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VORWÄRTS/1303: 100 Jahre Oktoberrevolution - Hochstapelei, Bittschrift und Revolution


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 23/24 vom 7. Juli 2017

Hochstapelei, Bittschrift und Revolution
100 Jahre Oktoberrevolution

Von Damian Bugmann


Kleine und grosse Bauernrevolten und als Reaktion der Behörden Repressions- und lntegrationsmassnhmen gab es in Russland durch die Jahrhunderte immer wieder. 1917 war eine Mehrheit der ArbeiterInnen, BäuerInnen, PolitikerInnen und Armeeangehörigen bereit für eine umfassende Revolution.


Unter der Herrschaft von Katharina II. am Ende des 18. Jahrhunderts war die soziale und rechtliche Lage besonders drastisch. Die Zarin verbot den BäuerInnen, Klage zu führen, erlaubte den Adligen Zwangsarbeit, Deportationen sowie Verpachtung und Verkauf von "FabrikbäuerInnen" an Industrieunternehmen. Sie verschenkte die Rekordzahl von einer Million "StaatsbäuerInnen" an ihre Günstlinge, die Situation der betroffenen BäuerInnen verschlechterte sich dadurch wesentlich. Unter ihrer Herrschaft gab es unzählige und besonders heftige Revolten.

Für unser heutiges Empfinden mutet das Wirken des legendären Rebells des Bauernkriegs von 1773-75 operettenhaft an, kann aber auch zustimmende Emotionen wecken: Der Donkosake Jemeljan Iwanowitsch Pugatschow gab sich als Zar Peter III. aus, der durch ein Wunder den Mordversuch seiner Gattin Katharina II. überlebt habe: "Sie sandten Mörder aus, aber Gott rettete mich." In seinem Ukas gegen "die adligen Verbrecher und bestechlichen Richter" von 1774 verfügte er die Abschaffung von Leibeigenschaft, Deportation, Zwangsrekrutierung und der zahlreichen Steuern, Lasten und Schmiergelder. Im Januar 1775 wurde er hingerichtet.


Folter und Prügelstrafe

Zwar wurde 1861 die Leibeigenschaft theoretisch abgeschafft, sie bestand aber faktisch weiter. Verschuldung, Steuererhöhungen und Missernten setzten den BäuerInnen zu. Folter und Prügelstrafe waren bis ins 20. Jahrhundert hinein eine Selbstverständlichkeit. Tausende BäuerInnen wurden permanent nach Sibirien zu Zwangsarbeit deportiert. Unter der Herrschaft von Nikolai I. von 1825 bis 1855 gab es 556 Bauernaufstände, davon allein 54 im Revolutionsjahr 1848. Adlige klagten überheblich über die Unfähigkeit zu Vernunft und Verstand der in Grobheit und Unbildung geborenen BäuerInnen und deren Hass und Misstrauen gegenüber dem Adel.


Bau des Eisenbahnnetzes

Die Industrialisierung Russlands kam in den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in Gang, später als im übrigen Europa. Richtig zur Sache ging es ab 1890 mit dem Bau des Eisenbahnnetzes, der riesige Mengen an Stahl, Metall, Steinkohle und Erdöl benötigte. Zahlreiche Arbeitsplätze entstanden, in Industriekrisen lebten Hunderttausende in Arbeitslosigkeit und Elend. Die Wohnungsverhältnisse waren schlecht, die ärztliche Versorgung war teuer. Betrug bei den Lohnabrechnungen und Zwang zum Einkauf in den Fabrikläden zu überhöhten Preisen waren Standard. Statt Arbeitsschutz gab es Verstümmelungen und tödliche Unfälle. Streiks kamen häufig vor, während der frühen Streiks zertrümmerten ArbeiterInnen Maschinen, Fenster, Fabrikläden und Kontore. Arbeiterbünde entstanden, die versuchten, die Interessen der ProletarierInnen wahrzunehmen, wurden aber bedrängt und oft zerschlagen. Die streikenden MetallarbeiterInnen in Petersburg glaubten im Januar 1905 naiv und sozialromantisch, den Zaren auf ihrer Seite zu haben, nur die Adligen und Beamten seien korrupt. Deshalb wandten sie sich zusammen mit dem Popen Georgi Gapon mit einer Bittschrift zur Linderung ihrer desolaten Lage direkt an ihn und wurden an diesem "Blutigen Sonntag" im Januar 1905 vom Militär zusammengeschossen. Laut Lenin gab es mehr als tausend Tote und 2000 Verwundete.


Agrarsozialismus der Narodniki

Das Modell der bäuerlichen Umteilungsgemeinde Mir wurde und wird gerne sozialromantisch idealisiert. In diesem Modell gab es keinen Grundbesitz, das bebaubare Land wurde abgesehen von einer Reserve unter den männlichen Mitgliedern verteilt, adlige Rechte galten. Schon die Narodniki oder VolkstümlerInnen hatten die bäuerliche Gesellschaft als Keim und Grundlage des Sozialismus betrachtet, die Bauernschaft unter Führung von intellektuellen VolksfreundInnen als revolutionäre Klasse. Sie waren überzeugt, der Kapitalismus werde sich in Russland nicht entwickeln und deshalb werde es auch kein Proletariat geben. Auch die SozialrevolutionärInnen als NachfolgerInnen der Narodniki wollten von der agrarischen Feudalgesellschaft ohne Umweg über die Industrialisierung zum Agrarsozialismus.

Der frühere Volkstümler Georgi Walentinowitsch Plechanow wurde am Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss von Marx' und Engels' Wirken zum Marxisten. Er schrieb, die Idealisierung der Dorfgemeinschaft sei "in Wahrheit eine bequeme Form zur Verschleierung der Machtstellung der reichen Kulaken und für den Zarismus ein billiges Werkzeug zur Eintreibung der Steuern". Durch die Zersplitterung des Landes und die Vereinzelung der KleineigentümerInnen seien die BäuerInnen schwieriger zu organisieren. Deswegen müsse das Industrieproletariat die führende Rolle übernehmen und für Demokratie und Sozialismus kämpfen.


Bauern- und Militäraufstände

Die Niederlage Russlands 1905 im russisch-japanischen Krieg löste Revolten in vielen Teilen Russlands aus, der "Blutige Sonntag" von Petersburg im Januar 1905 führte zur Revolution in Städten und auf dem Land, zu einer Welle von Bauernaufständen sowie politischen und ökonomischen Streiks. Die Bauernbewegung kam im 130 Millionen EinwohnerInnen zählenden Land zünftig in Schwung. Lenin spricht von 50 bis 100 Millionen revoltierenden BäuerInnen und einer Gesamtzahl von gut zwei Millionen Streikenden. Er hält weiter fest: "Die Bauernbewegung erzeugte Sympathie im Heer und führte zu Militäraufständen, zu bewaffneten Kämpfen eines Teils des Heers gegen einen anderen Teil." Die SozialdemokratInnen engagierten sich vor allem in den Fabriken und organisierten die ArbeiterInnen, schon 1895 hatten sie in Petersburg die etwa zwanzig marxistischen Arbeiterzirkel zum "Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse" vereinigt. Die Partei der Sozialrevolutionäre (PSR) war stärker auf dem Land aktiv.


Ernteausfälle und Hungersnöte

In Saratow an der Wolga im Schwarzerdegürtel gab es eine grosse agrarrevolutionäre Tradition, weil die Gegend durch die grosse Trockenheit sehr anfällig war für Ernteausfälle und Hungersnöte, dazu hatten die "befreiten" Leibeigenen 1861 64 Prozent ihres Nutzlandes verloren. Es war dort, wo BäuerInnen in der Revolution von 1905/06 aktiver waren als in anderen Gebieten. Weit über 1000 Güter von GrundbesitzerInnen wurden damals zerstört, 34.000 sogenannte AufrührerInnen wurden erschossen, 14.000 verwundet.

Seit 1890 war die PSR in Saratow und in den beiden anderen Schwarzerdegouvernements Tambow und Pensa tätig. Die russische Ärztin und Sozialrevolutionärin Lidija Petrowna Kotschetkowa, verheiratet mit dem Zürcher Arzt und KP-Kantonsrat Fritz Brupbacher, war 1906 in der Stille und Resignation nach der gescheiterten Revolution im Gouvernement Saratow. Manchmal hatte es in Saratow viele SozialrevolutionärInnen, nach Massakern, Verhaftungen und Verbannungen gar keine. Waren Kosaken in der Nähe oder auf Durchreise, war übelste Repression zu befürchten.


Geraubte Schreibmaschine

Die SozialrevolutionärInnen waren meist allein für ein riesiges Gebiet verantwortlich und hatten kaum Geld zur Verfügung. In der Zeit, als Lidija Petrowna im Landkreis Atkarsk PSR-Chefin war, war sie für 235 Dörfer im Radius von 250 Kilometern zuständig, in der Parteikasse war fast kein Geld. Die Parteikader sassen im Exil in London, eine überregionale Organisation und Koordination wie bei den SozialdemokratInnen gab es nicht. Diese waren auch aktiv im Gouvernement Saratow, die dortigen BäuerInnen unterstützten aber damals mehrheitlich die PSR, die sozialdemokratischen Bolschewiki erreichten auf dem Land erst im Oktober 1917 grösseren Zuspruch und Mehrheiten in den Bauernräten. "Es war eine schöne seelische Harmonie zwischen den Bauern und den Sozialrevolutionären", schreibt Petrowna 1906 über eine geheime Zusammenkunft in der Natur an Brupbacher. Aus ihrem eigenen Geld kaufte sie Waffen, mit denen die BäuerInnen GutsbesitzerInnen überfielen, Schuldscheine und andere belastende Dokumente verbrannten und sich nahmen, was sie dringend brauchten - auch eine Schreibmaschine, damit die Petrowna Flugblätter schreiben konnte. Ein Attentat auf den Saratower Gefängnischef schlug fehl. Sie beklagte, es sei schwierig, bei den BäuerInnen über einzelne Aktionen hinaus ein Bewusstsein für revolutionäre Veränderungen zu wecken. Trotzdem war durch die Kämpfe der Jahre 1905/06 das revolutionäre Bewusstsein auf dem Land gewachsen.


Landbevölkerung wehrt sich

Die Stolypinsche Agrarreform vom November 1906 brachte eine Spaltung der kleinen und mittleren Bauernschaft durch Privatisierungen: Mir-GenossInnen konnten ihre private Parzelle verlangen, Mir-Versammlungen das Land aufteilen, BäuerInnen durften den GrundbesitzerInnen Land abkaufen. Natürlich kam es zu Konflikten zwischen Mir-GenossInnen und ParzellenbesitzerInnen: 1915 wehrten sich Soldatenfrauen im Gouvernement Charkow heftig dagegen, dass Parzellenbauern die Abwesenheit ihrer Männer nutzten, um sich die besten Ländereien zu nehmen.

Doch die Spaltung verhinderte längerfristig den gemeinsamen Kampf nicht. In den bäuerlichen Unruhen nach der Februarrevolution im Frühling und Sommer 1917 eignete sich die Bevölkerung im Gouvernement Woronesch Gutshöfe an, weidete ihr Vieh auf Land der GrossgrundbesitzerInnen, erntete deren Felder, Wälder und Heuwiesen, setzte Pachtzinse herab und bezahlte diese an das zuständige Kreiskomitee. Unter dem Einfluss von Lenin wurde die Arbeit der Bolschewiki auf dem Land verstärkt, die Gründung von Kreis-, Bezirks- und Gouvernementskomitees vorangetrieben. Die Bolschewiki agitierten in Stadt und Land erfolgreich gegen SozialrevolutionärInnen, Menschewiki und AnarchistInnen und erreichten im Oktober 1917 eine Mehrheit im gesamtrussischen Sowjet. Bis zur systematischen Kollektivierung der Landwirtschaft vergingen aber noch mehr als zehn Jahre.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 23/24 - 73. Jahrgang - 7. Juli 2017, S. 11
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. August 2017

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