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VORWÄRTS/1258: Gegen die "Erhöhung der Miethzinse"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 01-02/2017 vom 20. Januar 2017

Gegen die "Erhöhung der Miethzinse"

Von Tarek Idri


Ende des 19. Jahrhunderts wurde In Zürich der Mieterverein gegründet, der sich für die Rechte der MieterInnen einsetzte. Es folgte eine wechselvolle Geschichte von der Gründung erster Baugenossenschaften, über ein Ära staatlicher Mietzinskontrollen, bis hin zum heutigen Mieterinnen- und Mieterverband.

"Nackte, feuchte Mauerwände, kein Ofen, keine Vorfenster, keine Küche, das Dach stellenweise undicht. Dieses elende Gelass wird von drei Familien mit elf Personen bewohnt! In der einen Kammer liegt der grippekranke Mann, im gleichen Bett der an beidseitiger Lungenentzündung leidende siebenjährige Sohn, in der zweiten Kammer hält sich die Frau mit drei kleinen Kindern, frierend in dem unheizbaren Raum." So beschreibt ein städtischer Bericht eine Szene in einer Mansardenwohnung im Zürich von 1918. Die Wohnungssituation war damals für breite Teile der Bevölkerung mehr als katastrophal. Es ist unleugbar, dass sich die Lage der arbeitenden Bevölkerung in der Schweiz verbessert hat. Gewisse Dinge sind aber gleich geblieben und hier zeigt sich das Buch von Niklaus Scherr "Nur noch für die Miete schaffen ...?" über die Geschichte der Zürcher MieterInnenbewegung besonders interessant. Noch heute beträgt das Verhältnis zwischen Mietzins und Lohn für die Arbeitenden weit mehr als die "als tragbar erachteten" 20 Prozent des Einkommens für die Wohnung, die schon Anfang des 20. Jahrhunderts nicht erreicht werden konnten.


Genossenschaft und Stadt

Der Zürcher Mieterverein (MV) wurde mit einem Grund, der auch heute für viele in der Stadt Zürich vertraut klingen dürfte, gegründet, nämlich dass es "angesichts der fortwährenden Erhöhung der Miethzinse" immer schwieriger wurde, in Zürich eine Wohnung zu finden. "Zur Wahrung der Interessen der Wohnungsmiether im Mittel- und Arbeiterstande" wurde 1891 der "Verein Züricher Wohnungsmiether" gegründet. Ein Jahr nach Gründung des MV konstituierte sich die erste Wohnbaugenossenschaft der Stadt Zürich: Die Zürcher Bau- und Spargenossenschaft. Das erforderliche Genossenschaftskapital machte allerdings einen Viertel bis einen Drittel eines damaligen Arbeiterjahreslohns aus und war für proletarische MieterInnen praktisch unerschwinglich.

Während dem Ersten Weltkrieg verteuerte sich der Wohnungsbau massiv und die Bautätigkeit ging stark zurück. Infolgedessen verschlechterte sich die Wohnungssituation für die ArbeiterInnen drastisch. Der Stadtrat versuchte, mit dem forcierten Bau von städtischen Wohnungen Gegensteuer zu geben. "Innert drei Jahren von 1918 bis 1920, erstellt die Stadt in einem einmaligen Kraftakt 722 Wohnungen, das ist mehr als die Hälfte aller Neubauwohnungen." Die Stadt verschuldete sich aber bis 1919 stark und wurde unter kantonale Zwangsverwaltung gesetzt. Sie musste die vollständige Kontrolle des Kantons über ihre Ausgaben akzeptieren und der geplante Bau von weiteren 700 städtischen Wohnungen wurde gestoppt.


Staatliche Mietpreisgestaltung

Ab 1914 setzte der Bundesrat mithilfe des Notrechts verschiedene Massnahmen gegen Mietzinserhöhungen und Kündigungen zum Schutze der Mieterlnnen durch. In der Stadt Zürich wurde eine kommunale Mieterschutzverordnung erlassen und ein Mietamt eingerichtet. "Danach waren etwa Kündigungen unzulässig, wenn sie lediglich zur Erzielung eines höheren Mietzinses ausgesprochen wurden." Der Gemeinderat verfügte, "dass bei Neuvermietungen von Wohnungen der bisher bezogene Mietzins (...) dem neuen Mieter nicht erhöht, und dass bei Neubauten kein höherer, als der nach der Höhe der Anlagekosten gerechtfertigte Mietzins verlangt werden dürfe." Der Stadtrat konnte in der Folge berichten, dass das Amt "zweifelsohne" präventiv wirkte, indem es die VermieterInnen abhielt, grundlose Mietzinssteigerungen und Kündigungen vorzunehmen. Bei vielen leerstehenden Wohnungen hatte bereits die blosse Androhung einer zwangsweisen Vermietung eine sofortige Wirkung zur Folge.

1936 wurde nach einer dreissig-prozentigen Abwertung des Schweizer Frankens vom Bund ein genereller Preis- und Mietenstopp verfügt. "Damit begann eine über dreissig Jahre dauernde Ära direkter staatlicher Eingriffe in die Mietpreisgestaltung, die in unterschiedlichen Formen und unterschiedlicher Intensität bis zum Dezember 1970 dauerte."


Kampf mit Initiativen

Zu den Aktivitäten des MV um den Zweiten Weltkrieg gibt das Buch nicht viel her. Grund für die einseitige Gewichtung auf die Anfangsjahre des Mieterverbands (über die Hälfte des Buches!) ist laut Scherr ein "gähnendes Loch" im Quellenmaterial nach den 20er Jahren. Aber auch die späteren Jahre des MV werden nicht mehr ganz so sorgfältig dargestellt. Scherr konzentriert sich dort vor allem auf Initiativen, die der MV lanciert, unterstützt oder bekämpft hat.

1982 lancierte der MV zum Beispiel eine moderate Initiative "Für Mieterschutz", die angenommen wurde. Die Initiative verlangte Schutz vor "unangemessenen Mietzinsen" und "ungerechtfertigten Kündigungen". Die Mieterschutzbestimmungen fanden Eingang ins ordentliche Obligationenrecht. Die 70er markierten eine Wende hin "zu einer aktivistischen, kämpferischeren Politik des Zürcher Mieterverbands. Im Hintergrund der Veränderungen im MV stand eine "kämpferischere Wohnungspoiitik, die sich ausserhalb der bestehenden Verbandsstrukturen artikuliert" hat. Die MV-Strategie in den frühen 70er Jahren erweist sich laut Scherr als voller Erfolg. Von 2600 Mitgliedern im Jahr 1971 kommt der MV zehn Jahre später auf über 10.000.


Mieterstreik oder Sozialpartnerschaft

Das vielleicht interessanteste Kapitel, worin alternative Organisationen und Kampfformen zum Mieterverband diskutiert werden, setzt Scherr an den Schluss. Dort behandelt Scherr auch den Zürcher Mieterstreik: Die Mieterlnnen des "verlotterten" Wohnhauses Quellenstrasse 6 im Industriequartier weigerten sich als erste, weiter ihre Miete zu zahlen, bis der Hausbesitzer eine Mietzinsreduktion zugestand. Ob der Zahlungsboykott spontan ausbrach oder von der Kommunistischen Partei planmässig ausgelöst wurde, ist laut Scherr unklar. Insgesamt beteiligten sich 600 Mieterlnnen am Streik. HausbesitzerInnen, MV, Stadtrat und die regierende SP polemisierten heftig dagegen und starteten eine Diffamierungskampagne. Aus der Darstellung von Scherr wird nicht ganz klar, ob der Streik Erfolg hatte oder polizeilich aufgelöst wurde.

Hans Itschner, der Anführer des Streiks, schrieb: Der Massen-Mieterstreik "erfordert von den Teilnehmern weniger Opfer als ein anderer Streik, weil er keinen Lohnausfall, sondern nur einen Mietzinsausfall bringt." Scherr hingegen zweifelt an der Wirksamkeit von Mieterstreiks: Die MieterInnen seien im Gegensatz zu Streiks am Arbeitsplatz in ihren Wohnungen vereinzelt. Die soziale Heterogenität sei ausgeprägter. Statt direkten Kampfmassnahmen hat sich der MV in seiner Geschichte primär "auf den gesetzgeberischen Prozess und individuelle Dienstleistungen" konzentriert. Mit einzelnen VermieterInnen und Verwaltungen habe sich sogar eine Art "Mini-Sozialpartnerschaft" entwickelt.

Ein Blick in die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung lohnt sich immer, auch für die eigene Praxis. Das Buch "Nur noch für die Miete schaffen...?" kann deshalb als Inspirationsquelle dienen für Aktionen und Strategien im Kampf für günstigen Wohnraum, und zwar nicht nur in Zürich, auch in anderen Schweizer Städten. Ein Aufruf zur Aktivität und zum Kampf ist es seitens Niklaus Scherr allerdings nicht.

Niklaus Scherr: Nur noch für die Miete schaffen ...?
Mieterinnen- und Mieterverband Zürich (Hrsg.), 2016. 15 Franken.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 01/02/2017 - 73. Jahrgang - 20. Januar 2017 S. 11
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. März 2017

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