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VORWÄRTS/1234: Der bedeutendste Schweizer aller Zeiten war ein Revolutionär


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 37/38 vom 21. Oktober 2016

Der bedeutendste Schweizer aller Zeiten war ein Revolutionär

Von Siro Torresan


Franz Rueb hat eine äusserst spannende, lesenswerte Biographie über Huldrych Zwingli geschrieben und sich somit einen Jahrzehnte lang gehegten Wunsch erfüllt. Der 83-jährige Autor beschreibt eingehend die verschiedenen Etappen im Leben des Reformators, der als Bauernsohn im Toggenburg geboren wurde. Zwinglis revolutionäre Ideen, Taten und Kämpfe werden in einen gesellschaftspolitischen Zusammenhang gestellt. Mit seiner Zwingli-Biographie gelingt Franz Rueb ein Gesamtgemälde von Zwingli und jener Zeit der Eidgenossenschaft. Ein Gespräch mit dem Autor, in dem auch auf die Widersprüche von Zwingli eingegangen wird.


vorwärts: Franz, was ist an deiner Zwingli-Biographie anders als bei anderen?

Franz Rueb: Die sogenannten wissenschaftlichen, historischen Bücher sind alle mehr oder weniger positiv gegenüber Zwingli. Es gibt praktisch kein Buch, das Zwingli zerreisst oder schlecht darstellt. Doch die Bücher sind ohne Leidenschaft, ohne Engagement. Das ist der Hauptunterschied zu meinem. Es gibt in der Bevölkerung eine diffuse Abneigung gegen die Figur Zwingli. Ich habe nie begriffen, warum das so ist. Mein Buch ist eine Art Huldigung an diese Figur. Für mich ist Zwingli einer der bedeutendsten Eidgenossen, die es je gegeben hat. Ja, der bedeutendste Schweizer in der ganzen Geschichte der Schweiz.


vorwärts: Der bedeutendste Schweizer aller Zeiten?

Franz Rueb: Ja, er war ein ganz kluger und klarer Kopf. Er war voller Vernunft, Martin Luther hingegen sprach von der Hure Vernunft. Zwingli kannte einen schönen Teil der lateinischen und griechischen Literatur. Er hat sich sehr intensiv damit befasst und dieses Wissen oft in seine Predigten einfliessen lassen. Er hat nie eine Predigt aufgeschrieben, sondern immer frei gesprochen. Zudem war Zwingli ein ganz grosser Briefeschreiber, für den man sich begeistern kann. Die Briefe waren bis zu 20 Buchseiten lang und Zwingli schickte sie an unzählige EmpfängerInnen. Er sass bestimmt stundenlang an diesen Briefen. Zwingli war ein grosser Theoretiker und ein grandioser Praktiker. Solche Figuren sind selten. Er hat eine ganze Republik religiös und sozial umgekrempelt, in 12 Jahren! Er hat seine Feindschaften lässig genommen. Auch das spricht für seine Grösse. Er war kein Schwätzer, kein Angsthase, weit weg von einem Hintenherum-Mann. Er war immer und in allen Belangen von grösster Offenheit.

Wie gesagt, ich wollte ein Buch herausgeben, das eine Art Huldigung an diese Figur ist. Es gibt aber auch zwei Punkte, die ganz wesentlich in seinem Leben sind, die man ihm vorwerfen kann: Einer ist, auch wenn dieser sehr umstritten ist, die Sittenzucht, die durch Mandate vom Rat festgelegt wurden wie Gesetze. Der Grosse und der Kleine Rat war die gesetzgebende Instanz jener Zeit in Zürich. Man hat die Bevölkerung mit Vorschriften drangsaliert, man hat sie kontrolliert, ja sogar bespitzelt. Darüber gibt es aber widersprüchliche Darstellungen. Der zweite Punkt ist sein Verlassen der pazifistischen Politik. Zwingli hat sich auf den Krieg eingelassen, zu dem die katholischen Kantone aufgerufen und gehetzt hatten. Er hat schliesslich die Waffengewalt gewollt.


vorwärts: Warum hat er sich vom Pazifismus verabschiedet?

Franz Rueb: Man kann es bis zu einem gewissen Grad verstehen oder sagen wir es so: Ich hab ein gewisses Verständnis dafür. Die Katholiken waren vollkommen verhärtet in ihrer Haltung, sie haben für die Ideen von Zwingli nicht das geringste Musikgehör entwickelt. Sie haben keine so genannte Weichheit an den Tag gelegt und haben früh zum Krieg aufgerufen und dann immer wieder. Bereits 1523 haben sie zum Krieg gegen Zürich aufgerufen. Zwingli schrieb 1529: "Der Friede, auf den gewisse Leute so sehr aus sind, ist Krieg, nicht Friede. Und der Krieg, für den wir so eifrig rüsten, ist Friede nicht Krieg, denn wir dürsten ja nach niemandes Blut und werden auch im Schlachtgetümmel nicht wohl daran leben. Es geht uns nur darum, dass der Oligarchie der Lebensnerv abgeschnitten wird. Wir haben nichts Grausames im Sinn, sondern all unser Vorhaben zielt auf Freundschaftliches und Väterliches. Wir wollen nichts anderes, als die Freiheit der Verkündigung schützen." Dies ist wohl seine tiefere Argumentation in Sachen Krieg.


vorwärts: Und zwei Jahre nachdem er diese Worte geschrieben hatte, zog er in den Krieg und wurde vernichtend geschlagen.

Franz Rueb: Ja, so ist es. Ich hab kürzlich, das heisst nach der Herausgabe meines Buchs, die Arbeit eines Historikers gelesen, die einen unheimlich interessanten Einblick in die ganze Kriegsführung gibt. Es war so, dass die Katholiken von einer ganz jungen, radikalisierten, fanatisierten Horde angeführt waren, sie haben auf die Reformierten eingeschlagen, sie haben die Reformierten überfallen. Am Ende waren die Reformierten in einer grossen Übermacht, sie hatten 30.000 bis 40.000 Mann, und die Katholiken etwa 8.000, aber eben angeführt von einer Horde fanatischer junger Männer, die haben auf eigene Faust ihre eigene Schlacht herbeigeführt. Zweimal ist dies geschehen. Diese Horden standen nicht unter einem Oberbefehl, sondern sie haben eigenmächtig gehandelt. Die Schlachtführung der Reformierten sei kommunalisiert, diszipliniert worden. Das ist eine hoch interessante These. Das hab ich auch nicht gewusst, aber auf diese Tatsache werde ich in der zweiten Auflage eingehen.


vorwärts: Dann gibt es also eine zweite Auflage deiner Zwingli-Biographie?

Franz Rueb: (lacht) Ich hoffe es sehr, ja!


vorwärts: Schmälert diese Widersprüchlichkeit von Zwingli nicht dein Gesamtbild von ihm?

Franz Rueb: Nein, das tut es nicht. Es war natürlich eine komplett andere Zeit, das muss man sich immer vor Augen halten. Man argumentierte auch ganz anders. Der Krieg war etwas viel Normaleres als heute. Die waren ja ständig im Krieg.


vorwärts: Der Widerspruch bleibt eklatant: Zwingli der Pazifist, der das Evangelium predigt, dann aber doch in den Krieg zieht. Wie kann man das erklären?

Franz Rueb: Das ist ganz, ganz schwierig. Man kann es nicht einfach negieren, man kann es nicht einfach ausser Acht lassen. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass Zwingli am Ende seines Lebens seine pazifistische Politik verlassen hat. Das ist eine Tatsache, die man ihm zum Vorwurf gemacht hat. Es war im Speziellen der Anführer der Religiös-Sozialen Bewegung, Leonhard Ragaz (1868-1945), ein ernstzunehmender Kritiker. Ragaz sagte: "Wo hat je ein Schweizer so gross gedacht, wo je ein Schweizer die Schweiz so gross gesehen und verstanden. (...) Glaubt ja nicht, das ein sicheres und sattes Durchschnitts-Christentum etwas mit Zwingli zu tun hätte." Was am Ende sein Drängen zur Schlacht angeht, nannte Ragaz dies einen "schuldigen Irrtum". Ich würde dies unterstreichen, aber ich würde auch versuchen zu verstehen, was in der Politik von Zwingli dazu geführt hat. Zwingli sagte dazu oft: "Wer jetzt nicht schlägt, wird geschlagen."


vorwärts: Das erinnert stark an Georges Bush, der nach dem Anschlag vom 11. September 2001 sagte: Entweder für mich oder gegen mich.

Franz Rueb: Wie erwähnt, der Entscheid in den Krieg zu ziehen, ist ein sehr strittiger Punkt im Leben von Zwingli. Er hatte immer die ganze Eidgenossenschaft im Kopf. Er wollte immer, dass die ganze Eidgenossenschaft seine Politik, seine Philosophie annimmt.


vorwärts: Also Zwingli der Politiker. Was für eine Eidgenossenschaft stellte er sich vor?

Franz Rueb: Eine humanistische und eine evangelische, eine Eidgenossenschaft von Brüderlichkeit. Zwingli hat auch in Kirchenangelegenheiten eidgenössisch gedacht. Er war ein Patriot, dieser Tatsache widme ich im Buch ein ganzes Kapitel. Er hat aber auch international gedacht und Bündnisse mit Venedig, mit süddeutschen Städten, mit Hessen, mit Strassburg, Konstanz und so weiter und so fort gesucht und auch hergestellt. Er widmete eines seiner wichtigsten Bücher dem französischen König, den er für die Zukunft zu gewinnen hoffte.


vorwärts: Du attestierst Zwingli einen "politischen Instinkt". Er war ein grosser Taktierer. er hat eine Entscheidung nie forciert. Diesbezüglich ging mir beim Lesen des Buchs oft Lenin durch den Kopf, der bekanntlich zur revolutionären Geduld mahnte. Trifft das auf Zwingli zu?

Franz Rueb: Ja, natürlich das sowieso. Ich glaube diesbezüglich ist Zwingli eine ältere Ausgabe des Leninismus. Ich staune über Zwingli, wie er immer auch Vorsicht hat walten lassen. Er hat Stimmen, die zu gewisser Vorsicht plädiert haben, immer unterstützt. Es gibt viele Beispiele dafür. Es ist natürlich auch so, dass Zwingli nicht erst 1523 begonnen hat, das heisst nach der Disputation in Zürich, bei der Zwingli seine 67 Thesen zur göttlichen und menschlichen Gerechtigkeit darlegte und auf der ganzen Linie einen Sieg erringen konnte. Zwingli hat bereits vor 1519 begonnen, sein reformistisches Gedankengut zu predigen. Am Sonntag, dem 1. Januar 1519, begann dann Zwingli seine Tätigkeit als Leutpriester des Grossmünsters in Zürich und hat gleich von der Kanzel angekündigt: Ich werde jetzt das Matthäus-Evangelium auslegen, "durch und durch mit göttlicher Wahrheit und nicht nach Menschenhand. Ab da ging es los. So ist es das Jahr 1519, das man als Startschuss für die Reformation bezeichnen kann, denn ab da ist einiges ins Rollen gekommen.

Zum politischen Instinkt noch Folgendes, auch wenn dies nicht so einfach ist: Politischer Instinkt ist eine Fähigkeit, sicher zu urteilen, sicher zwischen den Klassen und den gesellschaftlichen Gruppen zu wählen, sicher für den Schwachen oder Schwächeren Partei zu ergreifen. Aktionen einzuschätzen, was sie auslösen. Zum Beispiel die grossen Disputationen kamen zu Stande, weil Zwingli spürte, dass er die ganze Pfarrschaft und den ganzen Grossen und Kleinen Rat zusammenbringen musste, um sie zu instruieren, zu informieren, auch sie herauszulocken. Zwingli hat dem Rat die Disputation vorgeschlagen, der Rat ging auf seinen Vorschlag ein. Solche Disputationen gab es in Zürich insgesamt drei und nochmals so viele wurden mit den Täufern abgehalten. Zwingli war also ein Demokrat durch und durch.


vorwärts: Ein wichtiger Kampf von Zwingli war auch jener gegen die sogenannten Täufer. Warum?

Franz Rueb: Zwingli nannte sie "die frommen Sauertöpfe" oder das "melancholische Fleisch", sie könnten mit niemandem fröhlich sein. Sie hatten ein pathologisches, Verhältnis zur realen Umwelt. Vordergründig war die Tauffrage im Zentrum. Die Kindertaufe galt ihnen nichts. Sie behaupteten die Erwachsenentaufe, konnten aber nicht sagen, an welcher Stelle das in der Bibel stand. Sie waren gegen den Staat, sie waren Schwarmgeister, SektiererInnen. Für Zwingli war das der schwierigste Kampf im ganzen Reformationsprozess. Sie anerkannten keine Obrigkeit. Sie wurden mehrmals verhaftet, kamen aber immer wieder frei. Zwingli hat immer den Rat gebeten, Milde walten zu lassen. Das ist auch ein wichtiges Detail über die Formation und die Persönlichkeit von Zwingli. Er führte insgesamt drei Disputationen mit ihnen durch. Und er veröffentlichte insgesamt fünf Schriften, die sich mit den Täufern auseinandersetzten. Zur Prahlerei der Täufer, sie hätten sich nach der vollzogenen Taufe wie neue Menschen gefühlt, entgegnete Zwingli: 'Das wär eine gute Mär, wir sollten doch alle in der Limmat baden gehen, wenn die Wiedergeburt so billig zu haben wäre.'


vorwärts: Du gehst in deinem Buch stark auf die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge jener Zeit ein. War es auch deine Absicht, diesen Teil der Schweizer Geschichte aufzuzeigen?

Franz Rueb: Ja, natürlich. Wenn du ein Buch über Zwingli schreibst, dann musst du ein Gesamtgemälde erstellen. Durch die Reisläuferei, also durch die Geschäfte mit lebenden jungen Schweizern, sind Zehntausende von ihnen umgekommen.


vorwärts: Fehlte eine Zwingli-Biographie, die so ein Gesamtgemälde zeichnet, welche die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge und die Profitinteressen von wenigen stark betont?

Franz Rueb: Nein, das kann man so nicht sagen. Die Problematik der Reisläufer kommt praktisch in jedem Buch über Zwingli vor. Die Problematik der Soldbezüger ebenfalls, also jener, die im Dienst der Franzosen, des Papstes und des Kaisers standen. Einer der Profiteure war auch ein Zürcher, nämlich der Vater des jungen Anführers der Täufer. Der hat innerhalb von wenigen Jahren Tausende und Tausende von Gulden bekommen. Er und seinesgleichen haben Tausende und Tausende Jugendliche an den Papst und an die Franzosen verkauft und dies für ihren eigenen Profit. Zwingli hat immer eine antifranzösische Politik betrieben. Er musste von Glarus deswegen wegziehen, wo er ab 1506 bis 1516 seine erste Stelle als Priester hatte, da die Partei der Franzosen in Glarus an die Macht kam.


vorwärts: Du stellst Zwingli als Revolutionär, gar als Klassenkämpfer dar, was macht ihn dazu?

Franz Rueb: Seine Sozialpolitik; Klöster wurden zu Spitälern und Zürich hatte die ersten sozialen Gesamtmassnahmen für Vernachlässigte. Zürich hatte das erste Ehegesetz. Er nannte die Arbeit eine Kräftigung der Republik. Er nahm zwei im Reich verfemte als Flüchtlinge auf. Dies um nur einige Beispiele zu nennen.


vorwärts: Zwingli der Revoluzzer, ist das auch deine Botschaft an die heutige Generation, dass gesellschaftspolitische Veränderungen möglich sind, wenn man nur will?

Franz Rueb: Ich würde sagen, dass es unterschwellig so ist. Wenn das eintreten sollte, dann wäre das eine wunderbare Nebenwirkung, oder sogar vielleicht eine Hauptwirkung.


vorwärts: Zwingli war also ein Anführer, eine Leaderfigur, wie man heute so sagt.

Franz Rueb: Ja, das war er zweifellos. Und er war dabei ziemlich alleine und einsam. Denn man muss wissen, dass zu jener Zeit die Priester nicht gebildet waren, sie kannten selbst die Bibel nicht, sie hatten keine Ahnung von ihr, stell dir das mal vor. Rom, das heisst die Kurie in Rom, hatte kein Interesse an gebildeten und in der Bibel geschulten Priestern. Dies um die Vormachtstellung und Privilegien der Kurie zu sichern. Zwingli hingegen hat 15 Jahre lang intensiv die heiligen Schriften in mehreren Sprachen studiert. Und das zeigt auch, wie man mit Lesen, mit Studieren etwas erreichen kann. Zwingli ist dafür ein grossartiges Beispiel, ein Vorbild.


vorwärts: Ist dies jetzt eine Aufforderung an die heutige Jugend, etwas weniger mit dem Handy zu spielen und dafür mehr Bücher zu lesen?

Franz Rueb: Ja sicher! Ob es jetzt als eine direkte Aufforderung taxiert werden kann, sei mal dahingestellt... Aber man kann es sicher so zwischen den Zeilen lesen (lacht).


vorwärts: Es war auch die Zeit der Bauernaufstände. Wie war die Beziehung von Zwingli zu den Bauern, was für eine Politik verfolgte er in dieser wichtigen Frage?

Franz Rueb: Zu Beginn seiner Karriere in Zürich war er gegen die Leibeigenschaft und gegen die Abgabe des Zehnten. Er hat dazu theologische Argumente entwickelt. Am Ende seines Lebens hat er sich davon distanziert und hat tatsächlich die Politik der Ratsherren gegen die Bauern durchgesetzt. Dazu hat auch der Schweizer Sozialistenführer Robert Grimm (1881-1958) eine sehr intelligente Bemerkung gemacht, ohne Zwingli in die Pfanne zu hauen. Auch für Robert Grimm war Zwingli einer der grössten Schweizer der Geschichte. Aber er hielt auch fest, dass Zwingli sich klassenmässig für die damals Herrschenden und gegen die Bauern entschieden hat.


vorwärts: Umso spannender, dass Zwingli im Jahr 1525 den Tiroler Revolutionsführer Michael Gaismair faktisch als politischen Flüchtling aufnahm. In seiner Studie über den deutschen Bauernkrieg schreibt Friedrich Engels über Gaismair, dass er der 'bedeutendsten revolutionäre Kopf' des Bauernaufstands war.

Franz Rueb: Ja, zwischen den beiden entwickelte sich eine interessante, geistige Freundschaft. Sie haben gemeinsam Pläne ausgeheckt, wie man in Zukunft Europa organisieren könne. Sie haben sich gegenseitig sehr geschätzt und führten gemeinsam viele Gespräche. Nach einem halben Jahr hat Gaismair Zürich wieder verlassen. Ob Gaismair einen Einfluss auf Zwingli hatte, weiss man nicht genau. Sicher ist, dass Zwingli sehr selbßtständig war.


vorwärts: Du beschreibst in deinem Buch, wie die Radikalisierung von Zwingli ein Prozess war. Gab es beim jungen Zwingli ein Ereignis oder eine Person, die ihn besonders prägte oder gar beeinflusst hat?

Franz Rueb: Erasmus spielte da eine ganz grosse Rolle. Erasmus hat im Jahr 1516 seine wissenschaftliche Ausgabe des griechischen Neuen Testaments herausgebracht. Zwingli hat immer wieder von sich gesagt, dass er ab 1516 begonnen habe, evangelisch zu predigen und zur Philosophie von Erasmus gefunden habe. Er begann das Erasmus-Evangelium als Grundlage seines Predigens zu benutzen, führte dies dann auch in Einsiedeln 1517 und 1518 und natürlich dann ab 1519 in Zürich weiter. Erasmus war für Zwingli also eine ganz wichtige Figur, auch wenn er sich später von ihm gelöst hat.


vorwärts: Warum hat er sich von Erasmus gelöst?

Franz Rueb: Es entstand nie eine richtige Freundschaft zwischen ihnen beiden. Erasmus hatte mit Politik nicht viel am Hut und er war ein Zauderer. Ein Beispiel dafür ist auch, dass Erasmus es abgelehnt hat, nach Zürich zu kommen. Zwingli hatte ihm dies vorgeschlagen mit dem Einverständnis der Räte. Zwingli hingegen war ein Macher, der immer vorwärts geschaut hat. Er war sehr früh unabhängig von Erasmus und hat dies auch betont.


vorwärts: Verlassen wir kurz mal die Vergangenheit und kommen zum Heute: Warum eine weitere Zwingli-Biographie? Es gibt doch schon einige.

Franz Rueb: Ich habe ab dem Jahr 1984 begonnen, mich mit Zwingli zu befassen. Ich hatte in meinem Arbeitszimmer Dutzende von beschrifteten Schubladen und mehrere grosse Schachteln voller Materialien über Zwingli. Ich hatte schon einige Artikel über ihn verfasst, aber eben nie ein Buch. Ich hatte mir vorgenommen, gegen Ende meines Lebens das Thema nochmals aufzunehmen, da es ein lange gehegter Wunsch war. Ich wusste natürlich vom Jahr 2019 als grossem Zwingli-Jahr, dem 500. Jahrestag der Reformation.


vorwärts: Warum dieser Wunsch?

Franz Rueb: Ich kann dir nicht genau sagen, was mich geritten hat, an meinem Lebensende noch ein Zwingli-Buch schreiben zu wollen. Es hat mit Religion aber gar nichts zu tun. Ich hab dann mit 81 Jahren, im Frühling 2014, mit den Arbeiten begonnen, kurz darauf den Verlag "Hier und Jetzt" kontaktiert und einige Kapitel geschickt. Bereits nach einer Woche traf ich mich mit einem Mann und einer jungen Frau des Verlags, die dann auch meine Verlegerin wurde. Zur Entstehung des Buchs will ich noch eine Anekdote erzählen: Ich habe bei der reformierten Kirche einen Antrag für eine Mitfinanzierung gestellt. Dieser wurde abgelehnt. Eine Begründung haben sie nicht geliefert, das ist aber so üblich: Sie sagen entweder Ja oder Nein und liefern keine Begründung dazu ab. Ein paar Monate später hat der Verlag bei der Stadt Zürich einen Druckkostenbeitrag verlangt, der wurde auch abgelehnt. Und zwar hat eine Frau, die jahrelang Lektorin beim Unions-Verlag war, abgewinkt. Sie hatte kein Verständnis für ein Zwingli-Buch und hat es a priori abgelehnt.


vorwärts: Hat sie eine Begründung genannt?

Franz Rueb: Nein, auch nicht. Ich glaube, dass diese Frau mit dem Thema einfach überfordert war und die gängigen Vorurteile über Zwingli im Kopf hatte. Sie hatte bisher ausschliesslich mit Romanen aus der Dritten Welt zu tun. Danach hat sich der Verlag bei mir gemeldet. Er war unsicher, weil an zwei Orten die Finanzierung abgelehnt wurde. Ich hab mit dem Verlag das ganze Manuskript nochmals durchgesehen und einige Vorschläge übernommen. Es waren alles Kleinigkeiten, mit denen ich problemlos einverstanden war und die ich ohne weiteres annehmen konnte. Und so stand dem Erscheinen des Buchs nichts mehr im Wege.


vorwärts: Verbinden wir die Vergangenheit mit dem Heute: Was hat Zwingli im Jahr 2016 für eine Bedeutung?

Franz Rueb: Er ist natürlich der Schöpfer der Reformation. Historisch bin ich der Ansicht, dass ich mit meinem Buch vielleicht eine Grundlage geschaffen habe für eine neue Sicht auf diese wichtige Figur. Bis zu einem gewissen Grad.


vorwärts: Braucht es wieder einen Zwingli, oder gleich mehrere?

Franz Rueb: Nein, das würde ich nicht sagen. Ich glaube nicht, dass es heute einen Zwingli als Glaubensführer braucht. Aber eine ähnliche Gestalt in der Politik wäre nicht zu verschmähen.


vorwärts: Weniger als Glaubensführer, aber als Person, welche die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge analysiert und den Menschen erklären kann.

Franz Rueb: Das auf jeden Fall, ja!


vorwärts: Vielen Dank für das Gespräch Franz. Wir freuen uns auf die zweite Ausgabe deiner Zwingli-Biographie.


Franz Rueb: "Zwingli. Widerständiger Geist mit politischem Instinkt.", Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte, 254 Seiten, 39.00 Franken,
ISBN Druckausgabe 978-3-03919-2, ISBN E-Book 978-3-03919-918-8


ZUM AUTOR

Franz Rueb ist freischaffender Autor und war viele Jahre als Journalist, Theater-, Film- und Literaturredaktor tätig. Er hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht, darunter "Hexenbrände - die Schweizer Geschichte des Teufelswahns" und "Ausmisten", ein historischer Roman zum letzten Zürcher Hexenprozess 1701.
Doch steht der Name Franz Rueb auch für die 68er-Bewegung. Dazu ist auf Wikipedia über ihn zu lesen: "Er galt von 1967 bis 1969 als Galionsfigur in der 68er-Bewegung in Zürich und sass gleichzeitig für die Partei der Arbeit im Zürcher Kantonsrat."
Wer mehr über den Autor erfahren will, dem sei die Autobiographie "Rübezahl spielte links aussen. Erinnerungen eines Politischen" aus dem Jahr 2009 ans Herz gelegt. Darin verarbeitet und erzählt Rueb seine Kindheit in Heimen und seine politische Rolle in der 68er-Bewegung. Das Buch ist sehr spannend und amüsant zum Lesen. Auch in diesem Werk stellt Rueb die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge her. Die Autobiographie von Rueb erzählt somit auch die Geschichte der Schweiz während der Kriegsjahre bis zum Ende der 60er Jahre. Seine Aktivitäten in der Bewegung schildert er gekonnt anhand seiner Fiche, die er vom Staatsschutz erhalten hat und die peinlich genau ist.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 37/38 - 72. Jahrgang - 21. Oktober 2016, S. 8-9
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: Vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
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Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. November 2016

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