Nach der Entscheidung, die Gebühren um 32 Prozent zu erhöhen, hinderten sie die Regents am Verlassen des Gebäudes. Schließlich mussten diese von Bereitschaftspolizei eskortiert werden, die gegen einige Protestierende sogar Taser einsetzte. An der UC Berkeley waren die Besetzungsversuche zwei Tage später erfolgreich, als 40 StudentInnen und UnterstützerInnen Wheeler Hall übernahen, das größte Lehrgebäude auf dem Campus. Knapp 2000 UnterstützerInnen umstellten das Gebäude und lieferten sich ab und zu Gerangel mit der Bereitschaftspolizei um die Zugänge, während es aus Kübeln schüttete. Nach elf Stunden gab es einen Kompromiss: Die BesitzerInnen durften das Gebäude verlassen und bekamen lediglich eine Anzeige wegen Ordnungswidrigkeiten. Es war beeindruckend, dass die die UnterstützerInnen draußen den ganzen Tag die Stellung gegen die Uni-Polizei, die städtische Polizei aus Berkeley und dem Umland hielten. Für viele StudentInnen war es die erste radikale Aktion ihres Lebens, und viele erfuhren ihre kollektive Macht, als sie den Polizeimaßnahmen das Tempo nahmen und das Sondereinsatzkommando daran hinderten, die BesitzerInnen zu verhaften und einzuknasten.

Während der "toten" Woche an der UC Berkeley, einer unterrichtsfreien Woche zur Prüfungsvorbereitung, übernahmen am Montag, den 7. Dezember, StudentInnen und UnterstützerInnen erneut Wheeler Hall. Sie riefen eine "Offene Uni" aus und organisierten Teach-Ins, Konzerte, Tanzveranstaltungen, Volksküchen und luden alle zu informellen Diskussionen ein. Nach anfänglichem Handgemenge mit der Uni-Polizei hielten sie die Zugänge Tag und Nacht offen, und wer wollte, durfte dort schlafen. Aber es kamen nur unregelmäßig Leute, und manchmal war das Gebäude kaum besetzt. Am Freitag um fünf Uhr früh verschloss die Polizei die Türen von Wheeler Hall und nahm alle Anwesenden fest, insgesamt 66 Menschen. In der Bay Area hatte es eine ganze Woche lang geregnet, Mittwoch war einer der kältesten Tage des Jahres gewesen, und es gab Frost. Daher schliefen viele Obdachlose dort und wurden mitsamt den StudentInnen und AktivistInnen festgenommen. Bis auf drei wurden alle wieder entlassen, aber ohne ihre persönlichen Gegenstände. Leute wurden auf die Straße geworfen mit nichts, als was sie bei der Festnahme am Leib trugen. Die in Socken standen also mit Knastlatschen in Regen und Kälte. All das führte mit zu den Ereignissen von Freitag Nacht.


Alte Slogans in die Tonne

Auf der anderen Seite der Bucht besetzten am 9. Dezember noch vor Sonnenaufgang 23 StudentInnen die Business School an der San Francisco State University (SFSU). Die SFSU-Bullen warteten fast 24 Stunden bis halb vier morgens, bis sie die riot squad reinschickten. Die zerschlugen Fenster, um ins Gebäude zu gelangen, weil einige Dutzend wackere StudentInnen der Kälte trotzten und vor den Türen des Gebäudes Wache standen. Viele von ihnen wurden zusammen mit den Besetzern verhaftet, einige andere umringten die Polizeiwagen, hielten den Bullen stand und blockierten die Abfahrt der Wagen noch über eine Stunde lang. Insgesamt wurden 30 junge Leute festgenommen. Für viele war es das erste mal in ihrem Leben, dass sie etwas Militantes getan hatten.

Einer der Hauptgründe, den die Verantwortlichen in Berkeley für die Verhaftungen am Freitag Morgen in der Wheeler Hall angaben, war das stark beworbene Konzert Freitag Nacht mit Boots Riley von der politischen Rapgruppe The Coup aus Oakland. Wahrscheinlich ging es auch darum, dass Nicht-StudentInnen, darunter Obdachlose, im Saal schliefen. Die Organisatoren der Besetzung beschlossen, das Konzert Freitag Nacht trotzdem stattfinden zu lassen, aber nicht auf dem Campus. Nach dem Konzert, um 23 Uhr, gingen ungefähr 200 unterschiedlich stark betrunkene Leute zurück zum Campus und begannen, die Villa des Rektors zu demolieren - während er und seine Frau drinnen schliefen.

Auf mysteriöse Weise tauchte auch ein Dutzend brennender Fackeln auf Fünf Minuten nachdem die vorderen Fenster der Rektorenvilla und einige große Terra Cotta-Übertöpfe zerstört waren, kamen die Bullen. Viele von uns waren weit genug entfernt, um einfach über den Campus wegzugehen. Aber mindestens acht Leute wurden wegen vielfacher Vergehen, wie etwa Randalieren und Brandstiftung, festgenommen und mit Kautionen bis zu 132.000 Dollar belegt. Alle verbrachten das Wochenende im Gefängnis, und bei ihren Gerichtsanhörungen zu Beginn der folgenden Woche wurden alle Anklagen fallengelassen. Der flammende Angriff auf die Rektorenvilla war dumm und nicht durchdacht. Er erinnerte auch an den Mord an der Berkeley-Aktivistin Rosebud Denovo 1992, die nach einem versuchten Machetenangriff auf den damaligen UC-Rektor von der Polizei erschossen wurde. Nach der Anhörung am Montag zog eine Gruppe von mehreren hundert Leuten spontan die paar Blocks vom Gericht zum Hauptquartier des UC-Systems im Stadtzentrum Oaklands, wo sie die Lobby besetzten und mehrere Stunden lang mit hohen Tieren der UC debattierten und Forderungen stellten.

Als wir Freitag abend auf das Rap Konzert warteten, kamen uns zwei Dutzend SFSU-StudentInnen entgegen. Sie hatten die müden alten Slogans, aus alten und völlig anderen Zeiten, in den Mülleimer der Geschichte verbannt. Und sie hatten neue erfunden: Darüber, dass unser Kampf um Ausbildung "Klassenkampf" ist, und sie bezogen sich auf die Notwendigkeit der "Solidarität der Arbeiterklasse". Wahrscheinlich, weil mit der Privatisierung des Bildungswesens ungefähr 90 Prozent derer, mit denen wir gesprochen haben, in einem oder mehreren Jobs arbeiten - anders als in früheren Generationen, wo Bildung noch fast gratis war und man mit sehr wenig Arbeit auskommen konnte. Wenn man mit den StudentInnen der SFSU spricht, hört man sehr wenig Lenindogma über "Führung" oder "Vorhut" oder das Anwerben für Kaderorganisationen; stattdessen hört man die Redegewandteren über "Bewusstsein" sprechen, über "Klassenbewusstsein" und sogar über die Notwendigkeit, die heutige Situation "dialektisch" anzugehen.

Das ist eine erfrischende Veränderung weg von den 1980ern und 1990ern, als die Postmoderne das studentische Denken beeinflusste und der Klassenkampf ignoriert oder sogar ganz abgelehnt wurde. Diese Krise setzt die Klassenverhältnisse in stärkeren Kontrast, und das lässt zukünftige Kämpfe hoffnungsvoller erscheinen.


"Shut it down!"

Die SFSU-StudentInnen, hauptsächlich farbige Jugendliche aus der Arbeiterklasse, führen auch die historische Tradition des "Shut It Down"-Streiks am SF State College (wie es damals hieß) fort, der von November 1968 bis April 1969 andauerte. Der Streik war mit seiner Forderung für die Schaffung eines Programms für ethnische Studien erfolgreich. Es war der gewalttätigste längere StudentInnenprotest in den USA der 1960er Jahre und wurde sechs Wochen nach Beginn noch durch die Streikposten der Dozenten und technischen Angestellten verstärkt. Sie hatten eigene Forderungen, waren aber auch mit den StudentInnen solidarisch. Andere Arbeiter, die bei der Gewerkschaft waren, wie etwa Teamster-Lkw-Fahrer, weigerten sich, die Streikposten zu durchbrechen. Dem Campus ging das Essen aus, die Cafeteria und andere Gebäude auf dem Campus mussten schließen, was die Wirksamkeit des Streiks weiter erhöhte.

Wir versuchen aus diesen Lektionen zu lernen, um eine Aktion am 4. März aufzubauen. Unsere kämpferische Fraktion von StudentInnen, LehrerInnen und ArbeiterInnen/Angestellten aus dem öffentlichen und privaten Sektor versucht, für einen unbefristeten Generalstreik zu mobilisieren. Wir agitieren auch dafür, dass alle Angestellten und ArbeiterInnen im öffentlichen Sektor sich solidarisch zeigen und streiken und dadurch auch ArbeiterInnen und Angestellte aus dem privaten Sektor mitziehen. Die Krise in Kalifornien vertieft sich mit jedem Tag, und wir sind voller Hoffnung, dass die Wut der Leute aus der Arbeiterklasse sich zu einer militanten Form des Klassenkampfes katalysieren lässt.

Raute

Pathways

Giovanni Arrighis Verschlungene Pfade

"Die verschlungenen Pfade des Kapitals" heißt ein Ende 2009 bei VSA erschienenes Buch mit drei Beiträgen des im Juni letzten Jahres verstorbenen Giovanni Arrighi: Ein längeres Interview, das David Harvey 2009 mit ihm gemacht hat; der 2001 zusammen mit Beverly Silver verfasste Artikel Die Nord-Süd-Spaltung des Globalen Proletariats und ein Gespräch mit Peter Strotmann von 2005 Die Weltgeschichte an einem neuen Wendepunkt.

Arrighi gehörte zu den "großen Erzählern": neue Entwicklungen und Tendenzen des Weltsystems herausarbeiten, nach den gesellschaftlichen Ursprüngen und den Kräften der Veränderung suchen. Deshalb hat er nach 1989 wieder verstärkt Interesse gefunden, denn er lieferte Material gegen das Gerede vom "Ende der Geschichte" und wurde zum Antipoden der beiden anderen "großen Erzähler" Negri und Hardt (zu Empire und Multitude siehe Wildcat 72). Auch wir haben immer wieder auf seine Texte zurückgegriffen, auf der Suche nach "Verbündeten" gegen die Fortschrittsgläubigkeit kommunistischer Orthodoxie wie auch gegen die postmoderne Beliebigkeit des puren Nebeneinanders von Kämpfen und Identitäten. Arrighis und Beverly Silvers Suche nach Verbindungen zwischen (Klassen) Kämpfen und "ökonomischen Strukturen" des Kapitalismus, nach historischen Kontinuitäten und nach Brüchen schien uns vielversprechend und hat anregende Resultate geliefert. Umso enttäuschter waren wir über seine Aussagen auf dem Kommunismus Reloaded-Kongress 2005. Ein gewaltiges Lebenswerk schien sich am Ende in dem Versuch zu verdichten, eine greifbare politische Alternative zu formulieren, auch wenn dies sehr widersprüchlich blieb. Welche Thesen zur aktuellen Krise und welche damit zusammenhängenden Perspektiven würde er wohl in diesem Nachlass-Bändchen vertreten?

Gleich im ersten Beitrag kommen David Harvey und Giovanni Arrighi auf Arrighis Krisenartikel von 1972 und dessen Entstehung zu sprechen: "(...) [Wir] konnten sowohl mit den Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika wie mit den ArbeiterInnen in Italien [zusammenarbeiten]. Die Artikel über die kapitalistische Krise stammen aus solch einem Austausch im Jahre 1972. Den Arbeitern hatte man gesagt 'Jetzt gibt es eine Wirtschaftskrise, wir müssen ruhig bleiben. Wenn wir weiter kämpfen, werden die Fabrikjobs woanders hingehen.' Also fragten uns die Arbeiter: 'Befinden wir uns in der Krise? Und wenn es so ist, was bedeutet das für uns? Sollen wir uns deswegen einfach ruhig verhalten?' Die Artikel beginnen mit: Krisen tauchen auf ob ihr kämpft oder nicht - sie sind keine Folge der Arbeitermilitanz oder von 'Fehlern' des Managements, sondern gehören untrennbar zur Funktionsweise der kapitalistischen Akkumulation dazu". (Die verschlungenen Pfade, S. 17)

Im hier erwähnten Text Towards a Theory of Capitalist Crisis (nicht ins Deutsche übersetzt) entwickelt Arrighi mit Marxschen Begriffen eine historische Theorie der Krise, die den Klassenkampf mitdenkt. Dazu unterscheidet er zwei Krisenarten: Realisierungskrisen (die Ausbeutungsrate ist zu hoch, der Mehrwert wird nicht in Gänze als Profit realisiert) und Akkumulationskrisen (die Ausbeutungsrate ist zu gering, deshalb fällt die Profitrate). Im ersten Fall fällt die Profitrate aufgrund von Überproduktion, im zweiten Fall führt die fallende Profitrate zu Überproduktion (weil die Kapitalisten weniger Produktionsmittel nachfragen). Mit diesem Schema kann Arrighi die historischen Krisen 1873-1896, 1929-1936 und ab Anfang der 1970er Jahre (von hier aus ist der Artikel geschrieben) einordnen.

Für die Krise 1873-96 stellt Arrighi eine kontinuierlich fallende Profitrate fest. Den Grund dafür sieht er in dem noch geringen Konzentrationsgrad des Kapitals; es hatte noch nicht die Macht, die Arbeiterklasse an beiden Fronten, den Löhnen und den Preisen, anzugreifen.

Das geschah dann in der Krise der 1930er: Abbau von Produktionskapazitäten, hohe Arbeitslosigkeit, Druck auf die Löhne und steigende Preise. Somit eine tendenziell steigende Ausbeutungsrate und in der Konsequenz gegen Ende der 1930er Jahre Überproduktion als hervorstechendes Merkmal der Krise.

In der zu Beginn der 1970er Jahre einsetzenden Krise fällt die Profitate und die Löhne steigen. Die Arbeiterklasse wehrt sich gegen die Erpressung durch Arbeitslosigkeit. Das lässt dem Kapital nur einen Ausweg: Ausweitung des Weltmarkts und Industrialisierung der Welt in Lateinamerika, Indien und Asien. Somit ist die Krise der 1970er Jahre laut Arrighi zum ersten mal eine Krise, die durch die notwendige Einbindung der Arbeiterkämpfe, bzw. durch die dadurch anfallenden Kosten, und die dadurch fallende Profitrate bestimmt ist. Gleichwohl bleibt er schon 1972 allen Versuchen gegenüber skeptisch, diese "gestiegene Arbeitermacht" direkt in politische Organisierung zu übersetzen. "Ökonomische" Kämpfe der ArbeiterInnen seien nicht immer gleich politische Organisierung. Diese Skepsis schützt ihn vor den Beliebigkeiten, die er später an Hardt/Negri kritisiert, aber die im Zitat erwähnte "Arbeitermilitanz" wird in seiner Fassung der Krisentheorie schnell wieder zur puren ökonomischen Kategorie.

Harvey und Arrighi diskutieren dann über den Unterschied zwischen der Krise 1973 und der aktuellen Krise: Beide begannen mit fallenden Profitraten, aber in der Zwischenzeit hat die Konterrevolution von Reagan und Thatcher "eine industrielle Reservearmee geschaffen", die Arbeitslosigkeit konnte erneut als Erpressung eingesetzt und der Charakter der Krise verändert werden: In den 1990er Jahren entwickelte sie sich zur "Überproduktionskrise aufgrund eines systemischen Mangels an effektiver Nachfrage...". (edb. S. 33)

Die "Effektive Nachfrage" ist beliebtes Thema der Volkswirtschaft, vielleicht hängt es mit dieser Krisenbeschreibung zusammen, dass - entgegen dem eigenen Ansatz - die Nationalstaaten fast schon als Subjekte der Geschichte betrachtet werden:

"Lateinamerika erhebt sich jetzt gegen die US-Ökonomie, unter anderem weil China als Alternative gesehen wird. ... [Heute] gibt es eine Alternative. Indien, Südafrika und Brasilien haben die gesamte Hochtechnologie, die sie brauchen. China finanziert die USA, die haben dort das Kapital, und auch all die Arbeitskräfte und die natürlichen Ressourcen, die sie brauchen. Es ist also eine neue Situation entstanden. Abkopplung ist nicht mehr die einziger Frage, denn sie koppeln sich ab, aber sie verbinden sich auch untereinander und stärken sich gegenseitig in Bezug auf den Norden, und dadurch veranlassen sie den Markt, in ihrem Interesse zu handeln" (edb. S. 85)

In der steigenden "organischen Zusammensetzung" des Kapitals ist der Klassenkampf am Wirken. Auch deshalb werden unsere Vorstellungen einer Revolution heute anders aussehen als in den 1970er Jahren oder 1917. Arrighi scheint in der "organischen Zusammensetzung" vor allem die Konkurrenz am Wirken zu sehen und greift deswegen zur "Fleißrevolution":

"Was Marxisten häufig vergessen: Marx‹ Idee der steigenden organischen Zusammensetzung des Kapitals und der dadurchfallenden Profit rate hängt eng mit der Tatsache zusammen, dass die Anwendung von mehr Maschinerie und Energie die Konkurrenz unter den Kapitalisten dermaßen intensiviert, dass das Kapital weniger profitabel und gleichzeitig ökologisch zerstörerisch wird. ... die Trennung des Managements von den Arbeitern, die zunehmende Beherrschung der Arbeiter durch das Management und der Umstand, dass die Arbeiter ihrer Fähigkeiten, einschließlich der Selbstorganisation, beraubt werden - was alles typisch für die industrielle Revolution ist - [stößt] an Grenzen. In der Fleißrevolution werden die Ressourcen des Haushalts mobilisiert, wodurch die organisatorischen Kompetenzen innerhalb der Arbeiterschaft weiterentwickelt oder zumindest erhalten werden." (edb. S.37)

Seit einigen Jahren diskutiert Arrighi folgerichtig den "chinesischen Weg" als politische Alternative - am deutlichsten im 2008 auf Deutsch erschienenen Adam Smith in Bejing. Hier wurde zwar oft zurück gerudert, meist verknüpft mit dem Hinweis, es wäre noch offen, ob die chinesische Marktwirtschaft eine kapitalistische werde, und dass dies natürlich auch von den Kämpfen der Arbeiter- und BäuerInnen abhängen würde... Wenn wir aber seine materielle Begründung ins Auge fassen, wie sie sich kondensiert im zweiten oben angeführten Zitat findet, die "Fleißrevolution", dann lässt sich durchaus eine Richtung in den pathways seines Denkens ausmachen. In Adam Smith in Bejing begründet u.a. die "Fleißrevolution", warum der chinesische Weg historisch ein anderer "Entwicklungspfad" war (weniger expansiv, weniger militärisch...). Auch heute mobilisiere China "menschliche statt nichtmenschliche Ressourcen", wie man an den TVEs (Township und Village Enterprises) und am Überwiegen der Handarbeit in den chinesischen Fabriken sehen könne.

Was die TVEs betrifft, ist diese Darstellung allerdings nur bis in die 1990er Jahre schlüssig, als diese die "überschüssige Arbeitskraft" auf dem Land hielten ("Das Dorf verlassen, ohne das Land zu verlassen"). Die einschneidenden Veränderungen unter dem Privatisierungsdruck seit Ende der 1990er Jahre nimmt Arrighi nur am Rande in den Blick.

Er will immer wieder darauf hinaus, dass es nicht billige Arbeit per se ist, die den chinesischen Vorteil ausmache, sondern eine "billige, gut ausgebildete Arbeitskraft". Hierzu bringt er eine Illustration aus der Automobilfabrik Wanfeng, wo "kein einziger Roboter zu sehen ist" und die "Fertigungstrassen von einer großen Zahl junger Männer besetzt sind, frisch aus Chinas expandierenden technischen Hochschulen eingetroffen und mit wenig mehr als großen elektronischen Bohrern, Schraubenschlüsseln und Gummihämmern ausgestattet sind:

"Motoren und Karosserien, die sich in einer westlichen, koreanischen oder japanischen Fabrik auf automatischen Förderbändern von Station zu Station bewegen würden, werden von Hand und per Sackkarre befördert. Aus diesem Grund kann Wanfeng seinen bandgemachten Luxusjeep Tributes im Nahen Osten für 8000 bis 10.000 Dollar verkaufen. Statt viele Millionen Dollarfür teure Maschinen auszugeben, um Autos zu bauen, verwendet die Firma äußerst kompetente Arbeiter, deren Jahreseinkommen weniger beträgt, als das Monatseinkommen von neu Angestellten in Detroit" (Fishmann 2005, in Adam Smith in Beijing, S. 453)

Die "Fleißrevolution" scheint uns ein Rückfall in die beliebten Mao-Parolen zu sein ("Wir sind viele und können Berge versetzen") - deren sympathische Aussage "Wir sind es, die Arbeiter und Arbeiterinnen, die die Welt bauen!" auch schon damals die elende Schufterei von vielen Millionen ProletInnen ideologisch verbrämte. Auch das chinesische Wachstumsmodell seit Deng Xiaoping basierte auf extrem niedrigen Reproduktionskosten der Arbeitskraft, niedrigen Löhnen und Zinsen, geringen Kosten fürs Sozialsystem. Es ist überraschend, dass der Kritiker des globalen Weltsystems diese Gründe des chinesischen Aufstiegs ideologisch verklärt und dann auch noch zum Ausgangspunkt einer politischen Alternative macht. Die Abhängigkeit von den Exporten (in die EU und die USA) und amerikanischer Kreditschöpfung ("Chimerica", siehe Wildcat 84 und 85) beschreibt er als "Abkopplung", die prekäre Reproduktion der chinesischen Arbeitskraft, die arbeitsintensive Grundlage der chinesischen Entwicklungsdiktatur - als Wunder der "Fleißrevolution".

Arrighis historische Untersuchungen hatten selten einen genauen Blick auf die "verborgene Stätte der Produktion". Als Harvey ihn nach seinen Einwänden gegen Adam Smith fragt, antwortet er zu meiner Überraschung mit: "Dieselben, die Marx ihm gegenüber hatte." Und führt aus: "Marx kritisiert an Smith, dass er nicht verstehe, was an der verborgenen Stätte der Produktion passiert - die Konkurrenz unter den Kapitalisten mag die Profitrate drücken, aber dem wirkt die Tendenz und die Fähigkeit entgegen, in der Beziehung zur Arbeiterklasse die Kräfteverhältnisse zu ihren Gunsten zu verändern" (Die verschlungenen Pfade, S. 35). Somit wird die Arbeiterklasse zur ökonomischen Kategorie, der Klassenkampf zum Puffer für die Auswirkungen der kapitalistischen Konkurrenz, das Kapital zum Subjekt der Geschichte, der Klasse immer eine Nasenlänge voraus. Es schnürt einem richtig den Atem ab, wie Arrighi hier Marx missversteht und auf den Kopf stellt. Es geht nicht darum, Arrighis Ausführungen zur "Fleißrevolution" und "smithschen Marktgesellschaft" einfach den Hinweis auf den Klassenkampf entgegenhalten. In den letzten Jahrzehnten ist ein globaler Arbeitsmarkt und "objektiv" eine weltweite Arbeiterklasse entstanden, und ohne breite Kämpfe wird es zu einer weiteren Verschärfung entlang der internationalen Arbeitsteilung und/oder der "Nord-Süd-Spaltung" kommen. Wir stehen vor den offenen Fragen, an welchen Punkten solche Kämpfe überhaupt entstehen, welche (neuen) Organisationsformen es geben wird, und was dabei "unsere" Aufgaben sind. Hinter die Frage nach der globalen Arbeiterklasse, wie sie Arrighi schon 1972 aufgeworfen und in den letzten Jahren weggeschoben hat, können wir nicht zurück.


Randnotizen

Wir haben uns mit "der Krise" und der "chinesischen Perspektive" zwei aktuelle Punkte aus dem Buch herausgepickt. Zwischen den beiden Gesprächen findet sich mit dem Artikel die Nord-Süd-Spaltung des Globalen Proletariats ein Artikel, der in relativer kurzer Fassung die Hauptthesen von Giovanni Arrighi und Beverly Silver bringt.

Auf http://www.soc.jhu.edu/people/Arrighi findet sich der hier erwähnte englische Text zur Krise von 1972. Siehe die Bibliographie in Die verschlungenen Pfade des Kapitals

Giovanni Arrighi: Adam Smith in Beijing. Die Genealogie des 21. Jahrhunderts. VSA Verlag 2008

Raute

Buchbesprechung

Antizipierte Autonomie

"Wir stellen uns heute durch diese Zeitschrift den Avantgarden der Arbeiterbewegung vor seien es nun Handarbeiter oder Arbeiter des Geistes - und wissen, dass wir als einzige die grundlegenden Fragen der modernen revolutionären Bewegung auf eine systematische Art und Weise beantworten können. Wir sind davon überzeugt, dass wir die Einzigen sind, die die marxistische Analyse der modernen Ökonomie wieder aufnehmen bzw. weiterentwickeln

Présentation, Socialisme ou Barbarie, Nr. 1, März 1949


"Sozialismus oder Barbarei" - diesen meist Rosa Luxemburg zugeschriebenen Ausspruch nahm eine kleine Gruppe von Revolutionären in Paris Ende der 40er Jahre als Name ihrer Gruppe und Titel ihrer Zeitschrift. Die Gruppe löste sich 1967 auf kurz bevor die "Autonomie" als Kritik der bisherigen gesellschaftlichen und politischen Organisationsformen zur breiten gesellschaftlichen Praxis wurde: im Mai '68.

Für Linkskommunisten und Rätekommunisten wurde die Gruppe danach zum Mythos; von den Texten selbst und dem politischen Wirken ist aber über Frankreich hinaus wenig bekannt. Außer einem Aufsatz von Marcel van der Linden (englisch) und der Dissertation von Philippe Gottraux (französisch) über die Geschichte der Gruppe gibt es kaum zugängliche Literatur. Um so schöner, dass Andrea Gabler, die sich seit Jahren mit Socialisme Barbarie beschäftigt (nachlesbar im Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit) kürzlich ihre Dissertation als gut lesbares Buch mit dem programmatischen Titel "Antizipierte Autonomie" veröffentlicht hat.

Es gliedert sich im wesentlichen in drei Teile: die politische Gruppe SouB und ihre politischen Debatten, die Arbeitsanalysen von unten und eine Schlussbewertung: Was bleibt?


Ketzer

Nach der Befreiung von der deutschen Besatzung 1944 war in Frankreich zunächst der nationalistische Konsens aus der Zeit der Résistance vorherrschend. Alle Anstrengungen waren auf den Wiederaufbau und die beschleunigte industrielle Entwicklung des noch weitgehend agrarisch und kleinbetrieblich geprägten Landes gerichtet. Die politische Hegemonie in der Arbeiterklasse und der Linken hatte der extrem moskautreuc PCF. Paris war aber auch Sammelpunkt für antistalinistische kommunistische Strömungen und politische Emigranten, die die Massaker der Stalinisten 1945 erlebt hatten - wie Cornelius Castoriadis, Trotzkist aus Griechenland. Innerhalb des PCI / IV. Internationale bildete er mit dem Studenten Claude Lefort und anderen 1946 eine oppositionelle Fraktion (Chaulieu-Montal-Tendance). Ihre theoretische Arbeit konzentrierte sich auf eine Kritik der Bürokratisierung, die sie als einen epochalen Prozess fassten, der sowohl die Sowjetunion und die leninistische Avantgardepartei erfasste, als auch den "bürokratischen Kapitalismus". Da sie mit ihrer radikalen Kritik am Stalinismus, aber auch am Titoismus, in der Minderheit blieben, trennte sich die kleine Gruppe endgültig vom "opportunistischen Trotzkismus" und gründete 1949 die autonome Gruppe Socialisme ou Barbarie.

Das politische Überleben einer unabhängigen Gruppe von jungen Leuten, die vom Krieg, der Besatzung und der Opposition zum PCF geprägt waren, war in den Jahren der Blockbildung schwierig. Insbesondere Ausländer wurden von der politischen Polizei überwacht und konnten nicht öffentlich auftreten. Wie schon in der trotzkistischen Partei benutzten alle Gruppenmitglieder Pseudonyme. (Am Ende des Buches findet sich eine annähernd komplette Liste der Mitglieder mit Decknamen und Kurzbiografien!) Noch schwieriger war ihre Position innerhalb des linken Milieus, wo Bürokratiekritik per äse als "antikommunistisch" galt. Die bei uns bekannte Variante der "Totalitarismus-Theorie" setzte Stalinismus und Faschismus gleich - und verbot damit jede Alternative jenseits der Demokratie nach amerikanischem Muster. Im Nachkriegs-Frankreich hingegen konnte sich wieder eine Ultra-Gauche etablieren - eine antileninistische Linke, die sich teilweise auch vom "Marxismus" distanzierte.


Geschichte einer politischen Gruppe

Im März 1949 erschien die erste Ausgabe von Socialisme ou Barbarie mit dem Untertitel "Organ der revolutionären Kritik und Orientierung", die sich hauptsächlich mit der Erarbeitung eines revolutionären Programms mit dem Ziel der proletarischen Revolution beschäftigte. Denn die Gruppe wollte nicht nur eine Zeitschrift herausgeben, sondern auch politisch handeln. Aber welche Organisationsform kann sich eine Gruppe geben, in deren Gründungspapier die Kritik am Stalinismus zentral ist? Die Debatte um die Frage der eigenen Rolle war von Anfang an heftig: sollte die Gruppe als "Partei" mit eigenem Programm agieren - oder lief man damit sofort Gefahr, zu einem von der Klasse getrennten bürokratischen Apparat zu werden? Wie kann eine Gruppe, die die Selbstorganisation der ArbeiterInnen befördern will, ihre Vorschläge - ihr "Programm" - zum Beispiel einem Arbeiterkomitee unterbreiten und diskutieren, ohne als "Avantgarde" zu agieren, aber auch ohne die politische Auseinandersetzung zu scheuen? Einige Genossen stellten die Bedingung, dass sich eine Organisation sofort nach Ende des Kampfes wieder auflösen müsse.

Die Debatte endete vorerst mit einer Mehrheitsentscheidung für die Annahme des programmatischen Texts Die revolutionäre Partei, der recht traditionell einen revolutionären Prozess skizziert, in dem die bewaffneten Massen und die Fabrikräte die Staatsmacht ergreifen und die sozialistische Transformation der Gesellschaft einleiten. Explizit angestrebt wurde die Einheit von Arbeitern und Intellektuellen im revolutionären Prozess.

Nach den Regeln des demokratischen Zentralismus wählte die damals aus 12-20 Personen bestehende Gruppe ein koordinierendes und für die Redaktion der Zeitschrift verantwortliches Komitee; die Gruppenmitglieder waren gehalten, an Schulungen teilzunehmen und die Beschlüsse der Gruppe auszuführen. Im Zentrum der Aktivitäten standen die Diskussion der Artikel für die Zeitschrift.

Die Auseinandersetzung über die Fragen der eigenen Aktivität keimte immer wieder auf und führte 1958 zum ersten Mal zum Austritt von Mitgliedern bzw zur Spaltung der Gruppe. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass außer ehemaligen Trotzkisten Bordigisten, Rätekommunisten holländischer Tradition und Situationisten der Gruppe beigetreten waren.


Die Zeitschrift

In den ersten Ausgaben der Zeitschrift überwogen lange politisch-theoretische Texte, die sich mit dem Stalinismus, dem Wirtschaftssystem der Sowjetunion und dem "Inhalt des Sozialismus" beschäftigten. Dagegen entwickelte die Gruppe ihre eigene Konzeption vom selbstständigen Handeln der Arbeiter, die sich mit Räten eigene Organisationsformen geben. Die Arbeiteraufstände in der DDR, in Polen und der Aufstand in Ungarn schienen die Hoffnungen der Gruppe auf eine antistalinistische Revolte zu bestätigen und wurden vorbehaltlos unterstützt.

Viele linke Aktivisten sind durch die Gruppe hindurch gegangen, haben einen Teil ihrer politischen Sozialisation hier durchgemacht und danach eine ganz andere politische Richtung eingeschlagen oder sich aus jeder aktiven Politik zurückgezogen. Seit 1959 entwickelte sich Castoriadis zunehmend von einem kritischen Marxisten zu einem grundsätzlichen Kritiker des Marxismus als revolutionärer Theorie mit dem Proletariat als Bezugspunkt. Seine Forderung nach Öffnung hin zu den "sozialen Bewegungen" klinge heute fast "banal", zitiert Andrea Gabler Harald Wolf, den Herausgeber einer Castoriadis-Werkausgabe. Diese Neuorientierung führte unter heftigen persönlichen Polemiken zur weiteren Spaltung der Gruppe. Die für September 1965 angekündigte Nr.41 erschien nicht mehr, 1967 erschien ein offizielles Auflösungspapier - kurz vor dem großen Aufbruch im Mai 1968, dem sie mit ihren Texten den Boden bereitet hatte.

Über das Leben der Gruppe, die Dominanz einzelner Führer und die Generationenkonflikte gibt es viele Anekdoten. Andrea Gabler beschränkt sich hier bewusst auf das Wesentliche und stellt das politische Wirken und die Texte der Gruppe in den Vordergrund. Sie versucht denjenigen ein Gesicht zu geben, die nach dem Ende der Gruppe nicht begannen, ihre alten Texte unter ihrem Namen neu zu veröffentlichen. Leute, ohne die die Gruppe wahrscheinlich nicht funktioniert hätte, die sich um die "Kleinigkeiten" gekümmert haben: den Vertrieb, Texte abtippen, Kontakte zu ArbeiterInnen halten usw.. Kleine politische Gruppen funktionieren nicht in erster Linie nach politischen Großkonjunkturen, sondern abhängig von persönlichen Interessenkonstellationen und dem Engagement der Mitglieder, resümiert sie. Der Eigen-Sinn der SouB-Mitglieder sei besonders stark gewesen.

SouB hat in einer politisch schwierigen Zeit unbeirrt ihre Kritik entwickelt und war damit in gewisser Weise ihrer Zeit voraus. Nur eine kleine Gruppe kann (im Gegensatz zu einer strukturierten Organisation) wohl mit solch einer ungeheuren Anmaßung auftreten, wie sie im Vorwort zur ersten Ausgabe zum Ausdruck kommt (siehe oben).

Politische Handlungsfähigkeit erreichte das Kollektiv nur beschränkt. Als während der Zuspitzung des Algerienkrieges viele junge Leute zu den Versammlungen kamen und sich organisieren wollten, war es völlig überfordert.


Arbeitsanalyse von unten

Neuland (zumindest in Frankreich) betrat die Gruppe jedoch mit der Erforschung der Erfahrungen der ArbeiterInnen und Angestellten im modernen Unternehmen. Der "Marxismus" hatte zwar immer von der Arbeiterklasse als dem revolutionären Subjekt gesprochen, sich aber kaum für die Situation im Arbeitsprozess selbst interessiert, den man nicht als Ort der Emanzipation betrachtete.

"In der Fabrik herrscht ein bewaffneter Frieden, und beim ersten Einsatz der Zeitnehmer entbrennt der Krieg von neuem."

Schon im ersten Heft hatte man mit dem Abdruck des Textes The American Worker von Paul Romano und Ria Stone begonnen, die der US-amerikanischen Johnson-Forest-Tendency angehörten, zu der enge Kontakte bestanden. Die Untersuchung der Arbeitssituation in der modernen Industrie wird in den 50er Jahren zu einem wesentlichen Inhalt der Hefte, als u.a. der Renault-Arbeiter Gautrat (Daniel Mothé) und der Versicherungsangestellte Henri Simon der Gruppe beitraten, die selbst an Streiks und anderen Konflikten im Betrieb beteiligt waren. Ein paar Gruppenmitglieder gaben eine Zeitlang ihr akademisches Leben auf; um die Fabrikarbeit selbst auszuprobieren. Als Ende der 50er Jahre die Kämpfe in den Betrieben wieder zunahmen, beschloss SouB die Herausgabe einer eigenen Arbeiterzeitung - Tribune Ouvrière - ein hektographiertes 8-10 Seiten starkes Blatt, das vor Betrieben verteilt wurde.

Der Text von Claude Lefort Die proletarische Erfahrung war das Programm für die Arbeiteruntersuchung. Hier werden auch schon Thesen formuliert: Das grundlegende Interesse der Arbeiter ist es, nicht mehr Arbeiter zu sein, ihre Rolle radikal zu verneinen. Ziel der Untersuchung ist, zu einer "Geschichte des Proletariats als akkumuliertem Erfahrungsprozess" zu kommen. Die Fähigkeit zur Selbstorganisation sollte freigelegt werden.

SouB grenzte sich streng von der neuen Industriesoziologie ab, die auch in Frankreich mit Thesen über eine "neue Arbeiterklasse" oder die Verbürgerlichung der Arbeiter von sich reden machte. Ziel der Gruppe war im Gegensatz dazu die Freilegung des "proletarischen Bewusstseins", das während des Kalten Kriegs von den übermächtigen sozialdemokratischen oder stalinistischen Arbeiterbürokratien enteignet worden war. Für ihre Arbeitsanalysen von unten lehnte sie auch die Methoden der Soziologie, das Herangehen "von außen", die Trennung zwischen "Untersuchenden" und "Untersuchten" ab. Die Analyse des Arbeitsverhältnisses sollte für die ArbeiterInnen ein Moment ihrer eigenen Erfahrung sein. Sogar Fragebögen wurden als zu sehr "steuernd" verworfen. Das Konzept hieß, proletarische Erfahrungen in Form von témoignages - wörtlich "Zeugnisse" - der "authentischen proletarischen Realität" - zu sammeln, die von den beteiligten AutorInnen dann kollektiv verarbeitet werden sollten.

Dieser Anspruch konnte so nicht verwirklicht werden. Tatsächlich wurden nur wenige Texte erstellt, die zwar von beeindruckender Qualität waren, aber das Problem der "Verallgemeinerung" aufwarfen. Sie waren Aufzeichnungen einzelner, die Arbeiteruntersuchung führte nicht zu der erhofften kollektiven Anstrengung. Die größte Hürde für eine massenhafte Umsetzung war wohl die Form: Schreiben war (und ist) nicht das Kommunikationsmedium von ArbeiterInnen, wie also die "unmittelbare Erfahrung" der Proletarier festhalten? Wie die politische Distanz zwischen ArbeiterInnen und politischer Gruppe überwinden?

"Sie sind Arbeiter und wissen, dass sie es bleiben werden. Sie schöpfen daraus eine Feindschaft gegenüber der Welt, die sie ein für alle Mal auf eine untergeordnete Position verbannt bat, Sie fühlen sich in eine Kaste eingesperrt und akzeptieren das nicht, weil alle Arbeiter unleugbar ein ganzes Leben lang ein gemeinsames Ideal haben: nicht mehr Arbeiter zu sein."

Andrea Gabler stellt die témoignages zum ersten Mal in dieser Ausführlichkeit einem deutschsprachigen Publikum vor. Die "Zeugnisse" beschreiben die Bürokratie eines Großbetriebs und das soziale Leben in der Fabrik. Sie üben grundlegende Kritik an der Fabrik als totalitäres und vernichtendes System. Und stellen auch das dar, was in Italien später "Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse" genannt wurde: den Bruch zwischen den verschiedenen Arbeitergenerationen und Masseneinstellungen von Immigranten als O.S. (Ouvrier spécialisé, "Massenarbeiter").

Sie problematisiert aber auch die Aussagekraft der témoignages und zitiert aus Hastings-Kings Dissertation, die Berichte Mothés seien "konstruiert": der "Arbeiter Mothé" eine Schöpfung von Castoriadis und Gautrat. Sie zeigt auch, wie sehr seine Aufzeichnungen einen "Facharbeitersozialismus" widerspiegeln, der wenig mit der Realität der O.S. aus dem Maghreb zu tun hat. Viele seiner Überlegungen gingen in Richtung einer sozialistischen Fabrik unter Selbstverwaltung durch die Arbeiter. Er äußerte wenig Hoffnungen auf ein spontanes Handeln der ArbeiterInnen, die er stark von CGT und PCF bei Renault politisch dominiert sah.

Im Vergleich zu den Industriereportagen eines Wallraff oder dem Buch Eingespannt von Linhart seien die témoignages wesentlich "tiefschürfender". Den Text L'usine et gestion ouvrière von Mothé sieht sie an der Schnittstelle zwischen Erfahrungsbericht und Theoriebildung.

Dass manche Passagen später wortwörtlich in Analysen der Quaderni Rossi in Turin auftauchen, zeigt, welche Verbindungen zwischen den "linkskommunistischen" Gruppen damals zustanden kamen. Doch im Gegensatz zu SouB verabschiedeten sie sich mit der Kritik der Maschinerie vom Trotzkismus und Rätekommunismus, der auf einen Facharbeitersozialismus setzte. Sie entdeckten Marx neu, während die Mehrheit bei SouB eine radikal-demokratische Richtung einschlug.


Autonomie

Die Aufhebung der Trennung zwischen Leitenden und Ausführenden wurde zum essentiellen Ziel der Gruppe und das Thema, mit dem sie sich immer wieder auseinandersetzte. Autogestion - "Selbstverwaltung" - ein Begriff, der im Mai '68 breit in den Kämpfen aufgenommen wurde - und in der Gewerkschaft CFDT, in der dann auch Mothé ein Betätigungsfeld fand und ohne Studium zum Arbeitssoziologen aufsteigen konnte.

Mothés Berichte sieht Andrea Gabler im 'Werk von Castoriadis aufgehoben, dessen Autonomiebegriff sich schließlich völlig von einem Begriff von "Klasse" löst. Auch wer mit dessen später entwickelter Philosophie nichts am Hut hat, kann Andrea Gabler zustimmen, die in der Formulierung "Aus der Bewegung der Wirklichkeit selbst die Grundlagen des revolutionären Handelns und seiner Orientierung herzuleiten" (Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 29) das optimistische Erbe einer Gruppe zusammengefasst sieht, an das auch heute angeknüpft werden kann: es gehe darum, "Perspektiven der Befreiung und Selbstbestimmung nicht einfach 'abzuleiten' und abstrakt zu propagieren, sondern sie in den jeweils neuesten Entwicklungsmomenten der Gegenwartsgesellschaft und vor allem in den konkreten Erfahrungen, die die Menschen in ihrer Alltagswirklichkeit damit machen, zu suchen und zu begründen".


Was bleibt?

Andrea Gabler hat in ihrem Buch nicht nur die Geschichte der Gruppe rekonstruiert, sondern auch die Kernthesen der Debatten zusammengefasst, die sie angeregt hat. Dabei räumt sie der "Konkretion" der Gesellschaftsanalyse in der Untersuchung des modernen Arbeitsprozesses in Fabriken und Büros breiten Raum ein. Ihr Interesse daran ist nicht rein historisch: im Schlusskapitel fragt sie nach der Bedeutung der nun über 50 Jahre alten Berichte für heutige Versuche, die ebenfalls am Antagonismus im Arbeitsverhältnis selbst ansetzen. Die témoignages könnten auch heute noch Inspirationsquelle für eine kritische Analyse kapitalistischer Arbeitsverhältnisse sein - obwohl im "fordistischen" Kontext entstanden, seien sie kein "fordistisches Fossil"; denn die damals herausgearbeiteten Strukturen seien auch durch neue Formen von Arbeitsorganisation (Gruppenarbeit usw.) keineswegs aufgehoben und deshalb die zentrale Problematik, die SouB umtrieb, immer noch virulent.


Nachsatz: Ende einer Gruppe

Ende der 50er Jahre wurden die Arbeiteruntersuchungen von SouB nicht weiter verfolgt. Lefort selbst hat die Gruppe in der Auseinandersetzung um die Organisationsfrage 1958 zusammen mit Henri Simon und vielen anderen verlassen - insgesamt knapp die Hälfte der damaligen Mitglieder - die die Gruppe ILO gründeten, die sich 1962 in ICO - Informations et Communications Ouvrières - umbenannte. Eine der Nachfolgegruppen mit Henri Simon als Aktivist existiert bis heute: Échanges et Mouvement. SouB gründete damals eine eigene Arbeiterzeitung Pouvoir Ouvrier (Arbeitermacht), die ab 1960 unabhängig von SouB erschien, als sich die Gruppe immer mehr vom Marxismus und dem Proletariat als möglicher revolutionärer Klasse abwandte.

Nach ihrer Trennung von der Gruppe bzw. deren endgültiger Auflösung begannen einzelne Mitglieder neue Karrieren. Lefort wurde Professor und hat die politische Aktivität eingestellt. Castoriadis begann bald, seine zahlreichen und unter verschiedenen Autorennamen für die Zeitschrift verfassten Texte in Buchform neu herauszugeben. Die nach seiner Ausbildung zum Psychoanalytiker erschienenen philosophischen Schriften erscheinen so als logische Fortsetzung der damaligen Entwürfe: als wäre SouB allein seine Schöpfung gewesen, die Gruppe nur der Resonanzboden für seine Monologe gewesen und nicht wesentlicher Teil der inhaltlichen Bestimmung. All das schuf viel böses Blut, so dass es bis heute keinen kompletten Nachdruck der SouB-Hefte gibt. Ein internationales Scan-Projekt, das sich keiner Fraktion zugehörig fühlt, hat begonnen, die (schlecht lesbaren) Seiten der Zeitschrift im Bildformat ins Netz zu stellen - um sich nicht den Vorwurf einzuhandeln, Texte zu verfälschen. Ein Blick auf die Website zeigt, das auch dies nicht so recht vorangeht.


Andrea Gabler:
Antizipierte Autonomie. Zur Theorie und Praxis der Gruppe "Socialisme ou Barbarie" (1949-1967)
Offizin-Verlag Hannover 2008, 294 Seiten, 28,80 Euro

Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, Germinal-Verlag

http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/zeitschriften/id=8


Randnotizen

Johnson-Forest-Tendency:
unter den Decknamen ihrer Haupttheoretiker C.L.R. James und Raya Dunayevskaya bekannte Fraktion innerhalb der trotzkistischen SWP. Später gab sich die Gruppe den Namen Correspondence. Wegweisend waren ihre Aktivitäten gemeinsam mit schwarzen Automobilarbeitern in Detroit.

Ausführlich dazu: Loren Goldner auf:
http://home.earthlink.net/~lrgoldner/johnson.html

Der Text von Lefort ist endlich ins Deutsche übersetzt worden. Er wird zusammen mit The American Worker dieses Jahr in der Reihe Dissidenten der Arbeiterbewegung beim Unrast-Verlag erscheinen. Auf der Website der Freunde der klassenlosen Gesellschaft ist der Lefort-Text nachzulesen: www.klassenlos.tk/data/pdf/lefort.pdf

Robert Linhart:
Eingespannt. Erzählung aus dem Innern des Motors. Verlag Volk und Welt Berlin 1980 bzw. Klaus Wagenbach Verlag Berlin, 1976

Siehe hierzu den Artikel Renaissance des Operaismus in: wildcat 64, März 1995.
http://www.wildcat-www.de/wildcat/64/w64opera.htm

Scan-Projekt: http://soubscan.org/

Raute

"Unsolidität ist Kern des kapitalistischen Geschäfts als solches"

Winfried Wolf: Sieben Krisen - ein Crash,
Wien 2009 (Promedia-Verlag), 252 Seiten, 17,90 €


Bereits 1977 hat WW zusammen mit Ernest Mandel ein Buch zur Krise veröffentlicht: "Ende der Krise oder Krise ohne Ende?". Wiederum mit Mandel 1989 "Cash, Crash, Crisis", dann 1997 "CasinoCapital" und 2003 "Sturzflug in die Krise". Seit Ausbruch der aktuellen Krise hat WW viele griffige Vorträge zum Thema gehalten und Artikel publiziert. Von seinem Buch konnte man also vertiefende Synthese des bisher Vorgetragenen und souveränen historischen Überblick erwarten. Das wird aber leider nicht geliefert; stattdessen hat WW seine Vorträge und Artikel im Buch zweitverwertet. Es besteht aus zehn Kapiteln, die ich im folgenden kurz zusammenfasse.


Kapitel 1
Jahrhundertkrise, Sonnenflecken und Gier

WW wehrt sich gegen Naturmetaphern (die Krise sei "wie ein Tsunami hereingebrochen" u.ä.), diese sollten lediglich das Versagen der Wirtschaftswissenschaften verdecken, denen er einen "Verlust eines wirtschaftshistorischen Bewusstseins" attestiert. Er geißelt zwei Arten von "bürgerlicher Interpretation" der Krise: psychologische Erklärungen ("Angst vor Verlust" und dergleichen) und Erklärungen, die im Verhalten der ArbeiterInnen eine Krisenursache sehen (Edmund Phelps z.B. "die Arbeitseinstellung der Beschäftigten müsse sich grundlegend ändern"). Die schlechten Krisenvorhersagen erklärt er mit den "ökonomischen Interessen" der Sachverständigen (auch hier stützt er sich wieder auf ein Zitat!). Nachdem er drei "einflussreiche bürgerliche Ökonomen" positiv hervorgehoben hat, kommt er im letzten Abschnitt zu seiner eigenen Analyse. Sie ergänzt und widerspricht der soeben dargestellten "Analyse der weitsichtigeren bürgerlichen Ökonomen". Die Ergänzung besteht darin, dass WW von "sieben Krisen" ausgeht; wovon vier auch bei den "klügeren bürgerlichen Ökonomen auftauchen" ("realwirtschaftliche Rezession", "Strukturkrise der Schlüsselbranchen", "Finanzkrise" und "Verteilungskrise"). Dem fügt er drei weitere "Krisen" hinzu, die der "imperialen Hegemonie", die "Nord-Süd- oder Hungerkrise" und die "Umwelt-, Energie- und Klimakrise". In dieser Aufzählung wird klar, dass er quasi alle Missstände als Krisen fasst. Falls er den Anspruch hatte, diese Missstände gleichzeitig als Krise des Kapitals darzustellen, ist es ihm nicht gelungen. Genauso wenig lassen sich Hinweise finden, welchen Zusammenhang er zwischen den "sieben Krisen" sieht. In einem Artikel in der Jungen Welt vom Oktober 2009 sieht er eine zeitliche Aufeinanderfolge: "Seit 2007 durchlief die weltweite Krise unterschiedliche Etappen, einem Schwelbrand gleich, der sich durch das gesamte Gebälk der Weltökonomie frißt. Nach der Hypothekenkrise, der Bankenkrise und der realwirtschaftlichen Krise scheint nun die Phase der Hegemoniekrise angebrochen zu sein." (jW 19.10.2009) Er beendet das Kapitel mit einem halbseitigen Zitat aus dem Kommunistischen Manifest von 1848, um zu beweisen, dass "wir" das schon immer gewusst haben, was da 2007 für eine Weltwirtschaftskrise ausbrechen wird.


Nicht viel aufschlussreicher ist das Kapitel 2
Die Krise der Realwirtschaft

Wir erfahren auf Seite 22: "Die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise ist in erster Linie eine Krise der materiellen Produktion." In der Triade brach die Produktion 2009 um vier Prozent ein. "Vergleichbare absolute Rückgänge der materiellen Produktion gab es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht... die Dramatik der aktuellen Krise [ist] größer als das, was die gegenwärtig aktive Generation bereits erlebte." (S.23) Infolge der (von ihm behaupteten) regelmäßigen Zyklizität kapitalistischer Krisen stellt sich die Frage, warum es in der "Sonderperiode" von 1955 bis 1975 keine Krisen gab; die "Erklärung" geht so: Überausbeutung u.a. durch überlange Arbeitszeiten; starke Gewerkschaften sorgten für kürzere Arbeitszeiten, mehr Urlaub und steigende Löhne; die Systemkonkurrenz zu den "nichtkapitalistischen Ländern" (ebenda). Wir merken uns, dass WW China und die Sowjetunion für nichtkapitalistische Länder hält.


In Kapitel 3 behandelt WW die Krise der
IT-Branche und Autoindustrie.

Trotz der Überproduktionskrise baut die Autoindustrie weitere Kapazitäten auf. Im weltweiten Konzentrationsprozess werden durch den "zu erwartenden Produktivitätsschub ... deutlich mehr als eine Million Arbeitsplätze direkt in der internationalen Automobilindustrie und mehr als 150.000 Arbeitsplätze in der deutschen Branche" (S. 59f.) abgebaut werden. - Beide Branchen hängen am Tropf staatlicher Subventionen.


Im Kapitel 4
Verteilungskrise - Oder: Arm macht reich

haben wir es mit in "marxistische" Terminologie verpacktem, übelstem Keynesianismus zu tun. Zunächst wird seitenlang eine scharfe Auseinandersetzung darum geführt, ob wir es nun mit einer Unterkonsumtions- oder einer Überproduktionskrise zu tun haben. WW geht dabei so weit, die Arbeiterklasse als antagonistischen Widerspruch zum Kapital zu bezeichnen, denn "Löhne und Gehälter sind Kostenfaktor und Konsumfaktor zugleich." (S. 68) Die große Gefahr liege darin, dass die herrschende Klasse das nicht versteht und durch Lohndrückerei und Steigerung der Produktivität, also "Klassenkampf von oben" sich selber "erheblichen ökonomischen Schaden" zufügt. Das Kapitel endet wiederum mit einem beinahe halbseitigen Zitat, diesmal von Jörg Huffschmidt, demzufolge die Krisenursache im Absenken der Masseneinkommen zu suchen ist. Die zurückbleibende Massenkaufkraft spiele "die entscheidende Rolle als Krisenfaktor". (S.78)


Kapitel 5
Finanzkrise01

trägt den Untertitel "Weltjude, Ostküste und Casino global" und dementsprechend wirr geht's auch los. Zunächst rechnet WW vor, dass die Verluste der US-Banken 200mal so groß waren wie das, was der einzelne Betrüger Madoff angerichtet hat. WW gefällt sich sodann in präzisen Sätzen wie "Unsolidität ist Kern des kapitalistischen Geschäfts als solches." (S.81)

Im weiteren behandelt er die Blase im US-Immobiliensektor und die Immobilienkrise in Europa, sowie die "Ausweitung des Finanzsektors und des Kredits" und erklärt auf mehreren Seiten die "Gefährlichkeit" des "Schattenbankenwesens" (wenig Kontrolle und Regulierung, gewaltige Kapitalmassen). WW betont zwar immer wieder, die Krisenursache liege "in der Realwirtschaft", in Wirklichkeit scheint er aber in den verschiedenen "Auswüchsen des Casinokapitalismus" die eigentlichen Krisenursachen zu sehen.


Kapitel 6
Finanzkrise02

ist mit Abstand das beste Kapitel im Buch. Die fünf Wochen zwischen dem 13./14. September und dem 18./19. Oktober bezeichnet WW als "ersten Kulminationspunkt der Finanzkrise". "In diesen Wochen folgten weitreichende politisch-ökonomische Umstrukturierungen. Michael Hudson, ein US-amerikanischer Ökonom, geht sogar davon aus, dass sich in diesen Wochen die Form der politischen Herrschaft im Kapitalismus geändert hätte, dass es eine Art Putsch des Finanzkapitals gab." (S. 100) (Wie immer: die eigentliche These wird nicht selbst vertreten, sondern an ein Zitat delegiert.) WW stellt dar, wie alle Regierungen im Herbst 2008 "Getriebene" waren. Man fürchtete einen bank run, dem man nichts entgegensetzen könnte. Deshalb überboten sich die Regierungen gegenseitig mit Bankenrettungsprogrammen - dieselben Regierungen, die Wochen und teilweise sogar Tage zuvor noch vor solchen Programmen massivst gewarnt hatten.

Die Rettung von AIG und Fannie Mae auf der einen Seite, das Pleitegehen lassen von Lehman Brothers auf der anderen, fasst WW als "Doppelschlag". "Die großen Entscheidungen fielen an dem Wochenende, das ... der Lehman-Pleite vorausging. Dabei kommt der Krise des weltweit größten Versicherungskonzerns AIG und der gewaltigen staatlichen Auffangaktion für dieses Institut, die am selben Wochenende stattfanden, eine mindestens ebenso große Bedeutung zu wie dem Lehman-Crash." (S. 107f.) Die Lehman-Pleite war das dringend notwendige Signal an die Finanzwelt, dass nicht alle und jeder gerettet wird. Auf den folgenden Seiten gelingt es WW sehr überzeugend, die strategische Komponente dieses "Großdeals", jenseits der allgemein herausgestellten Interessensüberschneidungen herauszuarbeiten. Demnach war die Rettung der AIG vor allem eine Rettung von Goldman Sachs, Deutscher Bank, Societe Generale (Frankreich), Barclays (GB) und UBS (Schweiz); insgesamt wurden bis zum Dezember 2008 56,7 Mrd. Dollar an europäische Banken "durchgereicht". Nach diesem Paukenschlag war die Messe gelesen, und man konnte von den Einzelfallrettungen zu den Bankenrettungsprogrammen übergehen, die zugleich der Neustrukturierung der Banken dienen (Konzentrationsprozess, "politisch gewollte Fusionen"). WW resümiert: "Wie immer man die Vorgänge ... im September und Oktober 2008 im Einzelnen bewertet - in jedem Fall wurde mit ihnen der durch die Krise zunächst erschütterte Finanzsektor massiv gestärkt. Ende Oktober 2008 ­... konnte man förmlich das Hohngelächter... das schallende Schenkelklatschen und das Knallen der Champagnerflaschenkorken in den Chefetagen der Finanzzentren hören." (S. 122f.) Die nächsten drei Kapitel sind so dünn, dass ich sie jeweils sehr knapp zusammenfasse:


Kapitel 7
Die Nord-Süd-Krise

WW listet die Folgen der Globalisierung auf: Hunger, ungleiche Entwicklung, Zerstörung der Subsistenzwirtschaften usw. Er erzählt nichts, was man nicht schon viele Male (und genauer!) an anderer Stelle lesen konnte - mit einer Ausnahme: in den beiden Schlussabschnitten beleuchtet er den "neuen Kolonialismus", der sich mit den seit Frühjahr 2009 massiv ansteigenden Landnahme-Deals weltweit ausbreitet.


Im Kapitel 8
Die Umwelt- und Klimakrise

wird's arg! WW behandelt die ökologischen Konsequenzen der anwachsenden globalen Transportströme, den Klimawandel usw. - greift dabei aber wahllos auf "Vorläufer" wie Meadows ("Grenzen des Wachstums") und "peak oil"-Vertreter zurück, ohne deren Voraussetzungen und Aussagen kritisch zu hinterfragen. Wiederum wird nicht deutlich, worin eigentlich die "Krise" der dargestellten Missstände bestehen soll - deutlicher wird leider, dass WW sich letztlich als Politikberater sieht.


Im Kapitel 9
Die Hegemoniekrise

steht zunächst wieder die "nichtkapitalistische Welt" im Zentrum seiner Überlegungen: "Bis Ende 1989 war das bestehende Modell der Weltherrschaft mit den USA als Hegemon in erheblichem Maß durch die Existenz eines gewaltigen nichtkapitalistischen Blocks mit den zwei Zentren Sowjetunion und VR China geprägt..." (S. 165) Er geht auf die "Erosion der US-Hegemonie" und die Herausbildung von Chimerica ein und kommt in den letzten beiden Abschnitten auf China und die USA zu sprechen. Die Situation Ende 2008 in China malt er in überraschend dramatischen Farben: "kurz vor dem Kollaps", "BIP-Wachstum halbiert", "industrielle Produktion kollabiert", "Arbeitslosigkeit schnellte nach oben", "soziale Unruhen, Fabrikbesetzungen, Geiselhaft für Manager, Verwüstungen von Anlagen", um die Entwicklung seit Einsetzen des Konjunkturprogramms dann umso rosiger zu malen: "Die Wende kam mit Keynes." (S. 178) China wird als Beleg dafür genommen, dass eine keynesianische Politik die Krise lösen kann, obwohl WW zwei Probleme anmerkt: die krassen ökologischen Konsequenzen des chinesischen "Weiter so!" und die Gefahr einer Blase.


Etwa in der Mitte des Kapitels 10
It's the profit, stupid

wird das Versprechen der Überschrift eingelöst, und wir erfahren, dass es sich um eine "Krise des Profits" handelt (man fragt sich, warum man sich zu Beginn des Buches so ausführlich damit beschäftigen musste, ob das nun eine Unterkonsumtions- oder Überproduktionskrise sei). Er verweist auf die tendenziell fallende Profitrate aufgrund der hohen organischen Zusammensetzung. Laut Statistischem Bundesamt habe sich die 'Kapitalausstattung je Erwerbstätigen' in der BRD von 1970 bis 2005 'verdoppelt'. "Berücksichtigt man den Rückgang der Arbeitsstunden je Erwerbstätigen, dann ist der Anstieg der Kapitalintensität noch deutlich größer." (S. 189) - bzw. würde die Bedeutung der Arbeitszeitverlängerung als "entgegenwirkende Ursache" deutlich!

Im letzten Abschnitt "Wir zahlen nicht für eure Krise" stellt WW ein Programm auf, das "an den aktuellen Erscheinungen der Krise und am Bewusstsein der Menschen anknüpft und zugleich perspektivisch auf eine andere Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung orientiert." (S. 199) Der Bankensektor müsse verstaatlicht, die Wochenarbeitszeit auf 30 Stunden bei vollem Lohn- und Personalausgleich abgesenkt und die "gesamte Wirtschaft" umgestaltet und neu ausgerichtet werden. Der dritte ist kompatibel zu Bundestagsanfragen (Investitionen in Bildung und Kinder, "Energiewende", "Verkehrswende" und "Millionen neuer Arbeitsplätze"). Den zweiten Punkt begründet er explizit defensiv und volkswirtschaftlich: "Vor allem würde nur eine deutliche Reduktion der Arbeitszeit einen Schutz gegen den absehbaren starken Anstieg der Massenarbeitslosigkeit mit allen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen darstellen." (S. 201)

Dass sein Buch mit dem Satz endet "Es ist das kapitalistische System selbst, das die Systemfrage auf die Tagesordnung setzt" (S. 205), wundert uns nicht, denn wir erinnern uns, dass er China und die Sowjetunion für nicht-kapitalistisch hält.

Die Kapitel sind unklar gegliedert, so dass das Lesevergnügen bereits durch ständige Hin- und Her-Verweise arg beeinträchtigt wird. Die Argumente werden nicht vertieft, das wird mit vielen Querverweisen lediglich immer wieder versprochen, das Buch ist voller Wiederholungen. Die Kapitel oft mit einem Zitat enden zu lassen, ist eine Unart des Autors, wichtige Schlussfolgerungen nicht selbst zu vertreten, sondern zu delegieren.

Raute

Buchbesprechung

"Selbstunternehmerische Selbstaktivierung"

In manchen Büchern werden Krise und Gegenstrategien so griffig dargestellt, als bewerbe sich der Autor um das Amt des Wirtschaftsministers - da tut es ein paar Sätze lang gut, Detlef Hartmann zu lesen. Seine cluster bomb zerstört die Floskeln vom "Lebenslangen Lernen", der Work-Life-Balance oder Exzellenz-Initiative. Genauso hart nimmt er die linke Literatur über Subjektivierung der Arbeit und "Gouvernementalität" auseinander oder den Diskurs über "globale Rechte": hier macht er die "Grenzträger der neuen kapitalistischen Offensive" (253/Essay) aus.

Hartmann hat sich meterweise durch Unternehmensberater-Literatur gefressen und schreit nun seinen Hass heraus. Er drischt auf die Eliten ein, dass es eine Freude ist, besonders auf die vorgeblich "linken" Sozialwissenschaftler. Grüne, Reformisten, Linkspartei, usw. ­... alle kriegen ihr Fett ab. Zum größten Gegner geraten die "marxorthodoxen Eliten", die er alle im Verdacht hat, ein reformistisches Arbeitsregime zu errichten. Dabei hat immer er die Bewertungshoheit: warum er Foucault als Revolutionär bezeichnet, Negri schon Faschist genannt hat, ist in seinem Furor nicht nachvollziehbar und letztlich zufällig. Es gibt nur ein Muster: besonders hart geht er diejenigen an, die ihm einmal besonders nahe waren.

Als die Materialien-Gruppe vor knapp fünf Jahren ihre Thesen zum ersten Mal auf dem BUKO in Berlin vorstellte, warteten wir gespannt auf das Buch, das sich mit einem realen Ort der Kapitalverwertung beschäftigen würde - die Region rund um Wolfsburg, die sich die wildcat 1985 schon mal mit bescheidenen Werkzeugen vorgenommen hatte.

Das Buch Cluster erschien 2008, mitten in der Entfaltung der Weltwirtschaftskrise. Im Buch findet sie aber noch keine Erwähnung, dies geschah erst im Essay Revolutionäre Subjektivität, die Grenze des Kapitalismus im Sammelband Über Marx hinaus im Oktober 2009. Nachdem wir Cluster anfangs als "unbesprechbar" zur Seite gelegt hatten, wollen wir angesichts der Neuerscheinung einen neuen Anlauf versuchen.

In Cluster entdeckt Hartmann eine "neue Etappe des Kapitalismus": Der Fordismus/Taylorismus sei mit den Kämpfen 1968ff weltweit in die Krise geraten, weshalb der Kapitalismus in den Postfordismus überwechselt, in dem nicht mehr nur die Produktion für die Verwertung eine Rolle spielt, sondern die Subjektivität eines jeden Einzelnen. Der Kapitalismus bläst zum umfassenden Zugriff auf die Ressource "Selbst". Er pflanzt die Idee des "Selbstunternehmertums" in die Subjekte ein. Diese Zurichtung hatte mit den Gruppenarbeitsprojekten in der Fabrik begonnen und wird nun auf die gesamte Gesellschaft (Bildung, Sozialwesen, Krieg) ausgeweitet. Die Agenda 2010 und insbesondere Hartz IV haben die "Selbstaktivierung" eines jeden Subjekts zum Ziel. Ein Miljö, in dem man sich in die Verhältnisse einrichten konnte, gibt es nicht mehr.

Der postfordistische Kapitalismus organisiert sich in Clustern - regionalen Zusammenschlüssen von kommunalen Einrichtungen der Bildung, staatlicher und privater Versorgung und Infrastruktur, Wohnungsbau und Freizeitgestaltung - alles ausgerichtet auf global operierende Kapitalakteure im Zentrum des Clusters. Hartmann definiert die Cluster-Strategie als Inbegriff einer Dynamik, die die Drohungen mit Existenzvernichtung und letztlich mit dem Tod in Zwänge der "selbstunternehmerischen Selbstaktivierung" als umfangreiche Quelle des Werts umsetzt und darin das kapitalistische Kommando erneuert. (Cluster, S.24) Die Personifizierung dieser Kapitalstrategie ist die Unternehmensberatungsfirma McKinsey bzw. ihre 9000 weltweit tätigen BeraterInnen.


"Algorithmus" heißt jetzt Cluster.

Mitte der achtziger Jahre sind Teile der Linken auf den sogenannten "Postfordismus" abgefahren: auf der einen Seite Negri, der im Benetton-Modell die immaterielle Arbeit der Mode-Designer zum Kern der neuen Mehrwertproduktion stilisierte, auf der anderen Piore/Sabel, die die Industriedistrikte in der Emilia Romagna abfeierten. Jetzt, da diese Modelle dramatisch gescheitert sind: Gruppenarbeit ist out, das Veneto-Modell am Ende, kommt im Frühjahr 2008 ein Buch, das in den Clustern eine "neue Etappe des Kapitalismus" sieht.

Diese "Zeitlosigkeit" fällt Hartmann gar nicht auf - weil er sich immer nur an den Planern abarbeitet und weil er immer das gleiche sagt: Der Kapitalismus ist gerade jetzt in einer Phase schöpferischer Zerstörung und bereitet gerade jetzt einen neuen Take-off vor. Die Krise ist nichts weiter als eine Stockung der historischen Offensive mit der Chance zum "Auftakt einer neuen Welle 'schöpferischer Zerstörung'". Dies mag manchmal zutreffen, aber eben nicht immer.

Der schumpetersche Begriff der "schöpferischen Zerstörung" zieht sich durch das gesamte Buch, manchmal kommt er zweimal auf einer Seite vor. Vor 30 Jahren benutzte Hartmann ähnlich inflationär den "Algorithmus" (z.B. in Leben als Sabotage) zur Demaskierung des Schweinesystems.

Im Grunde geht Hartmann ähnlich wie Negri vor - nur umgekehrt: während bei diesem immer die "Subjekte" im Angriff sind, die Multitude schon das ganze System unterhöhlt hat, hält Hartmann zwar den Antagonismus hoch, er kann aber nirgends zeigen, wo dieses Selbst, das sich der Inwertsetzung widersetzt, irgendwo Terrain erobert - oder die Entwicklung bestimmt. Denn das Kapital lässt ihm ja mit der Cluster-Strategie keinerlei Rückzugsraum mehr.

Während es bei Negri kein "Außen" mehr gibt - das produktive Geflecht in Venetien hat er schon mal als verwirklichten Kommunismus bezeichnet - liegt bei Hartmann die Hoffnung immer in einem Außerhalb, das sich dem Zugriff widersetzt, auch wenn es tief im Innern des Einzelnen liegt.

Zu Beginn des Essays warnt er ausdrücklich (und mit Bezug auf Marx) vor einer unhistorischen Verwendung von Begriffen oder Kategorien. Aber die historische Zuordnung erreicht man nicht, indem man eine Abfolge historischer Phasen erfindet. Was ist an der Arbeitsorganisation bei Gate Gourmet "postfordistisch"? Ist Auto 5000 eine postfordistische Fabrik? Auch hier gibt es Parallelen zu Negri: Fordismus war gestern, heute haben wir Postfordismus.

In der Beschreibung der Unterwerfungstrategien steigert Hartmann die Wortgewalt, bis es eklig wird: die "Selbsteinspeisung" ins System. Ich speise meine Energie, mich selbst ins Leitungsnetz des feindlichen Systems - und das auch noch freiwillig oder lustvoll. Was will man mit solchen Begriffen aussagen? Du hast nur die Alternative: Mitmachen oder Sabotage? Mensch oder Schwein.


"Strategien des sozialen Zugriffs"

Im Essay verwirft Hartmann jeden Bezug auf Empirie als "objektive" Datenerhebung oder Beschreibung: Erkenntnis sei nur als handelndes Erkennen möglich, d.h. an Kämpfe gebunden. So haben das auch immer die Aktivisten einer "militanten Untersuchung" gesehen, die nur als kollektives Projekt möglich ist. Hartmann landet aber in einer zuweilen schmerzhaften Selbststilisierung - bei sich selbst als Ausgangspunkt: bei seinen "eigenen Erfahrungen in Kämpfen des neuen Zyklus". (S.220/Essay)

Trotzdem versucht Gerald Geppert im zweiten Teil des Buches eine "empirische" Darstellung der Umsetzung der Cluster-Strategie in der Region Wolfsburg-Salzgitter. Hier arbeitet er sich in weiten Stücken an offiziellen Veröffentlichungen ab, sein Text liest sich zuweilen wie aus dem Werbeprospekt. Interessant hingegen ist seine kurze Zusammenfassung der Geschichte der Regionalplanung, deren Exponent Cristaller sich 1933 in den Dienst der Nazis gestellt hat, um seine Visionen umzusetzen. In der strukturschwachen Region Südostniedersachsen sollte ein Industriekomplex mit einer Fabrikstadt entstehen. Der Aufbaus des VW-Werks geschah unter Leitung der DAF mit Mitteln aus dem beschlagnahmten Gewerkschaftsvermögen. Facharbeiter mussten von außerhalb angeworben werden. Interessant ist, dass von Anfang der Anteil der ausländischen ArbeiterInnen den der ansässigen übertraf: zunächst waren sie freiwillig gekommen, später als Kriegsgefangene und ZwangsarbeiterInnen. Nachdem wir das ganze Buch über gelesen haben, dass Cluster der Übergang vom Fordismus zum Postfordismus sind, sehen wir in der historischen Betrachtung, dass es die Errichtung der fordistischen Fabrik war.

In der Autokrise Anfang der 90er Jahre wurde Hartz bei VW zum Arbeitsdirektor, der die neuen Strategien zur Umgestaltung der Region zum "Cluster" einleitete, was Geppert als "zweite Erfindung Wolfsburgs" bezeichnet (S.188/Cluster).

VW war (und ist?) ein Vorreiter von neuen Ausbeutungsversuchen, die teilweise gescheitert sind (Halle 54 - voll roboterisierte Produktion), aber auch erfolgreich waren (Flexibilisierung der Arbeitszeiten durch Arbeitszeitverkürzung und Spaltung von Belegschaften durch niedrigere Einstiegstarife). Auto 5000 reiht sich in diese Versuche ein. Für Geppert ist Auto 5000 aber einfach ein erfolgreiches Modell für die Durchsetzung der postfordistischen Strategie zur Unterwerfung. Er hat darüber mit keinem einzigen Arbeiter von Auto 5000 gesprochen, sondern bezieht sich nur auf Studien des SOFI, das den Versuch Auto 5000 wissenschaftlich begleitet hat. Auch sprachlich kann sich der Autor nicht von den Industriesoziologen lösen, diese paraphrasierend fängt er selbst an, über "das regionale Human- und Sozialkapital" zu schreiben ohne Gänsefüßchen!


Die "sich entfaltenden Kämpfe des neuen Jahrhunderts"

In Buch und Essay werden zwar ständig "Kämpfe" hochgehalten - sie werden aber nur gestreift und eingebaut, nie konkret untersucht. Die Folge ist, dass tatsächlich stattfindende Kämpfe überhöht dargestellt werden. Als glorreiches Beispiel für Widerstand gegen den postfordistischen Kapitalismus wird wiederholt der Gate-Gourmet-Streik ins Feld geführt: Es ging immerhin gegen McKinsey. Tatsächlich führt diese Überhöhung zur Degradierung des Streiks. In dem er per se für revolutionär erklärt wird, findet eine für andere Kämpfe produktive Auseinandersetzung um seine Schwächen und Beschränkungen nicht statt. (Im Essay wird wenigstens erwähnt, dass die Streikenden ihre Ziele nicht erreichten.) Genauso ist der Umgang mit den "Zahltag-Initiativen", die zum "postfordistischen Widerstand" erklärt werden. Die realen Probleme, über eine pressewirksame Kampagne hinaus zu einer Selbstmobilisierung der Betroffenen zu kommen, interessieren nicht.

Gänzlich verschlossen bleibt uns, was für Hartmann eigentlich "Wert" ist, da er ja von einem Zusammenhang zwischen Arbeit und Wert nichts wissen will. Im Vorwort von E.J. und D.V. heißt es lapidar: "Sicher ist auch, dass der klassische Begriff des Arbeitswerts seine analytische Potenz weitgehend eingebüßt hat ... Der Begriff der Arbeit verschwimmt und mit ihm der der Arbeiterklasse" (S.12/Cluster). Die "Waren", die produziert werden, scheinen sämtlich immaterieller Natur zu sein. Ist "Wert" ein Maß für Unterwerfung? Für die Macht des Kapitals? Wie kann "in den qualitativen Zugriffstrategien auf das Subjekt" "Wert generiert" werden? Oder wie sind Sätze wie folgende zu verstehen: "Zentral ist der soziale Antagonismus, die Kämpfe, in denen sich wertschöpfende Unterwerfung von Subjektivität und Selbstbehauptung begegnen und dann auch in Wertrelationen ausdrücken"? (S.26/Cluster) Aber wenn "alle gesellschaftlichen Bereiche wertrelevant sind, da das Kapital seine wertschöpfenden Unterwerfungsstrategien in alle gesellschaftlichen Bereiche hineintreibt", dann ist es letztlich egal, ob und wo Wert produziert wird.

In der Zeitschrift Grundrisse hat Karl Reitter in seiner ansonsten wohlwollenden Kritik dazu schön angemerkt, dass "die Cluster-Strategie sich auch objektiv rechnen muss" für die Unternehmen. Und dass Hartmann die aktuellen Probleme der Kapitalverwertung auf dieser Ebene völlig aus dem Blick geraten.

Vielleicht kann das Buch mit seinen Beschreibungen von "Eingliederungsvereinbarungen" mit der Arbeitsagentur oder "Zielvereinbarungen", in denen Angestellte eine "Selbstverpflichtung" zur Mehrleistung abgeben müssen, an die Lebensrealität der linken Szene andocken. Gelesen und gelobt wurde das Buch besonders von Leuten, die sich an jener Schwelle zu befinden scheinen, auf der sie sich für eine Seite der Barrikade entscheiden müssen: den künftigen Eliten der "Wissensgesellschaft".

Die Angestellten bei Siemens oder IBM mussten schon in den 60er Jahren enorme Anpassungsleistungen vollbringen und auch im Privatleben die Firma repräsentieren. Die "innere Kündigung" war der individuelle Rückzug innerhalb einer Unternehmensbürokratie, der sie bis zur Rente dienten, ohne noch einen Sinn darin zu sehen. Ist der Grund für die heute abgeforderten Unterwerfungsrituale nicht ganz banal, dass die Arbeit gerade von höheren Angestellten schwer zu kontrollieren ist?

An welchen unerfüllten Bedürfnissen McKinsey andocken kann - darauf geht das Buch leider nicht ein. Auch nicht, wie es kommt, dass Leute das Spiel nicht (mehr) mitspielen - oder nur zum Schein mitspielen. Woher kommt die Widerständigkeit, die dem Kapital immer wieder Grenzen setzt? Bei Hartmann scheint sie fast eine anthropologische Grundkonstante zu sein. Auch die "revolutionäre Subjektivität" taucht aus dem Nichts auf. Im Gegensatz zu den Eliten bleiben die widerständigen Subjekte erschreckend gesichtslos.

Die Verweigerung dieser Selbstaktivierung, Selbsteinspeisung, das existenzialistische Sichaufbäumen des Subjekts ist die letzte Auffanglinie. Der Widerspruch wächst in einen selbst hinein und die Grenzen der kapitalistischen Verwertung wechseln in die "revolutionäre Subjektivität". Nicht kollektive Kämpfe, sondern das Verhalten des einzelnen Subjekts, addiert zur Massenhaftigkeit, das ist bei Hartmann Klassenkampf oder die "Sicht der entfalteten Kämpfe" (S.250/Essay). Die Depression oder das "Burn-Out" bezeichnet er als die modernen Zeichen von Widerstand - man spiele das Spiel nicht mit. Krankheit ist die Einheit von Protest und der Hemmung von Protest - sagte das Sozialistisches Patientenkollektiv. Hartmann scheint eher bei makabren Interpretationen Zuflucht zu suchen, wie wir sie kürzlich auf einer Diskussionsveranstaltung aus dem Munde eines "Kulturschaffenden" hörten, der seine Zunft als "Avantgarde" bezeichnete, da sie besonders von der Krankheit Depression betroffen sei.

Selbst wenn das Essay nur "ein äußerst vorläufiges Vorhaben" ist, "die Wirklichkeit bis in ihre globalen Konfliktfelder zu erschließen (S.220/Essay), bleibt nach all den Gewaltphantasien der Schluss schwach: global bleibt die Hoffnung auf nicht näher definierte "Kämpfe in den drei Kontinenten", für hier die "innere Kündigung".

So hat sich unsere anfängliche Hoffnung leider nicht erfüllt. Im Buch wird ein Planungsprojekt beschrieben, nicht die Wirklichkeit seiner Durchsetzung.

Dann bin ich also bis auf weiteres mit meinem Problem allein gelassen: Bin auf Kurzarbeit Null gesetzt, muss nicht arbeiten, was ganz angenehm ist - aber das Geld wird knapp. Geh ich halt für zehn Euro Schnee schippen in der Nachbarschaft. Was mache ich da: aktiviere ich mich selbstunternehmerisch (S. 235) oder bin ich schon in der "moralischen Ökonomie" (S. 100) angelangt?


Detlef Hartmann / Gerald Geppert
Cluster - Die neue Etappe des Kapitalismus.
Materialien für einen neuen Antiimperialismus

Heft 8 Assoziation A / 2008
ISBN 978-3-935936-62-0 / 224 Seiten 114 Euro

Detlef Hartmann
"Revolutionäre Subjektivität, die Grenze des Kapitalismus", in: van der Linden / Roth (Hrsg.)
Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen
Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts,

Mitarbeit Max Henninger, ISBN 978-3-935936-80-4, Assoziation A 2009, 608 Seiten, 29.80 Euro


Randnotizen

Siehe wildcat 74:
Das Ende eines Modells? Italiens Nordosten in der Krise.

Artikel zu Auto 5000 in: wildcat 71, 79, 80

Flying Pickets
Auf den Geschmack gekommen. Sechs Monate Streik bei Gate Gourmet Berlin/Hamburg: Assoziation A (2006)

Zum Gate-Gourmet-Streik siehe wildcat 75 + 76; Buchbesprechung in wildcat 79;

Assoziationen aus Helmut Höges Blog auf der taz-website (http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2008/11/04/zusammengeknallte_cluster/)

Bei all diesen Cluster-Bildungen wundert es nicht, dass das Ekelwort "Cluster" inzwischen auch in der Unterschicht Karriere gemacht hat. Im Umkreis der Neuköllner Galerie im Saalbau, Karl-Marx-Straße, wo sich die Ausstellung "Le Grand Magasin" befindet, hört man immer wieder Sätze wie diese:

"Du bist doch wohl völlig beclustert!" "Ich cluster dir gleich eine!" "Geh mir nicht auf den Cluster!" "Den haben sie doch voll abgeclustert!" (mit "sie" ist in diesem Fall die dortige Agentur für Arbeit gemeint) "Wenn du keine Ruhe gibst, stecken wir dich in ein Cluster - ehrlich!" (ein bayrisches Ehepaar zu ihrer Tochter)

"Die Sonnenallee ist eben ein heißes Cluster!" (ein Palästinenserjunge zu einem anderen - im Ghazastreifen der Sonnenallee) "Wir müssen uns wohl oder übel verclustern!" und "Spätestens die Finanzkrise ist aller Cluster Anfang!" (zwei Handyshop-Besitzer in der Karl-Marx-Straße im Gespräch) "Der hat doch nicht mehr alle Cluster im Schrank!" (ein Polizist über den Neuköllner Bürgermeister) "Ach, das ist doch nur ein sozialdemokratisches Trostcluster!" (ein anderer Polizist über den Neuköllner Bürgermeister und seine Taskforce)

Raute

Südafrika: Der ANC greift die Bewegungen der Barackenbewohner an

von Curtis Price

Am 26. September 2009 griffen in Durban, der zweitgrößten Stadt der RSA, 40 Bewaffnete die informelle Barackensiedlung Kennedy Road an, töteten zwei Bewohner, vertrieben über tausend weitere und zündeten Hütten an. Nach Morddrohungen leben führende Mitglieder der AbM jetzt im Untergrund. Am 26. September 2009 griffen in Durban, der zweitgrößten Stadt der RSA, 40 Bewaffnete die informelle Barackengemeinschaft Kennedy Road an, töteten zwei Bewohner, vertrieben über eintausend und zündeten Hütten an. Nach Morddrohungen leben führende Mitglieder der AbM jetzt im Untergrund.


Der Angriff war von örtlichen und regionalen Führern des ANC organisiert worden, mit Unterstützung durch die örtliche Polizei. Diese verhaftete nicht die Angreifer vom ANC, sondern dreizehn Mitglieder des Kennedy-Road-Siedlungskomitees, des örtlichen Zweigs der AbM. Einer wurde freigelassen, sieben auf Kaution entlassen, fünf sitzen noch ein. Zu den Gerichtsterminen mobilisierten lokale Mitglieder des ANC gegen eine Freilassung auf Kaution und bedrohten die AbM-Unterstützer im Gerichtsgebäude.(1)

Diese Angriffe haben ihre Wurzeln in den Jahren nach dem Zusammenbruch der Apartheid, in den seit 1994 immer häufiger gebrochenen Versprechen und zerstörten Hoffnungen, der Desillusionierung über persönliche Bereicherung und Korruption und im "großen Ausverkauf" des ANC. Unter der Apartheid war der ANC, was seine Endziele anging, immer schwammig geblieben. Großteils wegen der unausgesprochenen Arbeitsteilung in der Allianz von ANC und südafrikanischer KP, die das Rückgrat des Kampfs gegen die Apartheid bildete. Die südafrikanische Revolution sollte sich in zwei Phasen entfalten. Der ANC sollte die "demokratische" Revolution gegen die Apartheid führen, und die KPSA würde dann einschreiten und die Revolution zum Sozialismus führen.

Doch 1996 beschloss der ANC statt der erwarteten keynesianischen Politik das vom IWF vermittelte GEAR-Programm für Wachstum, Beschäftigung und Umverteilung, obwohl Südafrika nicht im Zahlungsverzug war und kaum Auslandsschulden hatte. GEAR war ein Strukturanpassungsprogramm, das Südafrika für ausländische Investitionen attraktiv machen sollte, und führte zu Massenentlassungen und Armut. Dadurch wurden die Gewerkschaften geschwächt und um so abhängiger von Allianzen mit der Regierungspartei. Außergewerkschaftliche Bewegungen in den Betrieben wie in den 1980ern in den Autofabriken von Port Elizabeth, wo Arbeiter Strohpuppen von "Ausverkaufs"-Gewerkschaftern verbrannten und am Fließband mit Pappgewehren auf Aufseher zielten, gibt es kaum noch. Es gibt zwar noch Streiks, auch sehr militante und auf höhere Niveau als in vielen anderen Ländern, aber entsprechend den veränderten Kräfteverhältnissen sind sie zunehmend eher defensiv als offensiv.

Aufgrund dieser Entwicklungen ist der Lebensstandard der Armen und der Arbeiterklasse seit GEAR stark gesunken. Ein Artikel in den Pambazuka News fasst die Lage so zusammen: "Der Lebensstandard ist heute niedriger als 1994, und Südafrika hat Brasilien als das Land mit der weitesten Schere zwischen arm und reich überholt." Doch während viele einfache Menschen nur mühsam überleben konnten, wurden viele ANC-Führer durch diesen Prozess zu Millionären. Im "neuen" Südafrika wurde es normal, dass ein Genosse von früher, heute älter und ohne Job oder Aussichten, je einen zu ergattern, andere frühere Genossen im Mercedes vorbeifahren sieht. Diese "Phase der Elitenbildung" mit einer eingeborenen schwarzen Bourgeoisie wurde am deutlichsten sichtbar unter dem Regime von Mbeki, war in Wirklichkeit aber schon lange ganz offen Praxis. Die Wahl von Jacob Zuma und die Spaltung des ANC, nach der Mbeki mit einer beträchtlichen Minderheit austrat, um eine Konkurrenzpartei zu gründen, deutet weniger auf einen fundamentalen Richtungswechsel hin als auf interne Meinungsverschiedenheiten über den Weg zu künftiger Beute und die richtige Strategie, falls die Unzufriedenheit oder Erwartungen zu schnell anwachsen.

Doch seit etwa 2005 sind kleine, aber bedeutende Kämpfe aufgeflackert, darunter auch Kämpfe von Leuten, die in Armenvierteln wohnen und, falls überhaupt, prekär in der informellen Ökonomie beschäftigt sind. Sie richten sich gegen Privatisierungen, Räumungen, Wassergebühren und das Abstellen von Strom. Diese auf Gemeinschaft orientierten Kämpfe haben ihre Basis in den "illegalen" Siedlungen, die wegen der anhaltenden Wohnungskrise innerhalb der großen Städte und drumherum, auch auf dem Land, wie Pilze aus dem Boden schießen.

Bewegungen wie AbM, Western Cape Anti-Eviction Campaign*, Landless People's Movement* und Abahali baseplasini* sind lose organisiert in der Poor People's AlliANCe* und greifen gegen die Regierungspolitik und staatliche Vernachlässigung zu direkten Aktionen, mit Taktiken wie diesen:

• Sie laufen hinter staatliche Arbeiter, die wegen unbezahlter Rechnungen die Wasseruhren ausbauen (ohne kann nicht abgerechnet werden, läuft aber auch das Wasser nicht), her und bauen Rohre ein, die nicht nur das Wasser wieder fließen lassen, sondern auch schwerer zu entfernen sind.

• Sie verhindern Räumungen, indem sie zusammen mit anderen Anwohnern die Hütten umstellen, und veranstalten Ablenkungsmanöver, indem sie z.B. in anderen Straßen Autos anzünden, um die Polizei abzuziehen. Falls die Räumung trotzdem stattfindet, helfen sie der Familie, so schnell wie möglich wieder einzuziehen.

• Sie hindern Beamte an der Beschlagnahme von Eigentum der Bewohner, mit dem Schulgeldschulden der Kinder bezahlt werden sollen.

• Sie verweigern die Teilnahme an der Parteipolitik und organisieren Massenversammlungen, um über ihre Aktionen und Politik zu entscheiden. Z.B. organisierten Gruppen bei den jüngsten Wahlen einen Boykott unter der Parole "Kein Land, kein Haus, keine Stimme".

• Während der ausländerfeindlichen Angriffe auf afrikanische Einwanderer in den townships letztes Jahr bildeten Gruppen wie die WCAEC schnell Straßenkomitees, die zur Hälfte aus Einwanderern bestanden, sodass es nicht zu Gewalt kam.

Diese Bewegungen warten nicht auf Maßnahmen der Regierung oder Genehmigungen - es gibt bereits hochtrabende Phrasen in der Verfassung, die menschenwürdige Wohnungen und sichere Jobs garantieren, aber nie umgesetzt werden -, sondern unternehmen die nötigen Schritte in Richtung "Das Recht auf Leben". Ein Aktiver der WCAEC: "Das sind Dinge, für die unsere Vorfahren eingetreten und gestorben sind. Wir haben ein Recht darauf" Als Reaktion auf die Entstehung solcher no go areas, die nicht mehr unter Regierungskontrolle stehen, klagte der ANC wiederholt eine "Kultur der Zahlungsverweigerung", "kriminelle Elemente" und "Ultralinke" an und führte einige brutale Interventionen durch. Zum Beispiel schoss die Polizei 2007 während eines Protests gegen die Wohnungspolitik in Südpretoria in Gauteng mit Gummigeschossen und scharfer Munition auf DemonstrantInnen. Ein Reporter einer Zeitung aus Durban, der Polizeiangriffe auf Hüttenbewohner in Pinetown recherchierte, wurde im selben Jahr entführt und schwer misshandelt. In anderen Fällen versuchte der ANC es mit "Zuckerbrot": "Führende Mitglieder" wurden über finanzielle Zuschüsse und zugeschusterte Positionen in der örtlichen Parteienhierarchie vereinnahmt und unabhängige Organisationen als untergeordnete beratende Parteien, die vor dem Staat die "Zivilgesellschaft" vertreten, in den Kreis der NGOs einbezogen.

Doch die Grausamkeit der letzten Angriffe auf die Siedlungsbewegung zeigt möglicherweise eine Veränderung der momentanen Regierungspolitik an. So schreibt ein Beobachter: "Hier drückt sich eine bestimmte Form von staatlicher Politik aus, ähnlich der Politik des Kolonialismus und der Apartheid, in der ein bestimmter Teil der Gemeinschaft als Feind angesehen wird."

Vielleicht ist die Repression also auch ein Zeichen dafür, dass die ANC-Herrschaft sich, trotz Spaltungen, internen Streitigkeiten und konkurrierenden Begehrlichkeit in der Bürokratie, schleichend zu einem wachsenden Autoritarismus hinbewegt oder zumindest teilweise "ZANU-isiert". Es ist zu früh, um mit Sicherheit sagen zu können, ob die Angriffe aus spezifischen lokalen und regionalen Faktoren resultierten oder ob sie auf neue Anordnungen für eine "Zero TolerANCe" Politik zurückgehen.

Fraglos erfreut sich der ANC immer noch einer umfassenden und echten Massenunterstützung wegen seiner Sichtbarkeit, seines Muts und seiner Opfer während der Apartheid. Aber die Zeichen, dass diese Unterstützung nicht auf ewig währt, beginnen sich zu häufen. Und mit dem Wegsterben der älteren Generation verblassen die Erinnerungen und der Glanz "des Kampfes" blättert ab. Die Partei wird sich nicht mehr auf persönliche Erinnerungen an das Leben unter der Apartheid berufen können. Ihr politisches Kapital und die Fähigkeit, konkurrierende Interessen auszugleichen, werden abnehmen. Interner und externer Druck werden zunehmen, vor allem wenn Südafrika wie Japan als Folge der weltweiten Rezession in einer langen wirtschaftlichen Stagnation steckenbleibt.

Aber es lässt sich auch nicht ausschließen, dass hinter den letzten Regierungsaktionen Sorgen um die sozialen Auswirkungen der Rezession stehn, die nun Südafrika zu überrollen beginnen. Zu recht fürchtet die Regierung, dass zunehmende soziale Spannungen der gewöhnlichen, von den offiziellen Parteien vermittelten Eindämmung zu entkommen drohen. In diesem Fall kann der gewaltsame Angriff als präventiver Schlag betrachtet werden, als Warnung an die ganze Bevölkerung, die Grenzen nicht zu überschreiten.

Die lokalen, heute noch relativ kleinen (zumindest gemessen an den vielen Millionen extrem armer SüdafrikanerInnen, die unter miserablen Umständen leben) und machtlosen "Armen"-Organisationen könnten plötzlich, unter den richtigen Umständen, die Stimmung gegen die Regierung lawinenartig zu etwas viel Größerem - und sowohl für den ANC als auch für südafrikanische Geschäftsinteressen Bedrohlicherem - anschwellen lassen.


Randnotizen

Abahlali baseMjondolo: Bewegung der Barackenbewohner

African National Congress: ehemalige Befreiungsbewegung, seit 1994 Regierungspartei

(1) Der Gerichtstermin Mitte Januar wurde verschoben; aktueller Stand AbM-website: www.abahlali.org

WCAEC: Westkap-Kampagne gegen Räumungen

Landless Peoples Movement: Bewegung der Landlosen
Abahlali baseplasini: Ländliches Netzwerk
Poor Peoples Alliance: Allianz der Armen

ZANU - Zimbabwe African National Union

Quellen:
AbM website: www.abahlali.org

Western Cape Anti-Eviction Campaign: www.antieviction.org.za

Ein Teil von Jenny Morgans Film über AbM unter:
http://www.youtube.com/watch?v=Fr7h6aTQp5A

Pambazuka News: www.pambazuka.org

"After the Thrill is Gone: A Decade ot Post-Apartheid South Africa"
Special issue of The South Atlantic Quarterly. Volume 103, Number 4. Fall 2004.

Raute

Was bisher geschah

"Die Gelbe Gefahr ist ein Begriff aus der Kolonialzeit, mit dem die USA und die europäischen Kolonialmächte Ressentiments gegen asiatische Völker, insbesondere China, zu schüren versuchten. (...) In den 1980er Jahren kam der Begriff in den USA wieder in Gebrauch, als Japan bzw. die Tigerstaaten die wirtschaftliche Vorherrschaft zu übernehmen schienen." (wikipedia)

Ein paar Leute haben uns darauf hingewiesen, das Gelb zusammen mit der Mao-Karikatur auf dem Titelbild der letzten Wildcat könnte in die Richtung missverstanden werden. Liebe Leute, so daneben sind wir nicht. Das satte Gelb gefällt uns nach wie vor, wir finden es nicht wirklich schlimm, dass uns diese mögliche Assoziation nicht gleich in den Sinn gekommen ist, geloben aber natürlich Besserung und werden in Zukunft stärker auf Symbole achten!


*


update Venezuela (Wildcat 85): Das bolivarianische Modell rutscht weiter in die Krise

Auch die chavez-freundliche Linke kritisiert in Bezug auf Venezuela inzwischen die "ineffizienten Sozialprogramme" und die ausbleibende politische Debatte, etwa wenn die "Kommunalen Räte" aus dem Fernsehen erfahren, welch weise Entscheidung der Präsident gerade für die Probleme getroffen hat, die sie seit Wochen diskutieren.

Streikbereite Ölarbeiter wurden in den vergangenen Monaten als "Feinde der Revolution" beschimpft, die entsprechende Gewerkschaftsfraktion von den Verhandlungen ausgeschlossen. Nun hat das Energieministerium mit regierungsfreundlichen Gewerkschaftsfraktionen einen neuen Tarifvertrag für die Ölindustrie ausgehandelt, der die Nominallöhne der Festangestellten um knapp 60% erhöht, die 20.000 Leiharbeiter gehen leer aus.

Nach der heftigen Abwertung des Bolivar um 50%, bzw. um 21% für den Import von Nahrungsmitteln und Medikamenten, wird die Lohnerhöhung von der Inflation schnell geschluckt sein. Auseinandersetzungen um Löhne und Arbeitsbedingungen auch in Staatsbetrieben nehmen zu. Im venezolanisch-chinesischen Unternehmen Vetelca (Handymontage) wird den Arbeitern verboten, eine Gewerkschaft zu gründen. Das sei nicht nötig, schließlich gehöre dieser Betrieb dem venezolanischen Volk...


*


update Spanien (Wildcat 83):
Nach dem Platzen der Arbeitsmarktblase

Die Arbeitslosenrate stieg in nur zwei Jahren von unter 10% auf offizielle 19%. Etwa zwei Millionen Stellen fielen weg. Vorschläge zu Reformen der spanischen Volkswirtschaft gehören seit Ausbruch der Krise zum parteipolitischen Getöse, ohne konkrete Initiativen - die Hoffnung liegt auf der Wirkung der Konjunkturprogramme.

In den Betrieben stagnieren seit einem Jahr die Tarifverhandlungen. Im Mittelpunkt steht die Entwicklung der Inflationsrate, an die die Tariflöhne per Klausel angepasst werden sollen.

Im letzten Jahr entwickelte sich das Preisniveau rückläufig, und die Unternehmer bestanden auf einem entsprechenden Ausgleich der zu hoch angesetzten Lohnsteigerungen. Die unzähligen Betriebs- und Branchentarife orientieren sich üblicherweise an einem nationalen Rahmentarifvertrag, der aber seit März letzten Jahres nicht zustande gekommen ist. Viele der Konflikte wurden seitdem in die Gerichtssäle verlagert. Nachdem Ende November eine Vereinbarung für die ausstehenden Tarife getroffen wurde, sind für dieses Jahr ein bis zwei Prozent Lohnsteigerungen bei dreijähriger Laufzeit angepeilt - ein Abschluss scheint nahe.

Die Regierung legte in Brüssel einen Sparplan mit Einsparungen von 50 Milliarden Euro vor. Der propagandistische Paukenschlag: Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre. Dies bedrohte die Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmerverbänden über eine Neuauflage des großen Sozialpaktes, woraufhin die Regierung zurückruderte.

Als nächstes verkündete die Regierung Vorschläge zur Arbeitsmarktreform. Das heiße Eisen sind die relativ hohen Abfindungen für langjährig unbefristet beschäftigte ArbeiterInnen. Die nun gefundene Formel fördert die verstärkte Anwendung eines Arbeitsvertrages mit geringeren Abfindungen, ohne die bestehenden Verträge direkt anzugreifen. Die finanzielle Auszehrung des Staatshaushaltes ist das Ergebnis des Zusammenbruchs eines Modells nachholender Entwicklung, das auf der Integration in die europäische Währungsunion und dem damit verbundenen Zugang zu Subventionen und billigem Kredit beruhte. 2012 wird eine staatliche Verschuldung von 74,3% BIP anvisiert - eine Verdoppelung seit 2007. Das Defizit stieg letztes Jahr auf 11,4% BIP an. Die Verschuldungsspirale ist weniger durch Ausgaben ausgelöst, als vielmehr durch den Ausfall staatlicher Einnahmen. Das finanzpolitische Hü und Hott zwischen Konjunkturförderung und Sparmaßnahmen prägt die Situation bis in die Betriebe, wo die Beschäftigten nach Entlassungen, Kurzarbeit und Lohnverzicht nun teilweise mit Überstunden zur Bewältigung von "Auftragsspitzen" konfrontiert sind.

Raute

Haiti 1791 bis 1802

Das andere Erdbeben


TOUSSAINT, the most unhappy man of men!
Whether the whistling rustic tend his plough
Whithin thy hearing, or thy head be now
Pillowed in some deep dungeon's earless den; -
O miserable Chieftain! where and when
Wilt thou find patience? Yet die not; do thou
Wear rather in thy bonds a cheerful brow:
Though fallen thyself, never to rise again,
Live, and take comfort. Thou hast left behind
Powers that will work for thee; air, earth, and skies;
There's not a breathing of the common wind
That will forget thee; thou hast great allies;
Thy friends are exultations, agonies,
And love, and man's unconquerable mind.

TOUSSAINT, im schwersten Unglück alle Menschen!
Ob dir der Landmann pfeifend hinterm Pflug
Am Ohr vorbeizieht oder ob dein Haupt
In tiefer Kerkergruft gehörlos ruht; -
Erbarmungswürdiger Häuptling! Wo und wann
Wirst du Verständnis finden? Doch stirb' nicht;
Bewahr in Fesseln ruhig heitere Miene:
Wenn du auch fielst, um nie mehr aufzustehn,
Leb fort und streck dich aus! Du hinterlässt,
Was dein Werk stützt: die Himmel, Erde, Luft;
Kein Hauch von diesem Wind, der alle streift,
Wird dich vergessen; Freund im großen Bund
Mit Jubel, Liebe, Kampf aus letzter Kraft
Und uneinnehmbar fest: des Menschen Sinn.


Zum Thema "haitianische Revolution" haben wir einen Text von Paul Foot aus dem Jahr 1991 übersetzt:

Uneinnehmbar fest: des Menschen Sinn

Wer hat die Sklaverei abgeschafft?

Das ist eine einfache Frage, die jeder beantworten kann, der die Anfangsgründe der englischen Geschichte beherrscht. William Wilberforce(1) hat es geschafft, fast im Alleingang. Diesem großartigen christlichen Gentleman, konservativer Abgeordneter im Parlament und Fabrikbesitzer, dem seine Arbeiter nachsagten, dass er sie behandelte, nun ja, wie Sklaven, bescheinigt die Geschichte, ihm sei mehr als allen anderen die Befreiung der Welt von der Sklaverei zu verdanken. Sein Hauptmitwirkender, so liest es sich im Geschichtsbuch für den Hausgebrauch, war der jüngste aller britischen Premierminister - William Pitt(2). Pitt und Wilberforce schrieben die Gesetzesvorlage zur Abschaffung der Sklaverei, über die - mit negativen Ergebnis - vom britischen Unterhaus vor ziemlich genau zweihundert Jahren zum ersten Mal abgestimmt wurde.

Dürfen Wilberforce und Pitt den hohen Ruhm zu Recht in Anspruch nehmen? Um das zu entscheiden, können wir zunächst eine weitere einfache historische Frage stellen: Wer hat Amerika entdeckt? Sicherlich weiß jeder die Antwort. Christoph Columbus, ein Abenteurer aus Spanien, war der 'Entdecker' Amerikas, obwohl zu jener Zeit offenbar schon einige hunderttausend Menschen dort lebten, die es vor ihm entdeckt haben könnten.

Columbus hat auch Hispaniola 'entdeckt', die größte Insel der später so genannten westindischen Karibik. Dort lebte ungefähr eine Million Menschen, als Columbus eintraf. ... Ihre Freundlichkeit war so ausgeprägt, dass sie eine von Columbus' havarierten Galeeren(3) an Land zogen und sie für ihn reparierten. Columbus hat in Notizen festgehalten, welches 'Paradies' er dem Reich der Spanier hinzufügte. Im Gegenzug machten sich die Imperialisten mit solcher Grausamkeit an ihr Geschäft, dass 250 Jahre später die gesamte eingeborene Bevölkerung ausgerottet war.

Die Vernichter, bestrebt, ihre Geschäfte fortzusetzen, stützten sich nun immer stärker auf den Handel mit Sklaven aus Afrika. Zwischen 1500 und 1800 wurden 30 Millionen Sklaven unter Zwang von Afrika auf die Plantagen in der Karibik und in Nordamerika gebracht. Sie wurden gewaltsam oder durch Betrug gefangen genommen, gezwungen, ihre Todesschiffe über den Atlantik zu rudern,(4) ausgehungert und geprügelt in die Unterwerfung durch weiße christliche Herren, in der Mehrzahl Briten.

Das Jahr 1789 findet Hispaniola geteilt und umbenannt. Die östliche Hälfte, Santo Domingo, heruntergekommen und öde, wurde immer noch von Spanien aus regiert. Die Bevölkerungszahl lag bei 125.000 Menschen, von denen 15.000 Sklaven waren. Die westliche Hälfte, St. Domingue, wurde von Frankreich verwaltet. Sie war dicht bevölkert. 1789 gab es 30.000 Weiße in St. Domingue, 40.000 gemischtrassige Mulatten und eine halbe Million schwarze afrikanische Sklaven.

Die Insel ist heute als Haiti bekannt, und sie gilt als einer der ärmsten Flecken auf der Welt. Im Jahr 1789 war St. Domingue der reichste Fleck auf der Welt. Es erbrachte Zucker, Kaffee, Baumwolle, Indigo und Tabak in gewaltigen Mengen. Der Wert der Exporte erreichte die Größenordnung von zwei Dritteln des gesamten französischen Nationalprodukts. In Frankreich waren die Hafenstädte Nantes und Bordeaux völlig abhängig vom Handel mit St. Domingue, und zu Beginn der 90er Jahre des 18. Jahrhunderts schien es den Franzosen, denen all dies zugute kam, als würde die goldene Gans ihre Eier in Ewigkeit weiter legen.

Das ganze ungeheure Wertprodukt beruhte vollständig auf Sklavenarbeit. Die glücklichen Sklaven waren diejenigen, die noch auf den Schiffen starben. Die anderen erwartete auf den Feldern ein 18-Stunden-Tag von 7 Uhr früh bis 2 Uhr früh. Die Vorschrift, die ihren Eigentümern auferlegte, sie zu ernähren, wurde fast durchweg übersehen oder offen missachtet. Die meisten Sklaven erhielten überhaupt keine Nahrung und mussten die wenigen kostbaren Stunden ihrer 'Freizeit' mit dem Anbau von Feldfrüchten verbringen.

Das Gebären von Kindern wurde bei den Sklaven nicht gefördert. Man betrachtete es als verlorene Zeit, die auf den Feldern besser eingesetzt werden konnte. Religion war verboten, mit Ausnahme der Taufe, die man gestattete, solange sie kollektiv und schnell vollzogen wurde. Zufrieden bediente sich die römisch-katholische Kirche der flüchtigen Gelegenheit, neue Konvertiten zu machen. Im Gegenzug war die Kirche bereit, über die Sklaverei zu schweigen.

Den Sklaven gestattete man keine Bildung, keinen unabhängigen Gedanken, keine Rechte irgendwelcher Art. Hier zeigt sich eine grausame, brutalisierte gesellschaftliche Welt, zusammengehalten von Furcht und Sadismus. Als der freiheitlich gesinnte französische Autor Baron de Wimpffen 1790 nach St. Domingue kam, bewunderte er die Schönheit seiner Gastgeberin bei einem der nicht endenwollenden Bankette. Weniger angenehm berührt war er, als sie Anweisung gab, ihren Koch, der sie mit einer Nachricht über die Speisen irritiert hatte, mitsamt dem nächsten Gang in den Ofen zu werfen. Solche Greuel waren nicht die Ausnahme. Sie waren die Regel.

Zwischen 1783 und 1789 verdoppelte sich die Produktion in St. Domingue. Kein Ende schienen die märchenhaften Reichtümer zu nehmen, die aus dieser schönen Insel und ihren wie Vieh gehaltenen Sklaven gepresst werden konnten. Niemand dachte ernsthaft an eine Revolte. Das lag nicht einmal an der besonderen Grausamkeit, mit der Disziplin und Ordnung durchgesetzt wurden. Es schien eher so, als ob die Sklaven über die Möglichkeit der Revolte hinaus ausgebeutet wurden. Von hundert Sklaven starben elf jedes Jahr - ein höherer Prozentsatz als beispielsweise die britische Bevölkerung sie während des 1. Weltkriegs hinnehmen musste - aber das spielte keine Rolle. Offenbar gab es aus Afrika unerschöpflichen Nachschub frischer Arbeitskraft.

Mit der französischen Revolution änderte sich all dies - aber zunächst nicht allzu augenfällig. Unter den Autoren der Aufklärung, von denen die Revolution in Gang gesetzt wurde, waren zahlreiche Gegner der Sklaverei. Aber viele Persönlichkeiten, die unmittelbar nach der Revolution Ämter übernahmen, waren selbst Profiteure des Reichtums von St. Domingue: Nicht unmittelbar als Sklavenhalter, Pflanzer oder Plantagenbesitzer, sondern indirekt als Händler und Geschäftsleute. Sie hassten die Sklaverei im Prinzip, bereicherten sich aber an ihr in der Praxis.

So erklärt sich, dass die französische Nationalversammlung angesichts einer Forderung der Idealisten nach Abschaffung der Sklaverei Zuflucht bei einem Kompromiss suchte. Sie ordnete an, dass 500.000 schwarze Sklaven bleiben sollten, was sie waren. In den Genuss der französischen Staatsbürgerschaft sollten aber alle Mulatten kommen, deren Väter und Mütter nachweislich in Frankreich geboren waren. Von solchen gab es ca. 400, ungefähr ein Prozent der Mulattenbevölkerung von St. Domingue.

Niemand war mit diesem winzigen Zugeständnis zufrieden. Es versetzte die Pflanzer in Wut, behandelte die Mulatten gönnerhaft und beachtete die Sklaven nicht. Aber das Zugeständnis sandte einen winzigen Lichtstrahl. In Frankreich, soviel war deutlich, gab es einige Leute, denen die Sklaverei in St. Domingue wichtig genug war, um etwas an ihr zu ändern. Die Anordnung zum Wohl von 400 Mulatten schuf einen Riß im Bollwerk der Sklaverei und ebnete den Weg zur großen Revolte.

Sie brach am 14. August 1791 auf einer Plantage des Nordens aus. In einer gewaltigen Welle der Grausamkeit schlachteten die Sklaven ihre Herren ab, setzten deren Villen in Brand - und wurden selbst im Gegenzug niedergemetzelt. Als das Jahr zu Ende ging, hatte sich ein riesiges führerloses Sklavenheer in den Bergen des Nordens gesammelt.

Zu diesem Heer stieß ein Kutscher aus der kleinen Plantage Breda. Im Unterschied zu fast allen seinen Sklavenkameraden konnte der Kutscher, der Toussaint hieß, weil er am Allerheiligentag geboren war, lesen und schreiben. Er war 46 Jahre alt. In die Armee reihte er sich als medizinischer Helfer ein, weil er (wieder im Unterschied zu fast allen anderen) ein wenig Erste Hilfe gelernt hatte. Sehr schnell rückte er zum anerkannten Führer des Sklavenheers auf und behielt das Kommando zwölf Kriegsjahre lang.

Seine ersten Feinde waren die Pflanzer, deren Gouverneur in Paris ernannt wurde. Sogleich, nachdem er die Führung übernommen hatte, unterzeichnete Toussaint Verträge mit Spanien, das ihm freudig Waffen gab in der Hoffnung, er möge die Franzosen besiegen und Madrid die ganze Insel mit ihren Reichtümern auf einem Tablett servieren. Es dauerte nur Monate, da hatte Toussaints Heer alle Häfen auf der Nordseite der Insel eingenommen und befestigt.

Sehr schnell begriff er, dass Verhandlungen mit den Plantagenbesitzern unsinnig waren. Zugeständnisse waren von ihnen nicht zu erwarten. Boten, die man zu Verhandlungen mit den Pflanzern ausgeschickte, wurden getötet, bevor sie sprechen konnten. So kam es zu dem Wahlspruch, der über der gesamten Sklavenkampagne stand: Freiheit oder Tod.

Die Sklavenrevolte, die sich über mehr als zwölf Jahre hinzog, war unauflöslich mit der Französischen Revolution verwoben. Im September 1792, als die Revolution nach links driftete, sandte der neue Konvent drei Bevollmächtigte und einen neuen General, Laveaux, nach St. Domingue. Die Bevollmächtigten erklärten, bevor sie abreisten, sie hätten 'keine Absicht, die Sklaven zu befreien' also blieben sie Toussaints Feinde.

Doch während des ganzen Jahrs 1793, als die Französische Revolution zu ihrem Gipfelpunkt auflief blieben Laveaux und Toussaint im Gespräch. Der französische General, ein Jakobiner, der die königstreuen Pflanzer hasste, versuchte, den Anführer der Sklaven zu überreden, sich auf Gedeih und Verderb mit dem revolutionären Frankreich gegen die gemeinsamen Feinde zu verbünden - die reaktionären Imperien Spanien und Großbritannien. Toussaint blieb misstrauisch. In jedem Franzosen sah er einen Sklavenhalter. Noch im August 1793, als die Beauftragten in eigener Initiative eine Anordnung zur Abschaffung der Sklaverei herausgaben, hielt Toussaint seine Armee auf Abstand zu den Franzosen und seine Häfen für die Spanier offen.

Im Lauf der ersten sechs Monate des Jahres 1794 ging er auf die andere Seite über, aus zwei Gründen: Zuerst kam die Nachricht über einen weiteren Fortschritt in der französischen Revolution: solider Beweis, dass zum ersten Mal in der Geschichte einfache Menschen Anteil an der Regierungsgewalt erhielten. Am 3. Februar 1794 nahmen drei Abgesandte aus St. Domingue im französischen Konvent Platz, der nun nicht mehr von Geschäftsleuten sondern von der arbeitenden Bevölkerung der Städte, in erster Linie Paris, kontrolliert wurde. Die Abgesandten waren ein befreiter schwarzer Sklave, ein Mulatte und ein weißer Mann. Schon der Anblick des schwarzen und des 'gelben' Mannes riß den Konvent zu ausgedehntem Applaus hin. Es wurde beantragt, unterstützt und ohne Diskussion beschlossen, dass die 'Aristokratie der Haut' nicht weiter geduldet werden solle und dass die Sklaverei abzuschaffen war.

Diese historische Nachricht erreichte Toussaint (dem inzwischen ein zweiter Name beigelegt worden war: l'Ouverture, die Öffnung zur Freiheit) in den Bergen von St. Domingue irgendwann im Frühjahr 1794. Jetzt erkannte er, dass nicht alle Franzosen Sklavenhalter waren, Pflanzer oder Rassisten. Auch in Frankreich gab es viele, welche die Fesseln zerreissen wollten, die sie mit ihren Ausbeutern verbanden, und er zog nun mit ihnen an demselben Strang.

Zu eben dieser Zeit erschien eine britische Expeditionsarmee von 6000 Mann, die zur größten Expedition anwachsen sollte, die jemals von britischen Küsten losgemacht hatte, brennend auf einen Waffengang in St. Domingue. Der britische Premierminister steht, wie wir gesehen haben, als Gegner der Sklaverei im Geschichtsbuch. Ein wichtiger Grund dafür war, dass die am meisten profitträchtigen Resultate der Sklaverei - in St. Domingue - sich ausschließlich nach Frankreich ergossen. Nun bot sich Pitt und seiner Klasse ein ganz anderes Bild. Möglicherweise konnten die Franzosen durch eine Sklavenrevolte ihren Halt auf der Insel verlieren - weiter gedacht: Die Engländer könnten sich in den Besitz von St. Domingue setzen, die Sklaverei dort wieder befestigen und gute britische Profite aus ihr schlagen.

Der englische Krieg gegen Toussaints Heere in St. Domingue dauerte vier Jahre - von 1794 bis 1798. In diesem Zeitraum trocknete die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei in Großbritannien fast völlig aus. Es gab zwei ziemlich planlose Versuche, ein Gesetz im Unterhaus durchzubringen - 1795 und 1796. In den drei Jahren nach 1795 trat die Gesellschaft zur Abschaffung der Sklaverei zweimal zusammen. Von 1797 bis 1804 sind überhaupt keine Versammlungen mehr verzeichnet. Was schwerer wiegt: Während der acht Jahre nach 1792 wurde eine Million Sklaven auf britischen Schiffen von Afrika in die 'Neue Welt' gebracht.

Toussaint erkannte mühelos, dass die Franzosen (im revolutionären Durchbruch) die Sklaverei abgeschafft hatten, während die Engländer beabsichtigten, sie wieder herzustellen. Im Juni 1794 traf er seine Entscheidung, trat ohne Vorbehalt auf Laveaux' Seite, verband sich mit den Franzosen, entriss den Spaniern in sieben Tagen dieselben Häfen, die er vorher für sie erobert hatte und richtete sein ganzes militärisches Geschick und die Schnelligkeit, die Stärke und den Mut seines Heeres auf den Krieg gegen die Engländer.

Die Briten verloren 80.000 Mann in St. Domingue: mehr als in sämtlichen antinapoleonischen Kriegen an der Seite Spaniens. Es war eins der größten militärischen Desaster in der ganzen britischen Geschichte, weshalb sich die Geschichtsschreibung hierzu klüglich im Vergessen übt. Im April 1794 führte Toussaint sein siegreiches Heer in die Hauptstadt Port-au-Prince, und die Briten kehrten nie mehr zurück.

Doch inzwischen war die revolutionäre Welle in Frankreich abgeebbt, und die neuen Herren, das Direktorium, wogen die Chancen einer Wiedererrichtung der Sklaverei in St. Domingue ab. Ein neuer Regierungsbeauftragter, Hédouville, bestimmte die Mulattengeneräle, die mutig an der Seite der Sklaven gegen die Engländer gekämpft hatten, durch Bestechung zum Verrat an Toussaint. Ein grausamer Bürgerkrieg fand erst 1801 sein Ende, als Toussaint seinen Sieg über die Mulatten krönte, indem er in die spanische Hälfte der Insel einmarschierte und sie eroberte.

Das Heer der Sklaven hatte den ersten Gegenangriff der neuen französischen Republik abgewehrt, hatte die britische Armee in ihrer Macht und Herrlichkeit geschlagen, hatte die Mulatten besiegt, die Spanier geschlagen, und es hatte die Sklaverei abgeschafft. Nun aber, nach kurzer Friedenszeit, stand es vor einer neuen Bedrohung durch einen weiteren, ganz anderen Herrscher in Frankreich, den ersten Konsul Napoleon Bonaparte.

Ganz zutreffend erfuhr Napoleon von seinem Kundschafter General Vincent, dass St. Domingue 'der glücklichste Ort in seinem Herrschaftsbereich' sei. Die Peitsche war abgeschafft. Arbeitszeiten wurden geregelt, und die neue Gesellschaft bemühte sich um die Wiederherstellung der Plantagen mit ihrer Produktion. Napoleon entschloss sich jedoch, die friedliche Szene zu stören.

Die Briten, fest an der Seite ihres Feindes Napoleon in ihrer Entschlossenheit, die Sklavenrevolte auszulöschen, kamen Napoleon mit einer kleinen Waffenruhe entgegen, was diesem erlaubte, Toussaint l'Ouverture seine ganze Aufmerksamkeit zu widmen. Zum Führer seiner gewaltigen Expedition ernannte Napoleon seinen Schwiegersohn Le Clerc, der voraussagte, dass 'alle Nigger ihre Waffen wegwerfen werden, wenn sie eine Armee sehen'. An seiner Seite befanden sich alle bedeutenden Generäle des napoleonischen Frankreich. Gleichwohl verloren die Franzosen im Jahr 1802 während der ersten sechs Monate 10.000 Mann - die eine Hälfte im Kampf mit Krankheiten, die andere Hälfte durch ihren Feind. Die französischen Soldaten waren verwirrt. Als sie die Armee der Schwarzen angriffen, wurden sie mit vertrauten Liedern begrüßt: Die Marseillaise, das Ça ira, dieselben revolutionären Gesänge, zu deren Melodien sie den größeren Teil Europas erobert hatten.

Am 7. Juni 1802 boten die geplagten französischen Generäle Toussaint einen Friedensvertrag an, wenn er persönlich erscheinen würde, um ihn auszuhandeln. Gegen den Rat seiner eigenen Generäle ging er auf das Angebot ein, wurde sofort gefangen genommen, nach Frankreich verbracht und in einem frostigen Gefängnis im Juragebirge versenkt. Zum Erstaunen der Franzosen kämpfte das Heer der Sklaven in St. Domingue ohne seinen Anführer mit noch größerer Entschlossenheit. Monate später waren die Franzosen von der Insel vertrieben, um nie wieder zurückzukehren. Die imperiale Herrschaft in St. Domingue gehörte der Vergangenheit an - für immer.

Wir haben es hier mit einem der vielleicht erstaunlichsten Vorgänge in der gesamten Menschheitsgeschichte zu tun. Weil er aber die gängige Geschichtsschreibung auf den Kopf stellt, wird er in der historischen Literatur übergangen. Die Geschichte von Toussaint l'Ouverture wurde aus nahezu der gesamten britischen (und sogar der französischen) Kultur getilgt. Es gibt einen Film über Spartacus - er war ja auch der Unterlegene - aber keinen über Toussaint. Wir haben ein großartiges Buch von C.L.R. James - Die Schwarzen Jakobiner -, das jetzt bestätigt wird von Robin Blackburns umfassender Darstellung Die Beseitigung der Kolonialsklaverei. Im Übrigen geben die wichtigen Leute nur widerwillig gründlichere Informationen über Toussaint l'Ouverture und sein Heer preis, in Sorge, einige allzu naheliegende Lektionen könnten gelernt - und in Handeln umgesetzt werden.

Was sich im realen Leben ereignet, hängt nicht davon ab, was bedeutende Männer und Götter für richtig oder falsch halten. Maßgebend ist hier die Gier der herrschenden Klassen und der gegen sie geleistete Widerstand. Die Sklaverei hätte noch viele Jahrzehnte lang fortgesetzt werden können (wie es tatsächlich auch in Nordamerika der Fall gewesen ist), wenn die Sklaven nicht absolut unnachgiebig mit Gewalt für ihre Freiheit gekämpft hätten.

Weiße sind nicht in jedem Fall Rassisten. Napoleon, Le Clerc und Hédouville waren Rassisten, Laveaux war es nicht - ebensowenig wie es die Jakobiner im Konvent waren, die der Sklaverei durch Verbot entgegentraten. Für sie war die Aristokratie der Hautfarbe nur eine von vielen üblen Erscheinungsformen der Adelsherrschaft durch Klasse und Religion.

William Wilberforce hat die Sklaverei nicht abgeschafft. Das Heer der Sklaven mit Toussaint l'Ouverture an der Spitze hat den Ablauf in Gang gesetzt, - der erst abgeschlossen wurde, als die Sklaven Amerikas sich mit den Weißen im Norden verbinden mussten, um einen Bürgerkrieg zur Abschaffung der Sklaverei zu führen. Die Emanzipation der Sklaven ist von den Sklaven selbst erkämpft und gewonnen worden.

Die Alleruntersten, die am tiefsten erniedrigten und ausgebeuteten sind fähig, ihren Unterdrückern zu widerstehen - und sie zu schlagen. Toussaint selbst war ein humaner und friedfertiger Mensch. Davon zeugt seine Weigerung, Gefangene zu töten. Aber er wusste, die Alternative stand auf Freiheit oder Tod, und er richtete seinen Kampf danach aus. Seine Botschaft schallt laut und vernehmlich über die letzten zwei Jahrhunderte, trotz aller Versuche, sie zum Schweigen zu bringen.

Im Jahr 1803 erfuhr William Wordsworth(5), dessen Begeisterung für die Revolution damals schon wieder abkühlte, dass Toussaint l'Ouverture in seinem Gefängnis an Lungenentzündung gestorben war. Da feierte er den toten Sklavenführer in seinem vielleicht schönsten Sonett - einem, das mit Sicherheit in der Schule nicht auswendig gelernt wird, denn es handelt nicht von Osterglocken:

"TOUSSAINT, the most unhappy man of men!"


Anmerkungen

(1) 1759-1833. Einflussreicher englischer Politiker, hatte ein evangelikales Erweckungserlebnis. Vorsitzender der britischen "Gesellschaft zur Bekämpfung des Lasters" und der "Gesellschaft zur Abschaffung der Sklaverei" (seit 1787).

(2) "der Jüngere", 1759-1806. Britischer Regierungschef von 1783 bis 1801, dann wieder von 1804 bis zu seinem Tod.

(3) A. d. Ü.: Im englischen Original steht hier "galleys". Tatsächlich überquerte Columbus den Atlantik mit einer Karacke, der Santa Maria, und zwei Karavellen, der Niña und der Pinta. Die Santa Maria strandete vor Hispaniola, wurde zwar an Land gezogen, aber nicht repariert.

(4) A. d. Ü.: Die Sklavenschiffe im atlantischen Dreieckshandel waren Segelschiffe, in der Regel Briggs oder Schoner, auf denen die Sklaven die Passage eng zusammengepfercht und angekettet verbringen mussten. Diese Schiffe wurden also nicht gerudert.

(5) 1770-1850. Einer der führenden Dichter der englischen Romantischen Bewegung. Am bekanntesten sein Gedicht I wander'd lonely as a cloud (1804), wo die Schönheit der wildwachsenden Osterglocken besungen wird.

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Quelle:
Wildcat 86 - Frühjahr 2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. März 2010