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VORWÄRTS/1589: Die stille Reserve wird zur Armee


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 17/18 vom 22. Mai 2020

Die stille Reserve wird zur Armee

von Florian Sieber


Arbeitslosigkeit gehört zum Kapitalismus, wie der Regen zur Wolke. Doch während Arbeitssuchende sonst für das System eine wichtige Rolle erfüllen, werden sie in der Krise zur Bedrohung für das Kapital. Zur Arbeitslosigkeit in Zeiten von Covid-19.

Am 12. Februar schloss der Dow Jones mit einem Allzeithoch. Nie zuvor war der Börsenmarkt in der Vergangenheit profitabler gewesen. Zwei Wochen später war der leere Traum dann vorbei. In der Zwischenzeit waren die Kurse so stark gestürzt, wie seit dem 2008er-Crash nicht mehr. Die Kursstürze waren ein zuverlässiger Anzeiger für das, was geschehen würde: Die Krise, in der wir uns seit 2008 befinden, trat in eine neue, verschärfte Phase ein. Die Krisenpolitik der letzten zwölf Jahre hatte die globalen Volkswirtschaften nicht im Geringsten auf das vorbereitet, was kommen würde. Mehr noch: Das Vorgehen des politischen und wirtschaftlichen Establishments hatte die Katastrophe in diesen Ausmassen überhaupt erst ermöglicht.


Moderne Alchemie

Dabei dürfen wir hier nicht dem Irrglauben aufsitzen, dass die Börsenkurse die Entwicklungen in der Wirtschaft abbilden. So haben sich die Kurse in den letzten Wochen erholt, was wohl auch viel mit den grössten staatlichen Hilfspaketen der Geschichte zu tun hat: Alleine in der ersten Maihälfte kam es in den USA laut einer Studie von Goldmann Sachs zu Aktienrückkäufen in der Höhe von insgesamt 190 Milliarden Dollar. Innerhalb von zwei Wochen gaben US-Unternehmen gleich viel aus, wie innerhalb von drei vollen Monaten im Jahr 2019, um durch den Kauf eigener Aktien die Kurse in die Höhe zu treiben.

Die Rückkäufe in den letzten Jahren waren vor allem eine kosmetische Massnahme. Kein Produkt ist deshalb effizienter produziert, keine Innovation geschaffen worden. Als dann im März 2020 die Krise wieder heiss wurde, fehlten aber durch die Rückkäufe Finanzmittel um Löhne, Mieten und Rechnungen zu bezahlen. Und hier bildet sich die wahre Tragödie der aktuellen wirtschaftlichen Situation ab: Es sind nicht die Verluste von parasitären Spekulant*innen, die Weizenpreise in die Höhe treiben oder in Rüstung investieren, um Geld zu machen. Ein Kursanstieg sagt nicht aus, ob ein Unternehmen besser oder schlechter wirtschaftet, sondern ob es die Profitansprüche von Investor*innen zu befriedigen weiss. Dass die Aktienkurse nichts mit dem Zustand der Wirtschaft zu tun haben, sehen wir vor allem im Moment, indem die Nachrichten von Massenentlassungen Kursanstiege bei den entsprechenden Unternehmen auslösen.


Eine ungekannte Kluft

Seit Mitte März ist die Arbeitslosigkeit alleine in den Vereinigten Staaten um 33,3 Millionen Personen gestiegen. Das entspricht einer Arbeitslosigkeit von etwa 20 Prozent. Damit einher gehen massive Folgen für die Massen. Viele haben kaum oder keine Rücklagen und alleine schon der Ausfall von einem oder zwei Monatsgehältern kann in einem Land ohne nennenswertes soziales Netz existenzbedrohend sein. Es erstaunt sodann auch nicht, dass ein Drittel der US-Amerikaner*innen im März nicht dazu in der Lage war, ihre Monatsmiete zu zahlen. Es ist anzunehmen, dass die USA besonders schwer von der aktuellen Krise betroffen sein wird.

Doch auch in der Schweiz müssen wir uns auf eine schwierige wirtschaftliche Lage einstellen. Normalerweise sinkt hierzulande die Arbeitslosigkeit im Frühling. Davon war dieses Jahr gar nichts zu spüren. Um rund 18.000 Personen ist die Arbeitslosigkeit seit März angestiegen, was einer Quote von 3,3 Prozent entspricht. Aber wie immer sind diese Zahlen mit Vorsicht zu geniessen. Nur wer auch berechtigt ist, ALV-Gelder zu beziehen, taucht in der Statistik auf. Durch das Mittel der Kurzarbeit - von der 1,9 Millionen Menschen hierzulande betroffen sind - wird dieser Anstieg im Vergleich zu den USA langsamer vonstattengehen. Doch dass die Schweiz eine Insel der Glückseligen bleibt, ist nicht zu erwarten.

Während für Millionen von Menschen die wirtschaftliche Lage verschärft wird, profitieren einige wenige Superreiche enorm. Der reichste Mensch der Welt, Jeff Bezos, hat sein Vermögen seit Beginn der Krise um 25 Milliarden Dollar vergrössert - ein grösserer Betrag als die Wirtschaftsleistung Kambodschas während eines Jahres.


Die Reichen immer reicher...

Während sich die Kapitalist*innen, deren Unternehmen die Krise überstehen, eine goldene Nase verdienen, gehen Tausende und Abertausende Kleinbürger*innen bankrott. Wir Kommunist*innen haben nicht die Aufgabe jetzt über das Los dieser selbst ernannten "Patrons" zu klagen und zu fordern, dass man sie mit ganz bewussten Kaufentscheiden bei Schweizer Unternehmen zu unterstützen habe. Es sind dieselben Kleinbürger*innen, die in den letzten Jahren mit ihren Verbänden bei jeder Gelegenheit für schlechtere Löhne und Arbeitsbedingungen gekämpft haben. Uns muss klar sein, dass dieser Prozess im Kapitalismus unvermeidbar ist und de facto schon seit Jahrhunderten andauert: Kleine Unternehmen gehen baden, die Grossen übernehmen derweil die Marktanteile ihrer vorherigen Konkurrenz und konzentrieren Kapital.

Das geschieht zwar auch in Konjunkturphasen, aber in der Krise, wo sich die geringere Liquidität von kleineren Marktakteur*innen rächt, gehen entsprechend mehr Betriebe bankrott. Die Deutsche Industrie- und Handelskammer rechnet als Resultat einer Umfrage momentan mit einer Insolvenz von zehn Prozent der "mittelständischen Unternehmen". Rund ein Drittel der befragten Unternehmen hat Stellen abgebaut, rund 40 Prozent sind von Insolvenz gefährdet.


...die Armen immer ärmer

In der Krise verschärft sich zusätzlich der Konkurrenzkampf. Zwar verschwinden Akteur*innen von den Märkten, doch müssen die Übriggebliebenen um kleiner werdende Kaufkraft konkurrieren: Die steigende Arbeitslosigkeit, stagnierende Löhne, die Vernichtung ganzer produktiver Industrien unter dem Hauptaugenmerk der Profitabilität für Anleger*innen sorgt dafür, dass der Teufelskreis innerhalb der Krise sich zusätzlich verschärft. Um die Konkurrenzfähigkeit aufrecht zu erhalten, müssen bei kleiner werdender Kaufkraft die Güter pro Stück günstiger auf den Markt geworfen werden. Da die Hauptkosten in der Produktion von Waren und Dienstleistungen in Ländern wie der Schweiz durch Sozialabgaben und Löhne ausgemacht werden, ist es im ureigensten Interesse der Kapitalist*innen, bei ebenjenen Ausgabeposten Senkungen zu erreichen. Die Folge: Die Büezer*innen haben noch weniger Geld zur Verfügung, um die immer zahlreicher und immer günstiger produzierten Waren dann auch zu kaufen - von der günstigeren Produktion kommen die Profite meist eben auch nicht bei den Konsument*innen an...

Marx beschrieb diese Entwicklung in der Beziehung zwischen Fabrikant und Arbeiter*innen als Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital - als einen der grossen Konstruktionsfehler, die diesem System letztlich den Kragen kosten wird.


Hausgemachter Aufruhr

Um zu wissen, dass ökonomische Krisen vom Kapital mit Angriffen auf Lebensbedingungen und Löhne des Proletariats beantwortet werden, muss man nur die letzten 12 Jahre Revue passieren lassen. Ob hungrige Schulkinder in Griechenland, prekarisierte Arbeiter*innen in Bangladesch, gestrichene Sozialleistungen in der Schweiz oder grösser werdende Flüchtlingsbewegungen: All diese Prozesse waren Folge der Krisenpolitik des Bürgertums nach 2008.

Bei der durch die Covid19-Pandemie losgebrochenen Krise handelt es sich um die direkte Fortsetzung und Verschärfung dieses Prozesses. Eine Verschärfung, welche die herrschende Ordnung erschüttern wird. Mit dem Proletariat, mit Heeren von Arbeiter*innen, die in Fabriken und Büros für die Kapitalist*innen Profite zu erwirtschaften haben, schuf sich das Kapital seine eigenen Totengräber*innen - jene Klasse, die dieses System niederwerfen kann. Mit den Antworten auf die aktuelle Krise schafft sich das Kapital aber noch viel mehr: Es schafft eine brandgefährliche Situation, in der Millionen und Abermillionen Menschen deshalb in direkte Feindschaft mit der herrschenden Ordnung geraten werden, weil sie ihre direkten Lebensbedürfnisse nicht mehr werden decken können, weil sie ihre Wohnungen nicht bezahlen und ihre Familien nicht ernähren können werden. Mit der Fortführung der Krisenpolitik nur im Interesse der Besitzenden destabilisiert die herrschende Klasse den brüchigen Status quo weiter.


Wir wollen nur die Welt

Für die revolutionäre Linke eröffnet dies neue Perspektiven und die Deutlichkeit, dass wir uns mit nicht weniger zufrieden geben dürfen, als der irische Marxist James Connolly gefordert hat: "Our demands most moderate are, we only want the earth". (Unsere Forderungen sind ausgesprochen gemässigt - wir wollen nur die Welt.) Nur so werden wir die Tragödie, die ins Haus steht, zumindest mildern können.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 17/18 - 76. Jahrgang - 22. Mai 2020, S. 7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: vorwärts, Postfach 8230, 8036 Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juni 2020

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