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VORWÄRTS/1437: Der Landesstreik ist keine Männerangelegenheit


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 03/04 vom 7. Februar 2019

Der Landesstreik ist keine Männerangelegenheit

von Sabine Hunziker


Zum 100-Jahre-Jubiläum wurden die Geschehnisse rund um den Landesstreik schweizweit gewürdigt. Aufgrund des in diesem Jahr stattfindenden Frauenstreiks wurde der vom Oltener Aktionskomitee ausgerufene Generalstreik neu im Hinblick auf die Rolle und die damalige Situation von Frauen aufgearbeitet. Zwei Ausstellungen erzählen auch davon.


Nicht nur die Forderung für das Frauenstimmrecht stand oben auf der Liste der Streikenden. Frauen haben zudem eine tragende Rolle bei den zuvor stattfindenden Hungerdemonstrationen gespielt, die zusammen mit dem Generalstreik sinnbildlich für die damaligen politischen Aktionen stehen. Viele sind sich heute einig, dass der Landesstreik einer der Meilensteine in der Geschichte der Frauenkämpfe in der Schweiz ist.

Die Schweizer Historikerin Elisabeth Joris führt dazu aus: "Die Frauen aus der Arbeiterinnenbewegung waren im Landesstreik zuerst mehr im Vorfeld einbezogen. Sie organisierten im Laufe des Jahres Demonstrationen, um gegen die Teuerung zu protestieren, machten Eingaben an die Behörden, damit die Lebenskosten gesenkt, Lebensmittel und Güter des alltäglichen Gebrauchs, wie Schuhe oder Kohle, gerechter unter die Bevölkerung verteilt und verbilligt wurden. Im Oltener Aktionskomitee waren sie nur mit einer Frau (Rosa Bloch-Bollag) und das auch nur für sehr kurze Zeit vertreten, ab dem Frühjahr 1918 nicht mehr. Während der Streiktage übernahmen Arbeiterinnen und Frauen aus der Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung Aufgaben, um die Kinder ausserhalb der möglichen Konflikte zwischen Militär und Polizei zum einen und den Streikenden zum andern zu betreuen. Sie versuchten die Soldaten zu überzeugen, sich gegen den Einsatz zu wehren, hielten ihre Genossen vom Alkoholtrinken ab und organisierten Essen für die Streikenden. Auf der anderen Seite unterstützten bürgerliche Frauen Soldaten mit Tee und Kaffee und munterten diese auf. Und vor allem: Sie kümmerten sich um die vielen an Grippe erkrankten Soldaten. Sie richteten Lazarette ein, das heisst sie organisierten Matratzen, Leintücher und, und, und ... einfach alles. Orte dafür waren vor allem Schulhäuser, Turnhallen und öffentliche Gebäude aller Art. Frauen nahmen also auf beiden Seiten - der linken und der bürgerlichen - weibliche Rollen ein. Verhandeln und Reden taten vor allem die Männer, auch wenn es gerade auf Seiten der Linken mit Anny Morf, Rosa Bloch-Bollag, Rosa Grimm, Agnes Robman und nicht wenig anderen ausgezeichnete politische Rednerinnen gab. Zum andern aber haben sich auch auf bürgerlicher Seite einige Frauenrechtlerinnen nicht einfach von den Streikenden distanziert, sondern begrüssten es sehr, dass Forderung Nummer 2 der Streikenden das Frauenstimmrecht war. Sie erwarteten vom Bundesrat, dass er diese Forderung umgehend umsetzen solle. Gemeinsam mit Vertreterinnen der Arbeiterinnen sassen sie auch in Ernährungs- und Gesundheitskommissionen. Auch gab es unter den Streikenden (gerade in der Tabak- und Textilindustrie) viele streikende Frauen. Auch nahmen während den Streiktagen viele an den öffentlichen Demonstrationen teil, die sehr, sehr ordentlich über die Bühne gingen. Die Arbeiterinnen trugen dabei meistens ihre besten Kleider."


Eskalation in Etappen

Auch die Ausstellung "Der Landesstreik 1918 - Die Berner Ereignisse" im Kornhausforum Bern, die von November 2018 bis Januar 2019 gezeigt wurde, hat unter anderem Frauenkämpfe im Fokus. Nur wenige Dokumente sind im kleinen Raum vom Berner Kornhaus ausgestellt. In einem Schaukasten liegen Karten oder Zeitungsartikel und an den Wänden befinden sich Bilder hinter Glas. Photographie heisst hier auch eingefrorene Momente aus den wenigen Tagen im November 1918. Männer dominieren die Szenen. Es gibt Soldaten, die sich stramm Schulter an Schulter aneinanderreihen und so fast ein Muster bilden - aber dabei auch den öffentlichen Raum besetzen. Gruppen aus der Bevölkerung, die beobachten ohne zu wissen, was in der nächsten Zeit passieren wird, sind im Hintergrund. Zuschauer sind von ihren Drahteseln abgestiegen, währenddessen Angehörige der Armee auf massigen Pferden vorbeireiten.

Der Generalstreik begann nicht eigentlich am 9. November 1918, wie er auch nicht am 14. November zu Ende war. So erzählt es diese Ausstellung. In den Köpfen begann der Streik spätestens ab Beginn des 1. Weltkrieges, als die Arbeiterbewegung gespalten wurde, weil Gewerkschaften und Parteien kriegsführende Staaten unterstützt und nur eine kleine Minderheit sich dem proletarischen Internationalismus verbunden fühlte. Versuche, die Arbeiterbewegung zu vereinen, wurden in der Schweiz 1915 bei der Konferenz von Zimmerwald oder später bei einem weiteren Treffen im Kiental gemacht. An der weissen Ausstellungswand im Kornhaus findet sich ein Photo des Hotels in Zimmerwald und gleich daneben hängt ein Portrait von Lenin. Etwa zeitgleich kommt es in Russland, Deutschland und Österreich-Ungarn zu Revolutionen und Aufständen.

Der Landesstreik ist eine Eskalation in Raten, das sagen die Ausstellungsmacher. Nach drei Jahren Weltkrieg ist die Erschöpfung gross und Ereignisse wie die Revolution in Russland oder der Kriegseintritt von der USA sind folgenreich. Auf einer Karte in der Vitrine, auf der sich eine Sichel über einen Hammer legt, ist der Spruch zu lesen: "Arbeiter folgt dem Beispiel Sovjet-Russlands". In der Schweiz ist innenpolitisch grosse Anspannung da. Der Bundesrat plant eine allgemeine Zivildienstpflicht, um mehr Lebensmittel zu produzieren und den als "unzuverlässig" geltenden Teil der Bevölkerung unter Kontrolle zu bringen. Proteste deswegen beantwortet der Bundesrat mit Truppenaufgeboten. Streik als Mittel des politischen Kampfes wird im Februar 1918 erstmals konkret ins Auge gefasst, als sich das Oltener Aktionskomitee, bestehend aus Mitgliedern der SP und der Gewerkschaften, bildet. In der nächsten Zeit eskaliert der Konflikt stufenweise, wobei die Lebensmittelpreise steigen und der Bundesrat den Kantonen die Ermächtigung gibt, die Versammlungs- und Pressefreiheit einzuschränken.

Dank ersten Interventionen des Aktionskomitees können Verbesserungen bei der Lebensmittelversorgung durchgesetzt werden. Eine Grippeepidemie erfasst das ganze Land und stellt für die ohnehin geschwächte und erschöpfte Bevölkerung eine grosse Belastung dar. Aufgrund von Gerüchten über Putschversuche lässt der Bundesrat Zürich und Bern militärisch besetzen.


Truppenaufgebote bringen Repression

Der eigentliche Streik beginnt am 9. November 1918, als 24h-Protest gegen das Truppenaufgebot in den Städten. In Zürich wird beschlossen, den Streik weiter zu führen, bis die Truppen die Stadt verlassen haben. Das Halten der Stellung bleibt nicht ohne Folgen. Ein Kommandant lässt eine Kundgebung gewaltsam auflösen und es gibt Verletzte und einen Toten. Nach diesem Zeichen der Repression dehnen sich Streik- und Protestaktionen im ganzen Land aus. Ein Tag später ruft das Oltener Aktionskomitee zum unbefristeten Landesstreik auf, der am 12. November beginnt.

Als viele ArbeiterInnen dieser Aufforderung folgen, kommt der Bundesrat mit dem eidgenössischen Parlament zusammen. Mit Unterstützung der bürgerlichen Parteien vertritt die Landesregierung gegenüber den Streikenden eine harte Haltung, verstärkte das Truppenaufgebot und die Repression. Am 13. November verlangt der Bundesrat einen Streikabbruch, ohne auf eine der Forderungen einzugehen. Bei einer Auseinandersetzung mit der Armee in Grenchen schiessen Soldaten in die Menge und töten drei Männer. So beschliesst das Streikkomitee am 14. November, den Generalstreik abzubrechen. Obwohl viele der Arbeiterschaft diesen Abbruch nicht verstehen, nehmen sie die Arbeit wieder auf. In Folge leitet die Militärjustiz über 3000 Verfahren gegen Streikende ein. Verurteilt wurde nur ein kleiner Teil davon, unter anderem wegen Meuterei, weil sie Soldaten dazu aufriefen, Schiessbefehle zu verweigern. Weitere Streiks folgen. Forderungen der ArbeiterInnen werden nach und nach erfüllt. Ab 1971 haben Frauen das allgemeine Stimm- und Wahlrecht.


Geschichte aus männlichem Blick

In Zusammenarbeit mit dem Gewerkschaftsbund der Stadt Bern entstand im Kornhausforum Bern eine Ausstellung zu den Ereignissen rund um den Landesstreik in der Bundeshauptstadt. Auf den ausgestellten Fotos sind kaum Frauen zu sehen, ausser bei einer Szene, bei der ein Lazarett abgebildet ist. Welche Rolle hatten die Frauen während des Landesstreiks im November 1918? Auf diese Frage antwortet Johannes Wartenweiler (unter anderem Sekretär Gewerkschaftsbund der Stadt Bern) auf Anfrage des vorwärts: "1918 war die Photographie noch ein sehr exklusives Medium. Die Zeitungen erschienen weitgehend ohne Fotos. Das änderte sich in den Jahren danach mit neuen und deutlich handlicheren Kameras. Beim Landesstreik kommt hinzu, dass er einseitig aus militärischer Sicht fotografiert wurde. Es gibt kaum Fotos von der anderen Seite. Angesichts der Tatsache, dass der Blick damals eindeutig männlich war, darf es deshalb auch nicht erstaunen, dass es kaum Fotos von Frauen gibt. Diese Tatsache wird der Rolle der Frauen während des Landesstreiks überhaupt nicht gerecht." Das Frauenstimmrecht stand an 2. Stelle beim Forderungskatalog des Oltener Aktionskomitees. Die Generalstreikforderungen erlebten in Folge unterschiedliche Schicksale. Während einige sehr rasch durchgesetzt wurden, dauerte es bei anderen etwas länger. Frauen konnten erst 1971 wählen und abstimmen (eidgenössische Abstimmung). In der Ausstellung finden sich dazu Wahlplakate rund um das Frauenstimmrecht. Eine Frage drängt sich somit auf: Warum hat die Umsetzung dieser Forderung so lange gedauert? Wartenweiler dazu: "Das Frauenstimmrecht war zwischen den Weltkriegen kein prioritäres Thema. Sonst hätte es schon damals einen Entscheid gegeben. Eine erste Abstimmung fand 1959 statt. Diese ging aber verloren. Es brauchte dann noch einmal mehr als zehn Jahre, um einer Selbstverständlichkeit zur Durchsetzung in der Verfassung zu verhelfen."

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 03/04/2019 - 75. Jahrgang - 7. Februar 2019, S. 8
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Februar 2019

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