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VORWÄRTS/954: ArbeiterInnen und Gewerkschaften


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 31/32 vom 13. September 2013

ArbeiterInnen und Gewerkschaften

von Maurizio Coppola



Für den 21. September rufen die schweizerischen Gewerkschaften wieder einmal zu einer Grossdemo auf. Unter dem Motto "Nein zu Lohndumping und Rentenklau!" machen sich die Gewerkschaften für die Mindestlohn-, die 1:12- und die AHVplus-Initiativen und gegen den 24h-Arbeitstag stark. Der Demoaufruf bietet eine Möglichkeit, Arbeitskämpfe und Gewerkschaftspolitik erneut unter die Lupe zu nehmen.


"Die Schweiz auf Wachstumskurs", so betitelte die NZZ am 4. September einen Artikel, der die "robuste Entwicklung der Schweizer Wirtschaft" im zweiten Quartal 2013 beschreibt, trotz Rückgang des Warenhandels mit dem Ausland aufgrund der anhaltenden EU-Krise. Sind wir also noch einmal mit einem blauen Auge aus der Krise gekommen? Bei weitem nicht!

Die Krise hat auch in der Schweiz tätige Unternehmen dazu animiert, ihre Produktion und den Arbeitsmarkt zu restrukturieren. Die Reaktionen von ArbeiterInnen und Gewerkschaften machen dies deutlich. In den Jahren 2008 bis 2010 häuften sich die sozialen Proteste, die sich gegen Entlassungen und Betriebsschliessungen richteten und teilweise in Betriebsbesetzungen und Streiks mündeten (SBB Officina Bellinzona, Karton Deisswil, Swissport und ISS am Flughafen Genf etc.). Die Folgejahre waren dann von einer noch nie gesehenen "sozialpartnerschaftlichen" Ruhe geprägt. Der massive Einsatz von Kurzarbeit vor allem in der exportorientierten Industrie, Lohnsenkungen und Arbeitsplatzabbau haben nicht zu breiten Protesten geführt. Vielmehr gaben sich die Beschäftigten mit der gewerkschaftlichen Strategie zufrieden, von Kampfmassnahmen abzusehen, Sozialpläne zu verhandeln und somit "sozialverträgliche Entlassungen" zu organisieren. Es wurde noch einmal deutlich, dass der schweizerische Arbeitsmarkt doch nicht so "robust" ist.


Wichtige, aber fragmentierte Kämpfe

Es waren dann nicht die IndustriearbeiterInnen, die gegen die Pläne der Unternehmen streikten. In ihrer Haupttendenz drückte die Krise noch einmal auf die Arbeits- und Lohnbedingungen in den Branchen und Sektoren, die schon vor der Krise prekär waren. So streikten Anfang Februar 2011 die Beschäftigten der Fast-Food. Kette "Cindy's" in Basel und blockierten das Restaurant. Gleichzeitig mobilisierten sich die ArbeiterInnen eines Alten- und Pflegeheims in Vessy (GE). Ab Oktober 2011. startete dann am Universitätskrankenhaus in Genf (HUG) ein offensiver Streik mit der Forderung nach Lohn- und Personalerhöhung. Angeführt wurde dieser Arbeitskampf von vier prekarisierten Gruppen: dem Reinigungspersonal, den PflegerInnen, den PatientInnen-TransporteurInnen und den LaborarbeiterInnen. Der Ansatz eines Kampfzyklus' wurde 2012 und 2013 weitergeführt. Dabei waren zwei Arbeitskämpfe von grosser Bedeutung, die auch eine qualitative Änderung der sozialen Mobilisierungen einläuteten: Erstens der über 100 Tage dauernde Streik der KrankenhausarbeiterInnen von La Providence in Neuchâtel für die Einhaltung des Gesamtarbeitsvertrages. Und zweitens der Streik und die Blockade der Verkäuferinnen bei Spar in Dättwil für Lohn- und Personalerhöhung. Es waren in erster Linie Frauen, von denen man bis anhin gewohnt war, dass sie alle Verschlechterungen akzeptierten, die nach den radikalsten Kampfmitteln griffen. Diese Arbeitskämpfe vermochten es jedoch nicht - nicht zuletzt aufgrund der gewerkschaftlichen Strategien -, sich aufeinander zu beziehen und voneinander zu lernen. Sie blieben isoliert und auf sich selbst bezogen, so dass die Streikenden bei La Providence und bei Spar schlussendlich gar fristlos entlassen wurden, ohne ihre Forderungen durchsetzen zu können.


Und die Gewerkschaften?

Die gewerkschaftlichen Strategien erlebten in den letzten zwei Jahrzehnten und besonders seit der Gründung der Gewerkschaft Unia und ihrem wachsenden Einfluss im schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) einen Wandel. Es werden vermehrt Koalitionen und Einflussmöglichkeiten gesucht auf der politischen Ebene, um über das Gesetz die Arbeitsbeziehungen zu verändern. Dieser Strategiewechsel ist mit einer Schwächung der Basisarbeit in den Betrieben und an den Arbeitsplätzen einhergegangen. Er weist auf das historische Verhältnis der Gewerkschaften zum Staat hin: vom Verbot über die Duldung zur Anerkennung bis zur Inkorporierung. Gewerkschaften wurden damit zu Mechanismen kapitalistischer Arbeitskontrolle. Es erstaunt also nicht, dass die Demo-Zeitung der Unia in erster Linie für die drei gewerkschaftlichen Initiativen und gegen das Referendum zum 24h-Arbeitstag mobil macht. Nur ganz am Rande und auf der letzten Seite werden exemplarisch und in wenigen Sätzen zwei Streikbewegungen vorgestellt.

Die globale Krise hat auch die gewerkschaftliche Repräsentanz erreicht. Europaweit versuchen Gewerkschaften aus der Position der Schwäche einen Kurswechsel. Aus der Überzeugung, nur durch die Stärkung gewerkschaftlicher Strukturen könne die ArbeiterInnenmacht wachsen, plädieren Gewerkschaften dafür, den Fokus auf neue Mitglieder zu richten. Damit wird der alte Organisationsfetisch ständig aufs Neue reproduziert. Die globale Krise und die darin weltweit entstandenen sozialen Proteste und Streiks haben eindrücklich gezeigt, dass weder die Integration der Gewerkschaften im Staat, noch ihr Übergang zu einer "politischen Kraft", sondern die Selbstorganisierung der ArbeiterInnen und die radikale Infragestellung des Klassenverhältnisses die ArbeiterInnenmacht stärkt.


GESAMTSCHWEIZERISCHE DEMONSTRATION
21. SEPT. 2013, 14 UHR, BERN, BESAMMLUNGSORTE UND -ZEITEN AUF WWW.UNIA.CH

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 31/32/2013 - 69. Jahrgang - 13. September 2013, S. 1
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. September 2013