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VORWÄRTS/934: Stalin mit Lyotard oder die Regierung des 21. Jahrhunderts


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.21/22 vom 7. Juni 2013

"Stalin mit Lyotard oder die Regierung des 21. Jahrhunderts"

Von David Hunziger



Die russische Regierungspartei "Einiges Russland" war genauso seine Idee wie ein Grossteil der "oppositionellen" Parteien und Bewegungen oder eine protofaschistische Jugendorganisation. Und wenn er nicht gerade für die Regierung arbeitet, produziert er regimekritische Literatur. Nun wurde Wladislaw Surkow, Putins grösster Stratege, auf die Strasse gestellt.


Die russische Politik verliert einen ihrer genialsten Köpfe: Anfang Mai hat Wladimir Putin den Vize-Ministerpräsidenten seiner Regierung, Wladislaw Surkow, entlassen. Auch wenn der Name seines Amtes dies nicht vermuten liesse - bis 2011 hatte Surkow gar nur das Amt des "Stellvertretenden Leiters der Präsidialverwaltung" inne -, galt Surkow als einer der mächtigsten Männer in Moskau und als Erfinder der "souveränen" oder "gelenkten Demokratie", wie das Regierungssystem der Putin-Ära oft genannt wird. Diesen Mann genial zu nennen, kann angesichts der diktatorisch regierenden Elite, in deren Dienst er steht und deren Herrschaft er mit seinem Treiben festigt, nur zynisch sein. Wenn man dagegen die verschlungenen ideologischen Pfade vergleicht, mit denen die herrschenden Klassen dieser Welt ihre Untertanen für blöd verkaufen, gehören diejenigen Surkows gewiss zu den allerbesten.

Was die gelenkte Demokratie so erfolgreich macht: dass sie oberflächlich nicht totalitär auftreten muss, um diktatorisch sein zu können. Früher hiess es noch: Die Arbeiterklasse ist an der Macht, also müssen alle Gegner der Arbeiterklasse beseitigt werden. Ein solches System erträgt es nicht, wenn es zu viel Kritik zulässt, da es viel Angriffsfläche bietet. Das musste auch Gorbatschow feststellen, der die Sowjetunion mit Glasnost vom Stalinismus befreien wollte. Passiert ist das Gegenteil: Der Sozialismus ist verschwunden, vom Stalinismus ist dagegen ein rechtes Stück geblieben - oder zurück gekehrt.


Der grösste Russe aller Zeiten

Seit einigen Jahren schon findet in Russland ein veritables Stalin-Revival statt. Offenbar kommt der Nationalmythos der Russen einfach nicht ohne den starken Mann aus, der Hitler im "Grossen Vaterländischen Krieg" in den Arsch getreten hat. Als Putin 2000 Präsident wurde, wollte er sich in einer Reihe mit den glorreichen Herrschern der russischen Geschichte sehen, angefangen bei Peter dem Grossen, der vor einigen Jahren mit einer so gigantistischen wie hässlichen Statue in Moskau geehrt wurde. Und in dieser Reihe taucht irgendwann auch Stalin auf. Da es Putin eh darauf abgesehen hatte, das Thema der staatlichen Repression von der öffentlichen Agenda zu streichen, konnte man sich getrost auf Stalins Leistungen als Kriegsfürst berufen.

In der Folge wurde Stalin in zahlreichen Büchern rehabilitiert, die mit den "Mythen der Perestroika" aufräumten. Auf der anderen Seite wurden Geschichtsbücher im Namen einer "glücklichen Identität" beschönigt, wie sie Putin an der gesamtrussischen Konferenz Geschichtslehrer 2007 für den russischen Nachwuchs forderte. Ansonsten würde die Schule nur "Antipatrioten" hervorbringen. Absurderweise wurde im Zuge dieser Debatten auch behauptet, Stalin habe die orthodoxe Kirche stets verteidigt - er selbst kann dazu ja nichts mehr sagen.

Zwei erstaunliche Ereignisse veranschaulichen, welche Ausmasse die Nostalgie annimmt: Die Stadt Wolgograd erhält einem Entscheid von Anfang Jahr nach nun für sechs Tage im Jahr ihren historischen Namen Stalingrad zurück. Anhand von sechs wichtigen Ereignissen soll so an den Triumph über die Nazis erinnert werden. Da die Stadt nicht tatsächlich umbenannt wird, ist unklar, welche Konsequenzen der Entscheid überhaupt hat. Und: Als das Fernsehprojekt "Der Name Russlands" 2009 den grössten Russen aller Zeiten küren sollte, erhielt Stalin mit grossem Abstand die meisten Stimmen. Durch Manipulation wurde er im letzten Moment auf den zweiten Platz zurückversetzt, um einen Skandal zu verhindern.


Ein leeres politisches Gefäss

Vorausgesetzt, die Elite eines Landes hat das Ziel, sich an der Macht zu halten, ist die gelenkte Demokratie in vielerlei Hinsicht ein ungleich raffinierteres Regierungsmodell als der Stalinismus. Geblieben ist der unangefochtene Herrschaftsanspruch einer Partei, verschwunden ist der konstante Zwang, behaupten zu müssen, man handle im Interesse der Arbeiterklasse. Die Herrschaft von "Einiges Russland" - die Partei ist übrigens eine Schöpfung Surkows - hat keine politische Ausrichtung, sie ist ein leeres politisches Gefäss, reine Macht, die die Elite in jeder erdenklichen Lage einsetzen kann. Das zeigt sich auch daran, dass Surkows Aufstieg als PR-Mann diverser Firmen Michail Chodorkowskis, Putins jetzigem Erzfeind, der Zusammenarbeit mit Putin nicht im Weg stand.

Während in den neunziger Jahren die relative soziale Sicherheit verloren ging, die die Sowjetunion einer breiten Schicht der Bevölkerung garantierte, und zusätzlich zahlreiche staatliche Dienstleistungen entfielen, konnte sich eine kleine Schicht ehemaliger Parteikader Macht und Reichtum sichern. Durch die starke Inflation wurden Vermögen und Renten einer grossen Bevölkerungsschicht vernichtet. Untersuchungen nennen die zunehmende Selbstversorgung der Bevölkerung mit Gemüse aus dem eigenen Garten - Mitte der neunziger Jahre soll ein Drittel der Bevölkerung sich so ernährt haben - und das zunehmende Aufgehobensein in mafiösen Strukturen als Gründe dafür, dass sich die Menschen gegen die Verschlechterung ihrer sozialen Lage nicht wehrten.

Nach Jahren der Demütigung, in denen die einstige Grossmacht mit dem Kapitalismus, den ihr die ehemaligen Feinde beizubringen versuchten, nicht so recht klarkommen wollte, erfüllte Putin das Versprechen, die alte Stärke könnte zurückkehren. Surkow gilt als der Stratege und Denker im Hintergrund. Spiegel Online nennt ihn den "Anti-Bürokraten in der Führung des tief bürokratischen russischen Staats: apparates". Tatsächlich ist Surkow eine schillernde Persönlichkeit: In der Sowjetunion leitete der studierte Ökonom ein Amateurtheater und unternahm mehrere Versuche zu einer akademischen Karriere. Er ist Fan des Rappers Tupac Shakur, dessen Portrait seinen Schreibtisch zieren soll, und schreibt Songtexte für Rockbands. Seinen früheren Arbeitgeber Chodorkowski lernte er beim Training in einem Kampfsportklub kennen. Bevor dieser Surkows intellektuelle Fähigkeiten ekannte, beschäftigte er ihn als seinen Bodyguard.


Gelenkte Opposition

Während der Begriff "souveräne Demokratie" vor allem der Abgrenzung zu Ländern dient, die aus Russlands Sicht zwar formal demokratisch, faktisch aber US-gesteuert sind - etwa Georgien -, meint "gelenkte Demokratie" die Steuerbarkeit der Parteienlandschaft durch die Machthaber. Eine richtige Opposition darf es also nicht geben. Obwohl sich die Praxis, gelenkte Oppositionsparteien zu führen, schon unter Jelzin etabliert hatte, baute sie Surkow noch aus.

Als Surkow Ende der neunziger Jahre in die Russische Politik eintrat, stellte die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF), die zwar von Gorbatschow-Gegnern gegründet worden war, sich aber als Nachfolgerin der KPdSU versteht, mit einem Wähleranteil von 25 Prozent die einzige ernsthafte Opposition dar. Mit der Gründung der linksnationalistischen Partei Rodina konnte die Hälfte der KPRF-Wähler abgezogen werden. Ausserdem soll Surkow die Partei in finanzielle Abhängigkeit vom Kreml gebracht haben. Auch die Auseinandersetzungen mit dem steinreichen Oligarchen Michail Prochorow, der Putin bei der Präsidentschaftswahl 2012 herausforderte, könnten von Surkow inszeniert worden sein, um das Engagement der zu dieser Zeit lauter gewordenen Opposition verpuffen zu lassen.

Ein anderes Werk Surkows ist die Jugendorganisation Naschi (Russisch für "die Unsrigen"), die mit 100.000 Mitgliedern mittlerweile die grösste ihrer Art ist. Als sich die Bevölkerung der Ukraine 2004 in der Orangen Revolution auflehnte, befürchtete die russische Obrigkeit, die Jugend im eigenen Land könnte vielleicht auf ähnliche Ideen kommen und bot ihr mit Naschi eine Alternative. Die Organisation wurde durch riesige Demos und Aktionen bekannt, etwa wurden bei Duma-Wahlen "liberale" und "radikale" Parteien behindert oder "unpatriotische Bücher" auf dem Roten Platz verbrannt. Zumindest in Spannung zu letzterem steht das Selbstverständnis von Naschi als "antifaschistische" Organisation. Kritiker betonen dagegen, dass Naschi inhaltlich und funktional starke Parallelen zur Hitlerjugend aufweise.


Mit Lyotard regieren

Der von Surkow entworfene Regierungsstil wird oft als postmodern bezeichnet, da er keiner Wahrheit oder "grossen Erzählung" (Lyotard) mehr verpflichtet sei. Anders kann man nicht erklären, dass sich Surkow die zu Sowjetzeiten undenkbare Dreistigkeit erlaubt, das Regime, dem er angehört, gleich selbst auf die Schippe zu nehmen. Unter dem Pseudonym Natan Dubowizki - die maskuline Version des Namens seiner Frau - hat Surkow mit dem Roman "Nahe Null" eine Satire auf das korrupte postsowjetische Russland verfasst. Jegor, der Protagonist des Romans, verkauft die Rechte verarmter AutorInnen an reiche RussInnen, die Geld verdienen, indem sie damit Bücher unter ihrem eigenen Namen herausbringen. Mit Jegor, der seine Dienste jedem anbietet, der ihm dafür genug bezahlt, egal welchen Zweck er damit verfolgt, hat Surkow ein literarisches Abbild seiner selbst geschaffen. In "Nahe Null" soll man zahlreiche Verweise auf postmoderne Theoretiker wie Lyotard oder Derrida finden. Die Bücher dieser Theoretiker kamen in Russland teilweise zum ersten Mal auf den Markt, just als Surkow seine Arbeit für die Regierung aufnahm. Auch in den Reden von Duma-Abgeordneten soll es von diesem Zeitpunkt an von Derrida- und Lacan-Zitaten nur so gewimmelt haben. Man ist versucht anzumerken, dass sich die postmoderne Theorie hier endlich als das erweist, was sie immer war: eine repressive Kraft.

Dass Surkow seinen Posten nun abgeben muss, wird auch als Ausdruck der tiefgreifenden Widersprüche und der zunehmenden Instabilität des russischen Staates gesehen. Oder fällt diese Lesart nur einer weiteren Inszenierung zum Opfer? Jedenfalls hat auch Surkow selbst immer wieder auf jene Instabilitäten hingewiesen. Vielleicht war das für Putin etwas zu viel der Wahrheit.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 21/22 - 69. Jahrgang - 7. Juni 2013, S. 7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juni 2013