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VORWÄRTS/1192: Guerrero in Mexiko - Nach dem Verschwinden


vorwärts - die sozialistische Zeitung, Nr. 17/18 vom 6. Mai 2016

Nach dem Verschwinden

Von Philipp Gerber


Rund eineinhalb Jahre nachdem in Guerrero (Mexiko) 43 junge Menschen spurlos verschwunden sind, ist ihr Schicksal noch immer ungeklärt. Eine Gewalteskalation hält die Bevölkerung in Angst und Schrecken.


Es war der 26. September 2014 als 43 Studentinnen einer linken pädagogischen Schule in Ayozinapa spurlos verschwunden sind. Die jungen Menschen waren an diesem Tag auf dem Weg in die Stadt Iguala, um Spenden für politische Aktivitäten zu sammeln.

Die Mobilisierungen von Angehörigen und solidarischen Organisationen hatte die Staatsanwaltschaft Mexikos dazu gezwungen, im Fall von Ayotzinapa internationale Expertinnen zuzulassen, darunter ein argentinisches Forensikteam und die Gruppe der Unabhängigen Internationalen Expertinnen (GIEI) der Interamerikanischen Menschenrechtskommission. Sie begleiteten die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft kritisch und wiesen im September 2015, nach 6-monatiger Untersuchung, die von der Staatsanwaltschaft als "historische Wahrheit" präsentierte Version, dass die 43 Jugendlichen auf einer Müllkippe verbrannt worden seien, zurück. Für die Geschichte der Staatsanwaltschaft liessen sich keine Forensischen Beweise finden. Stattdessen forderte die GIEI eine Untersuchung der Rolle der Armee; mehrere Indizien deuten darauf hin, dass die Militärs über die Ereignisse in der Nacht des Verbrechens Bescheid wussten. Die Staatsanwaltschaft weigert sich jedoch, Verhöre der Soldaten im Beisein der Expertinnen durchzuführen.


Angehörige gesundheitlich angeschlagen

In den vergangenen Monaten wurde die Arbeit der GIEI indes stetig schwerer. Immer mehr sahen sie sich mit Diffamierungskampagnen aus rechten Kreisen konfrontiert. Schliesslich kündigte die mexikanische Regierung nun die Zusammenarbeit mit der ExpertInnengruppe auf Ende April 2016 unilateral auf.

Ein schwerer Schlag für die Freundinnen und Familien der verschwundenen Studentinnen: Seit eineinhalb Jahren wissen sie nicht, was in jener Nacht im September 2014 geschehen ist. Der emotionale Ausnahmezustand und die andauernde Mobilisierung, um den Druck auf die Behörden aufrecht zu erhalten, fordern ihren Tribut: Gemäss dem Komitee gegen Folter und Straflosigkeit (CCTI), welches die Angehörigen und KomillitonInnen in Ayotzinapa begleitet, leiden insbesondere die Eltern der Verschwundenen immer häufiger an chronischen Krankheiten wie Bluthochdruck und Diabetes. "Jede unsensible Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft, an der über den Mord an den Studentinnen spekuliert wird, ohne Beweise vorzulegen, ist eine neue Belastung für die Gesundheit der Angehörigen", warnt Raymundo Díaz, Arzt des CCTI.


"Rückschritt in den Autoritarismus"

Dass das Schicksal der Verschwundenen aus Ayozinapa nicht aufgeklärt und Korruption nicht geahndet wird, bietet Nährboden für weitere Verbrechen dieser Art. So erlebt Guerrero derzeit eine Gewalteskalation: Im Jahr 2015 verschwanden insgesamt 453 Menschen spurlos; im ersten Quartal des laufenden Jahres nahm die Mordrate im Vergleich zum Vorjahr um 51 Prozent zu.

Die Hälfte aller Morde geschehen im Badeort Acapulco, der grössten Stadt des verarmten Bundesstaates. Das CCTI, das in Acapulco ansässig ist, zeigt sich über diese Entwicklung sehr beunruhigt: "Wir leben in einem Klima des sozialen Terrors. Aufgrund von Erpressungen und Morddrohungen schliessen Schulen und kleine Geschäfte. Neuerdings geschehen die Morde auch am Strand, direkt vor den Augen der Touristinnen oder wenige Meter von den Hotels entfernt, wo auch die zusätzlichen Polizeieinheiten stationiert sind", heisst es seitens des Komitees. Auf die Frage, ob die Regierung der Lage nicht Herr werden wolle oder nicht könne, antwortet Raymundo Díaz: "Die Behörden ziehen aus der Situation einen Nutzen, denn die Bevölkerung ist so mit dem Terror beschäftigt, dass sie sich nicht mehr gegen das herrschende ökonomische Modell zu wehren vermag. So werden viele Beamtenstellen gestrichen, ganze Landstriche für den Bergbau konzessioniert und Dörfer entvölkert."

Der seit Mitte 2015 amtierende Gouverneur von Guerrero, Héctor Astudillo, der - wie der mexikanische Präsident Peña Nieto - der Partei PRI angehört, fordert unterdessen die Lokalpresse auf, nicht mehr über die Gewalt zu berichten, weil sich dies für die Touristenorte Acapulco und Zihuatanejo negativ auswirken würde.

Mittlerweile drängen alle möglichen Institutionen, darunter etwa auch UNO-Sonderbotschafter, die mexikanische Regierung auf einen Politikwechsel und fordern sie auf, MenschenrechtlerInnen und Aktivistinnen nicht mehr zu verfolgen, sondern Korruption und Straflosigkeit zu bekämpfen. Die "Interamerikanische Menschenrechtskommission", Teil der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), warnte kürzlich vor dem "Rückschritt in den Autoritarismus" in Mexiko.

Inzwischen organisieren sich die Angehörigen der 43 Studentinnen in einem nationalen Dachverband, denn auch in Veracruz und anderen Bundesstaaten verschwinden Menschen, und allzu oft sind dabei Behörden involviert.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische Zeitung.
Nr. 17/18 - 72. Jahrgang - 6. Mai 2016, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juni 2016

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