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VORWÄRTS/1178: Alice im Todestal


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 11/12 vom 26. März 2016

Alice im Todestal

Von Andreas Boueke


"Wasser und Sanitäranlagen sind unerlässlich für die Gesundheit", stellt die Weltgesundheitsorganisation fest. Aber ein Drittel der Menschheit leidet daran, dass es in ihrer Umgebung nicht genug sauberes Wasser gibt.
Eine Reportage über Haitis vergessene Choleraepidemie.


Vier junge Männer hocken im Schatten einer schwarzen Plastikplane und starren auf ein Brett vor ihnen auf dem Boden. Sie spielen Domino im Staub eines Hügels oberhalb von Anse-à-Pitres, einem verarmten Zwanzigtausend-Seelen-Ort an der Südküste Haitis. Keiner von ihnen hat Arbeit. In der Gegend gibt es niemanden, der sie einstellen könnte.

Ein Mädchen kommt vorbei. Die Männer schauen zu ihr hinüber. Einer kommentiert ihre hübschen Beine. Die sechzehnjährige Alice ist auf dem Weg zum Wasserholen. Sie grüsst die Jungen auf Kreol, die Sprache der meisten HaitianerInnen. "Mein Grossvater konnte sich noch an die Zeit erinnern, als es hier Quellen gab, Wälder und Äcker", erzählt Alice. "Heute gibt es keine Bäume mehr, das Wasser ist versiegt und der fruchtbare Boden weggespült."

Ein paar hartnäckige Büsche und stachelige Kakteen widersetzen sich den widrigen Umständen der staubigen Landschaft. Alice läuft über ausgetretene Pfade bis zu einer Stelle, an der Wasser aus einem faustdicken Plastikrohr fliesst. Ein Ingenieursteam der Europäischen Union hat das Rohr vor drei Jahren verlegt. Das Wasser kommt aus einem mehrere Kilometer entfernten Flussabschnitt. Doch ein Filtersystem war nicht Teil des Projekts, obwohl das Wasser aus demselben verseuchten Fluss stammt, der an Anse-à-Pitres vorbeifliesst, dem Artibonite.


Wasserstelle mit Bakterien

Bevor Alice ihren Plastikeimer mit Wasser füllt, reibt sie ihn mit Sand sauber. "Mein Vater schimpft, wenn ich nicht glasklares Wasser nach Hause bringe. Aber einige Leute sagen, das Wasser aus dem Rohr sei verseucht. Vielleicht haben deshalb so viele Menschen Durchfall und sterben."

Die Wasserstelle ist ein sozialer Treffpunkt. Alle Kinder, Frauen und Männer, die hier warten, kennen das Gerücht, dass das Wasser aus dem weissen Rohr mit gefährlichen Bakterien verseucht ist. Doch was bleibt ihnen anderes übrig, als zu hoffen, dass es zumindest etwas gesünder ist als das Wasser aus dem Fluss, in dem sie baden und ihre Wäsche waschen?

Alice hat ihren Eimer gefüllt. Nach ihr ist ein sehr schmutziger Mann an der Reihe. Er wäscht sich die Hände, die Füsse und das Gesicht. "Unser Elend interessiert niemanden", klagt er. "Dieses Elend, dass uns den Tod bringt. Alle sprechen von der Cholera. Aber in Wirklichkeit sterben wir an Hunger, die Kinder verhungern" die Erwachsenen, die Jugendlichen. Und niemand tut etwas. Die haitianische Regierung hat gesagt, sie würde unser Problem lösen, aber nichts ist passiert. Wir alle werden sterben, denn hier gibt es nichts mehr, das uns am Leben hält. Nicht einmal ein paar Kräuter oder Bananenstauden. Kein Zuckerrohr, das die Kinder kauen könnten. Alle Welt hat eine Regierung, die ihnen hilft, aber uns hilft niemand."

Der Mann heisst Oscar Lima. Seine blauen Plastiklatschen, sein kurzes Hemd und die zerrissene Hose sind übersät von schwarzer Asche, weil er den Tag über Holzkohle produziert hat. "Eben gerade habe ich einen Sack voll Kohle nach Anse-à-Pitres getragen und ihn für zwei Pfund Reis eingetauscht. Würde ich das nicht machen, hätten wir heute überhaupt nichts zu essen. Aber wenn wir nichts essen, verhungern wir. Deshalb komme ich um sechs Uhr Morgens aufs Feld, um Wurzeln zu graben. Es ist jetzt vier Uhr nachmittags und ich habe bisher noch nichts gegessen. Niemand in meiner Familie hat etwas gegessen."

Er hält eine kleine Plastiktüte voll Reis in der Hand. "Ich habe sechs Kinder, mit meiner Frau sind wir sieben. Ich, acht. Schau her, dieses bisschen Reis ist für acht Personen."


Wurzeln zu Holzkohle

Während des kühleren Morgens hat Oscar auf einem nahegelegenen Hang Baumwurzeln aus der Erde geholt und sie zu Holzkohle verarbeitet. Auch jetzt noch graben dort einige Männer Löcher in den Boden. Einer von ihnen ist François, ein dürrer Mann, der viel jünger ist, als er aussieht. Er ist sich bewusst, dass seine Arbeit dem geschundenen Ökosystem einen weiteren Todesstoss versetzt. "Aber was sollen wir machen?", fragt er. "Es tut mir weh, all die Löcher zu sehen, die wir hinterlassen. Ich würde viel lieber etwas pflanzen. Aber hier wächst nichts mehr. Uns bleibt nichts anderes übrig, als Holzkohle zu produzieren." François schlägt mit einem schweren Stein gegen alte Baumstümpfe. Es gab eine Zeit, da war Haiti mit seinen boomenden Zuckerplantagen die reichste Kolonie Frankreichs. Heute ist es die ärmste und am meisten entwaldete Nation des amerikanischen Kontinents.

Alice weiss nur wenig über die Geschichte ihres Landes. Sie hat ihr gesamtes Leben in dieser Gegend verbracht. Traurig schaut sie den grabenden Männern bei der Arbeit zu. "Natürlich ist es nicht gut, dass sie die letzten Wurzeln aus der Erde holen", sagt sie. "Das ist so, als würden sie die Erinnerung an eine bessere Zeit ausgraben und zu Holzkohle verarbeiten."


Staub statt Wasser

Eine halbe Stunde Fussmarsch von dem staubigen Feld entfernt steht die Kirche der Gemeinde des Pastors Bilma Tham. Manchmal bringt er ein paar Pfund Reis in die Siedlung der Familie von Alice, und predigt über Gottes Hoffnungsbotschaft. "Die Leute sehen keine Zukunft mehr", sagt er. "Sie denken nicht weiter als bis zum nächsten Tag. Denn sie wissen nicht, ob sie morgen etwas essen werden. Außerdem haben sie kein Wasser, denn das Wasser aus dem Fluss macht sie krank."

Seine eigene Gemeinde hatte das Wasserproblem mit Unterstützung einer US-amerikanischen Partnerkirche gelöst. Fünf Jahre lang produzierte eine moderne Solaranlage die Energie für einen Motor, der aus 250 Metern Tiefe Grundwasser nach oben pumpte. "Doch vor einem Monat schlug aus heiterem Himmel ein Blitz ein und hat den Transformator zerstört", erzählt Bilma Tham. "Jetzt haben wir wieder kein gutes Wasser und auch unsere Leute werden krank."

In ganz Haiti stösst man auf dasselbe Problem, meint Pastor Bilma Tham. "Ich kenne viel Orte, an denen die Leute zehn, zwölf Kilometer weit laufen, um Wasser zu holen. In meinem Heimatdorf Enmapu gab es früher einen Fluss mit gutem Wasser. Aber dann hat es aufgehört zu regnen und eines Tages war das Flussbett leer. Jetzt gibt es auch dort kein Wasser mehr."

Die haitianische Regierung hat es nie geschafft, ein funktionierendes System für Naturreservate durchzusetzen. Der Artibonite ist der wichtigste Fluss des Landes, aber auch er führt immer weniger Wasser. In Haiti sind rund fünf Millionen Menschen von diesem Wasser abhängig, doch der Artibonite bringt den Menschen nicht nur Leben, sondern auch Tod. Er hat den Choleraerreger in die Küstenregion um den Ort Anse-à-Pitres gespült. Bis zum Januar 2010 war Haiti von der Choleraplage verschont geblieben. Dann haben nepalesische Soldaten der Vereinten Nationen ihre verseuchten Latrinen in den Fluss entleert. Seither haben sich rund eine Million Menschen infiziert. Mindestens zehntausend sind gestorben. Es ist die schlimmste Choleraepidemie der jüngeren Menschheitsgeschichte.

Doch die Leute in der Umgebung von Anse-à-Pitres kümmern sich nicht ernsthaft um Vorbeugemassnahmen. So trägt Alice jeden Tag ihren vollen Eimer zurück ins Lager, ohne zu wissen, ob das Wasser choleraverseucht ist oder nicht. Sie stellt den Eimer in einen Verschlag mit Wänden aus Wellblechplatten und Plastikmüll, die Küche ihrer Familie. Ein paar Schritte dahinter steht ein weiterer kleiner Raum. Alice öffnet die Tür. "Dies ist unsere Toilette. Sie ist nicht schön. Wir haben kein Wasser. Deshalb riecht es auch so. Aber wir tun unser Bestes, um alles sauber zu halten." Über dem Loch im Boden liegt der Deckel einer Blechtonne. Die meisten NachbarInnen haben gar keine Latrine. Sie gehen einfach hinter den nächsten grosen Felsen.


Von der Welt vergessen

Nur rund hundert Meter von der Hütte entfernt verläuft eine Staubpiste, über die täglich zahlreiche Fahrzeuge der UNO-Mission fahren. Haiti ist das einzige Land der Welt, in dem die Vereinten Nationen in Friedenszeiten einen jahrelangen Militäreinsatz durchführen. Der soll helfen, die Politik und Wirtschaft des Landes zu stabilisieren. Bis vor wenigen Wochen war auch in Anse-à-Pitres eine Truppe stationiert. Doch ausser dem Staub, den die Laster aufwirbeln, sieht Alice kein Ergebnis der Arbeit der Vereinten Nationen. Für die Lage im Tal fühlt sich offenbar niemand zuständig.

Vielleicht kommt eines Tages eine kompetente Organisation und nimmt sich der Situation an. Falls nicht, geht es so weiter wie bisher: Die Menschen sterben an Hunger und Cholera. Alice nimmt es gelassen: "Über die Zukunft kann ich nichts sagen. Nur über das Jetzt. Wer weiss schon, was morgen wird?"

WELTWASSERTAG

Der Weltwassertag findet seit 1993 jedes Jahr am 22. März statt. Seit 2003 wird er von UN-Water organisiert. Er wurde von der UN-Generalversammlung in einer Resolution, am 22. Dezember 1992 beschlossen. Seit seiner ersten Ausführung hat er erheblich an Bedeutung gewonnen.
Von nichtstaatlichen Organisationen, die für sauberes Wasser und Gewässerschutz kämpfen, wird der Weltwassertag dazu genutzt, um die öffentliche Aufmerksamkeit auf die kritischen Wasserthemen unserer Zeit zu lenken. So folgen seit 1997 alle drei Jahre Tausende dem Ruf des Weltwasserrats zur Teilnahme an einem Weltwasserforum während der Woche des Weltwassertags. Teilnehmende Gruppen und Organisationen stellen dabei Tatsachen in den Vordergund, wie zum Beispiel dass eine Milliarde Menschen keinen Zugang zu sicherem und sauberem Trinkwasser hat und vielfach die Geschlechtszugehörigkeit eine Rolle beim Wasserzugang spielt. Das heisst, dass Frauen innerhalb von Familien die Pflicht aufgebürdet wird, weite Wege und Mühen für das Holen des Trinkwassers auf sich zu nehmen.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 11/12 - 72. Jahrgang - 26. März 2016, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
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Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. April 2016

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