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VORWÄRTS/1547: Ein Jahr López Obrador in Mexiko


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 41/42 vom 20. Dezember 2019

Ein Jahr López Obrador in Mexiko

von Pilipp Gerber


Seit dem 1. Dezember 2018 ist Präsident Andrés Manuel López Obrador, kurz Amlo genannt, im Amt. Seit dem 1. Dezember 2018 ist Präsident Andrés Manuel López Obrador, kurz Amlo genannt, im Amt. Zeit für eine Zwischenbilanz dieses turbulenten Jahrs des Hoffnungsträgers, der mit seiner Bewegung der nationalen Erneuerung die vierte Transformation des Landes anstrebt.


Kein Zweifel, Amlo ist und bleibt der populärste Präsident Mexikos seit Jahrzehnten. Gewählt mit 53 Prozent der Stimmen, wurde seine Regierung nach Amtsantritt am 1. Dezember 2018 in den ersten 100 Tagen von rund 80 Prozent der Bevölkerung unterstützt. Amlo nahm das Votum als Vertrauensbeweis der Bevölkerung für seine Politik und versprach einen vollständigen Umbau von Politik und Gesellschaft unter dem Begriff "Vierte Transformation". Dies in Anspielung an die drei vorherigen Umwälzungen in der Geschichte des Landes: Die Unabhängigkeit und die Reformgesetze im 19. Jahrhundert, sowie die Revolution von 1910 bis 1920.

Getragen werden soll diese neue, friedliche Revolution von Morena, der "Bewegung der nationalen Erneuerung", wie die neu gegründete Partei des Präsidenten heisst. Auch in der Legislative hält Morena dank Allianzen mit Kleinparteien zweifelhaften Rufs eine qualifizierte Mehrheit und inzwischen stellt sie in sieben der insgesamt 32 Bundesstaaten den Gouverneur. Doch gelingt dieser Umbau, oder zeichnet sich eher eine sozial abgefederte Variante des bisherigen Modells ab? Proteste von indigenen Organisationen gegen neue Grossprojekte werden laut, präsidiale Entgleisungen und echte oder erfundene Regierungsversagen sind auf den Titelseiten der grossen Medienunternehmen präsent. Die Leistungen sowie die Schattenseiten der neuen Administration sollen hier anhand der zentralen Themen kurz skizziert werden.


Realität und Wunschtraum

Mit der neuen Regierung gibt es weniger Repression als die Jahre zuvor, verkündete die Menschenrechtsorganisation Comité Cerezo. Agressionen gegen Menschenrechtler*innen seien 2019 spürbar zurückgegangen. Im Vergleich zur offenen Repression unter den Präsidenten Felipe Calderón (Partido Acción Nacional, PAN, 2006 bis 2012) und Enrique Peña Nieto (Partido Revolucionario Institucional, PRI, 2012 bis 2018) haben tatsächlich viele Bewegungen und Gemeinden im Widerstand eine Verschnaufpause. Und oft finden sie in den neuen Behörden auch kompetente Ansprechspersonen für einen echten Dialog über ihre Problematik. Beim Thema der Morde musste jedoch auch das der Morena-Regierung günstig gestimmte Comité Cerezo zugeben, dass die Zahlen nur minim zurückgingen. Die NGO Educa Oaxaca veröffentlichte am 1. November, dem Tag der Toten, eine Liste mit den Namen von 27 ermordeten Menschenrechtsaktivist*innen.

Eine der Diskurslinien des neuen Präsidenten ist, dass in den vorherigen Administrationen eine aufgeplusterte, teure Bürokratie regierte, welche oft die Umsetzung staatlicher Politik bloss simulierte, auch im Menschenrechtsbereich. Unrecht hat er damit nicht, immer wieder haben Opfer und NGOs ein Ende der Straffreiheit gefordert statt Almosen und Schutzprogramme für Menschenrechtsaktivist*innen. Nur, während Amlo alle Budgetposten zusammenkürzt, hinkt die Realität seinem Wunschtraum eines rechtsstaatlichen Mexikos hinterher.


Ende des Neoliberalismus?

Die stärkste Rethorik des Präsidenten Andrés Manuel López Obrador ist seine Kampfansage gegen jegliche Korruption. Alle sind sich einig, die Reichen und die grossen Konzerne profitieren davon, die Mafia sowieso, und die Mexikaner*innen von der Strasse leiden darunter. Tatsächlich ist für mexikanische Verhältnisse unglaublich viel geschehen: Das Klientelsystem alten Musters erhielt Risse, bisher unantastbare Figuren wie Bosse der gelben Gewerkschaften mussten unter dem Druck eingeleiteter Strafverfahren wichtige Posten aufgeben, Arbeitsrechte wurden eingeräumt, die systematischen Steuergeschenke an Grossfirmen sind gesetzlich verboten, Bauernorganisationen mit korrupten Anführer*innen machen vergeblich die hohle Hand bei Vater Staat.

So sah sich auch Eduardo Medina Mora, Richter des Höchsten Gerichtshofs, gezwungen, seinen Job zu künden, nachdem die neue Abteilung der Staatsanwaltschaft zur Untersuchung illegaler Finanzströme über fünf Millionen Dollar auf europäischen Konten des Richters gefunden hatte. Medina Mora, als Ex-Geheimdienstchef mitverantwortlich für Repression gegen soziale Bewegungen, war ein treuer Soldat des PRI. Er wurde von Peña Nieto in den höchsten Gerichtshof gehievt, wo er eigentlich noch weitere 13 Jahre im Amt geblieben wäre.

Auch bei den Grossprojekten machte die Administration Amlo erst mal das grösste Fass ohne Boden zu: Der Bau des neuen Grossflughafens bei Mexiko Stadt wurde gestoppt. Viele andere Projekte, auch im privatisierten Energiesektor, sind auf Eis gelegt. Nebeneffekt dieser oft sinnvollen Brems- und Sparpolitik in Verwaltung und Infrastruktur ist ein Nullwachstum in diesem Jahr. Noch ist unklar, wie weit diese von Amlo beschworene "Trennung von Politik und Ökonomie" und das "Ende des Neoliberalismus" wirklich geht. Indigene Gemeinden und soziale Organisationen hinterfragen die neuen Vorzeigeprojekte: den Maya-Touristenzug auf der Halbinsel Yucatán, eine neue Erdölraffinerie sowie den Güterkorridor im Isthmus von Tehuántepec, mit dem der Containertransport zwischen Pazifik zum Atlantik beschleunigt werden soll.


Neue gesellschaftliche Partizipation?

Am 12. Oktober dieses Jahres kündigten indigene Vertereter*innen der sozialen Bewegungen ihren dezidierten Widerstand gegen diese Grossprojekte an. Sie bezeichneten die Vierte Transformation kurz als "Vierte Destruktion" . Die Foren liefen unter dem Kampagnentitel "Gerechtigkeit für Samir Flores". Samir wehrte sich gegen den Bau eines Elektrizitätskraftwerks in Morelos. Dessen Inbetriebnahme wurde wegen ökologischer Bedenken gerichtlich verhindert, aber Amlo befand im Februar 2019, dass das Werk nun dennoch ans Netz gehen solle, diskriminierte die Gegner*innen pauschal als konservativ und improvisierte eine "Befragung", welche diesen Namen nicht verdient. Nur Tage vor der Befragung wurde Samir Flores vor seinem Haus in Amilcingo von einem Kommando erschossen. Der Mord des Menschenrechtlers und Radiomachers blieb straffrei. Aber auch das Elektrizitätskraftwerk konnte nicht in Betrieb genommen werden.

Generell stellt sich die Frage, wie weit die gesellschaftliche Partizipation in diesem neuen Mexiko wirklich gehen wird. Die indigenen Befragungen waren und sind bisher nicht ernstzunehmende Alibiübungen, eine gesetzliche Grundlage dazu wird erst erarbeitet. Das neue direktdemokratische Instrument der Volksbefragung ist nun in der Verfassung festgeschrieben, aber deren technische Durchführbarkeit ist fraglich, denn damit eine Befragung auf die Agenda kommt, brauchen die Initiant*innen die Unterstützung von 2 Prozent aller Stimmbürger*innen im riesigen Land, was 1.8 Millionen Menschen entspricht. Zum Vergleich: Parteiunabhängige Kandidat*innen erreichten während den letzten Präsidentschaftswahlen nicht mal die zur Postulation notwendige 1 Prozent-Hürde.


Widersprüchliche Aussenpoltik

Verblüfft hat auch Morena-Mitglieder die Legalisierung der Militarisierung des Landes durch die neue Guardia Nacional, einer Polizeieinheit mit militärischer Führung, wodurch das Militär, schon immer ein Staat im Staat, weiter an Einfluss gewinnt. Gleichzeitig tobt der Mafiakrieg weiter. Die Mordrate wird dieses Jahr neue Rekordwerte erreichen, obwohl sich im zweiten Halbjahr ein leichter Rückgang der Gewalt abzeichnet. Trump hat diese Schwäche des Nachbarn natürlich erkannt und spielt mit der Idee von militärischen Massnahmen in Mexiko. Der mexikanische Historiker Lorenzo Meyer beschrieb Mexikos "relative Souveränität" gegenüber den USA als geschichtliches Kontinuum, und diese Teil-Souveränität ist heute stärker bedroht denn je.

Auch die Aussenpolitik Mexikos war in diesem Jahr widersprüchlich. Das Einknicken vor Trump in der Frage der repressiven Migrationspolitik an der mexikanischen Südgrenze ist kein Ruhmesblatt für eine "linke" Regierung, welche erst offene Grenzen signalisierte und dann unter völlig widerrechtlichen Strafzolldrohungen der USA die neue Guardia Nacional in den Süden zur Abschreckung der Flüchtenden entsandte. Ein guter Moment der Aussenpolitik war das Asyl für Evo Morales im Zuge des Putsches in Bolivien. Auch in der Organisation Amerikanischer Staaten versucht Aussenminister Marcelo Ebrard, den Interventionsgelüsten des Pentagon in lateinamerikanischen Krisen etwas entgegenzusetzen.


Minimalrente verdoppelt

Die breite Unterstützung des Präsidenten in der pauperisierten Bevölkerung erklärt sich insbesondere durch neue Sozialprogramme: Direktüberweisungen ohne Mittelmänner und Disziplinarmassnahmen, Sozialhilfe für Studierende, Lehrlinge, für Bauern und Bäuerinnen. Und eine Verdoppelung der mickrigen staatlichen Altersrente: Acht Millionen Mexikaner*innen über 68 erhalten nun umgerechnet 65 Franken im Monat. Damit ist das prekäre Leben für Millionen von Mexikaner*innen ein gutes Stück leichter geworden, und das ist ungemein viel wert. Eine tiefer greifende Veränderung der gesellschaftliche Verhältnisse wird damit noch nicht erreicht. Zudem werden im neuen Staatsbudget 2020 die kostspieligsten Umverteilungsprogramme empfindlich gekürzt, dafür fliessen Milliarden in die ausgehölte Infrastruktur der Erdölgesellschaft Pemex, mit ungewissem Erfolg, ganz abgesehen davon, dass Mexiko seine Versprechen im Pariser Abkommen zum Klimaschutz so nicht einhalten kann.


Der Kampf geht in eine neue Runde

Viele Analysten sehen in der Politik Amlos ein "Zurück zu den Siebzigern", zum starken Staat mit einem ungebrochenen Fortschritts- und Entwicklungscredo. Die Ethnologin María Fernanda Paz schreibt dazu in ihrem Artikel "Die Sehnsucht des Präsidenten": "Ein Jahr ist eine kurze Zeit für eine Bilanz, aber genügend, um den gegangenen Weg und die Route zu beschreiben. Das Projekt dieser Präsidentschaft ist nationalistisch, desarrollistisch und etatistisch".

Mit Morena in der Regierung wurden neue politische Spielräume erkämpft, die auch kritische Stimmen nutzen, so die feministische Bewegung, welche radikaler denn je ihre Wut gegen den alteingesessenen Machismo und die ungebrochene Gewalt gegen Frauen* auf die Strassen brachte. Auch die indigene Bewegung ist präsent, und während der Zentralstaat das Friedensabkommen von San Andrés mit 23-jähriger Verspätung umzusetzen verspricht, haben die Zapatistas in einer territorialen Initiative zusätzliche Strukturen geschaffen. Unter neuen staatlichen Vorzeichen geht der Kampf der mexikanischen Gesellschaft um die territoriale Verteidigung ihrer Lebenswelten gegen die Kapitalinteressen und um politische Mitbestimmung in eine neue Runde.

Philipp Gerber lebt und arbeitet für medico international in Mexico

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 41/42 - 75. Jahrgang - 20. Dezember 2019, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Januar 2020

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