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VORWÄRTS/863: Eine Frage des Blickwinkels


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.35/36 vom 28. September 2012

Eine Frage des Blickwinkels

Von Michi Stegmaier



Nach den gewaltsamen Protesten gegen ein islamophobes Hassvideo in der arabischen Welt sehen sich die SkeptikerInnen bestätigt. Demokratie und Islam? Das kann ja nicht gutgehen. Schon ist von einem anti-amerikanischen Herbst und arabischen Winter die Rede. Ein Plädoyer für das Dagegenhalten und die kritische Solidarität.


Würde man einigen marxistischen Publikationen glauben, dann war der arabische Frühling eine Erfindung des imperialistischen Westens und ein konspirativer Komplott einer zionistischen Weltregierung. Auch westliche Regierungen sind etwas begriffsstutzig. Wo die Menschen den Sturz der diktatorischen Regimes und "Brot, Würde und soziale Gerechtigkeit" einforderten, verstand der Westen nur "Demokratie" und "freie Wahlen", wohlwissend wer davon profitieren und an die Macht gespült werden wird. Der arabische Frühling wurde seitens des Westens von Anbeginn sabotiert, klein geredet und obwohl die Zeitungen tagtäglich auf Grund der Geschehnisse genötigt sind, über die Entwicklung im Mittleren und Nahen Osten zu berichten, bleiben diese in der Regel oberflächlich und hinterlassen einen schalen Nachgeschmack. Ob jetzt christlicher AbtreibungsgegnerIn, HausbesetzerIn oder veganeR HundebesitzerIn, der Blickwinkel bleibt in allen Köpfen meist der Gleiche: Scharia, Scharia und nochmals Scharia.


Repressionswelle in den Golfstaaten

Und während die Welt ratlos auf Syrien blickt, fallen im Jemen US-Bomben vom Himmel und in den Golfstaaten hat die Konterrevolution einen prophylaktischen Frühstart. In den Vereinigten Arabischen Emiraten wurden in den vergangen zwei Monaten dutzende prominente BloggerInnen verhaftet und in Kuwait protestiert das Parlament und die Opposition weiterhin gegen 250 Jahre absolute Herrschaft des Al-Sabah-Clans. In der bahrainischen Hauptstadt Manama wurden die von einem Militärgericht ausgesprochenen lebenslangen Haftstrafen gegen sieben Dissidenten wegen "Beteiligung an Strassenprotesten" im Februar 2011 von einem Zivilgericht am 4. September bestätigt. Unter den Verurteilten befindet sich auch Abdulhadi al-Khawaja, ein prominenter Bürgerrechtler und der ehemalige Präsident des "Bahrain-Zentrums für Menschenrechte" (BCHR). Nach der Verkündung des Urteils kam es in Bahrain zu neuen Massenprotesten und schweren Strassenschlachten. Die Opposition fordert zudem nicht nur den Sturz des Königshauses, sondern ebenso eine Volksbefragung betreffend einer geplanten politischen Union mit Saudi-Arabien, welche für viele Bahrainis einer faktischen Annexion und Zerschlagung des aufmüpfigen Inselstaates durch die Saudis gleichkäme. Saudi-Arabien, dessen Truppen massgeblich an der blutigen Niederschlagung der friedlichen Proteste im Februar 2011 beteiligt waren, strebt den politischen Zusammenschluss aller im Golf-Kooperationsrat (GCC) vertretenen sechs Monarchien an, um so die Vormachtstellung in der arabischen Welt zu untermauern. Die Angst vor dem neuen Ägypten ist in Riad gross, das Verhältnis der beiden Länder gehässig, was sogar zur vorübergehenden Schliessung der jeweiligen Botschaften führte.


Straffreiheit für Saleh

In der jemenitischen Hauptstadt Sanaa folgten nur wenige Tage vor dem Sturm auf die US-Botschaft Hunderttausende einem Aufruf der "Jungen der Revolution", um gegen die Straffreiheit von Saleh zu protestieren. Saleh, der 33 Jahre lang den Jemen mit eiserner Hand regierte, hatte im November 2011 nach monatelangen Protesten mit gegen zweitausend Toten ein Abkommen zum Machtverzicht unterschrieben. Als Bedingung für den Rückzug vor der Macht forderte er vollumfängliche Straffreiheit. Seither hat für eine Übergangsphase von zwei Jahren Salehs Stellvertreter Mansur Hadi die Regierungsgeschäfte übernommen. Dieser Deal der herrschenden Cliquen wurde allerdings von Seiten der Bewegung keineswegs akzeptiert. Die neue jemenitische Menschenrechtsministerin Huria Mashhour beurteilt das Immunitätsgesetz als die denkbar schlechteste Lösung. "Der Premierminister hat geweint, als er das Gesetz vortrug. Dies alles in einer immens schmerzlichen Situation. Das Immunitätsgesetz verstösst gegen alles: gegen unsere Verfassung, gegen die Menschenrechtsabkommen, die der Jemen unterzeichnet hat. Dieses Gesetz ist inakzeptabel", erklärt Mashhour gegenüber dem Internetportal "Quantara". Zustande gekommen ist das Immunitätsgesetz primär auf Intervention der USA und Saudi-Arabiens. In der jemenitischen Zivilgesellschaft wächst der Druck auf das von den alten Kräften dominierte Parlament, möglichst rasch dem "Internationalen Strafgerichtshof" beizutreten, um so Saleh ungeachtet des neuen Immunitätsgesetz doch noch für seine Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Wie in Ägypten spielen die alten Seilschaften vor allem auf Zeit, säen Chaos und Terror und versuchen mit allen Mitteln, den Umbruch kurzerhand auszusitzen.


Strategie der Destabilisierung

Die Friedensnobelpreisträgerin und Sprecherin der jemenitischen Jugendbewegung, Tawakkul Karman, wirft dem Westen vor, aus Rücksicht auf die Saudis nicht gänzlich mit dem alten Regime zu brechen. In einem Interview mit der FAZ betont Tawakkul Karman den engen Zusammenhang zwischen der Präsenz einer Al-Kaida und anderer radikal-islamistischen Strömungen sowie den Interessen des alten Regimes an Chaos und einer weiteren Destabilisierung des Jemens. "Ich glaube gar nicht, dass die Ängste (vor der Al-Kaida; Anm. d. Red.) in Washington wirklich bestehen. Die Amerikaner wissen sehr wohl, dass Saleh selbst die Quelle des Terrors ist. Die Nachrichtendienste Amerikas sind sicher so gut, dass sie das ihrer Regierung bestätigen können", meint Tawakkul Karman. Und doch erfindet sich die Al-Kaida im Südjemen tatsächlich gerade neu. Auch sie gehörte bis jetzt zu den grossen Verlierern des arabischen Frühlings, bemüht sich aber gerade mächtig wieder Anschluss ans eigene Fussvolk zu finden. Zwar kontrolliert die Al-Kaida einige kleinere Städte im Südjemen, was immer wieder Luftschläge durch die jemenitische Luftwaffe und US-Drohnen legitimiert und zu zahlreichen zivilen Opfern führte, trotzdem ist der Einfluss der Al-Kaida im Südjemen, der sich erst 1990 mit dem Nordjemen zusammenschloss, marginal. Jedenfalls sind die jemenitische Armee und Sicherheitskräfte in grösseren Städten im Süden noch präsent, aber der Einfluss der sozialistischen "Bewegung des Südens", auch bekannt als Hirak-Bewegung, wurde in den vergangenen Monaten grösser und die Stimmen für eine erneute Unabhängigkeit des Südjemens wieder deutlich lauter.


Militärintervention im Jemen?

Der Südjemen ist geopolitisch von grosser Bedeutung und gilt als strategisches Nadelöhr für die Öltanker. Die geografische Nähe zum Horn von Afrika und Somalia verschärft die Situation weiter. Angesichts dessen bleibt zu bezweifeln, ob die Saudis und der Westen einer Wiedergeburt des ehemals sozialistischen Südjemens tatenlos zusehen werden, da kommt doch eine Al-Kaida wie gerufen. So wundert es nicht, dass der jemenitische Verteidigungsminister unlängst erklärte, dass ohne die Unterstützung von internationalen Truppen die radikal-islamistischen Extremisten nicht zurückgedrängt werden könnten. Etwas erstaunlich, da es einigen DorfbewohnerInnen mit Unterstützung der Hirak-RebellInnen schon mehrfach gelang, von Al-Kaida okkupierte Städte wieder zurückzuerobern, während sich die jemenitische Armee weigerte, die Kasernen zu verlassen. In einigen Regionen des Südjemens hat die Autonomiebewegung die völlige Kontrolle übernommen und nebst den schiitischen Houti-RebellInnen und der jemenitischen Jugendbewegung bereiten sie der Zentralregierung in Sanaa am meisten Bauchschmerzen. Verschärfend kommt hinzu, dass die erdölreichen Gebiete im Einzugsgebiet der sogenannten Houti-Schiiten liegt, welche sowohl in Nordjemen als auch in Saudi-Arabien leben. Obwohl Saleh selbst zu dieser ethnischen Minderheit gehört, waren sie eine der ersten Oppositionsgruppen, welche sich der jemenitischen Revolution anschlossen. In Saudi-Arabien selbst geht die schiitische Minderheit zwar immer wieder auf die Strasse, jegliche Form des Protestes wird aber sofort brutal unterdrückt und Demos regelmässig zusammengeschossen. Proteste aus dem Westen über das brutale Vorgehen der saudischen Sicherheitsbehörden bleiben aus. So wurden in Saudi-Arabien die Gesetze in den vergangenen Monaten drastisch verschärft und jegliche Kritik am saudischen Königshaus kann mit dem Tod bestraft werden.


Eine unheilige Allianz

Der Westen, er hat sich längst für "seine" Seite der Barrikade entschieden: Es ist Saudi-Arabien, die Petro-Dollars, das Erdöl und die Scharia. Durchaus nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass für die NATO die Sicherung von Rohstoffquellen durchaus als guter Kriegsgrund gilt. Angesichts drohender Kriege um die letzten Energiequellen, kommt der Durst nach Freiheit und Selbstbestimmung mehr als unpassend. Es ist eine kaltblütige und unanständige Wahl gegen jegliche Form von echter Demokratie und Selbstbestimmung. Die historische Quittung dafür wird verheerend und schmerzlich ausfallen. Hier wurde eine rote Linie überschritten, die durchaus das Ende der westlichen Hegemonie der vergangenen Jahrhunderte bedeuten kann. Der Westen wird viel früher als alle denken mit aufgeweckten Zivilgesellschaften konfrontiert sein, die viele unbequeme Fragen stellen und mit einer gewaltigen Stimme anklagen werden. Der emotional aufgeladene Streit um einen schlechten B-Movie ist da nur ein zarter Vorgeschmack des Kommenden. Der Westen, er hat eine einzigartige historische Chance verpasst und hat sich gegen die partizipative Islam-Interpretation der Muslimbrüder und für die absolutistisch-wahhabistische Weltanschauung der Golfmonarchien und die salafistischen Schlägertrupps entschieden. Einmal mehr eine unheilige Allianz, die es so schon mehrfach gab, geendet hat diese unpassende Liebe immer im Krieg und Chaos.


Geopolitisches Desaster

Ein beispielloses Aufrüsten der arabischen Halbinsel ist da nur die logische Konsequenz. Die Schweiz liefert trotz mehrfachen Verstössen gegen bindende Exportauflagen weiter Handgranaten, Deutschland die neuste Version des Panzers "Leopard 2", welcher den hohen Ansprüchen modernster Kriegsführung angepasst wurde und "besonders geeignet für den Einsatz in urbanen Gebieten" sei. Unterdessen wurde bekannt, dass Saudi-Arabien gar 600 bis 800 Panzer ordern will. Dieses 10 Milliarden schwere Rüstungsgeschäft wäre einer der grössten Waffenverkäufe in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zwar geht man davon aus, dass der Deal derzeit politisch zu heikel ist und erst nach Bundestagswahlen 2013 über die Bühne gehen wird, ob sich allenfalls eine rot-grüne Regierung gegen diesen Big Deal stellen wird, bleibt offen. Wie heisst es so schön: Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral. Die geopolitischen Platten verschieben sich schon jetzt in einem rapiden Tempo, was man inzwischen offenbar auch in Washington bemerkt hat und am 12. September während eines TV-Interviews auf "Telemundo" in Obamas historischem Satz gipfelte: "Ägypten ist weder ein Verbündeter noch ein Feind der USA". Ganz neue Töne aus Washington und eine etwas späte Einsicht und Anpassung an längst geschaffene Realitäten. Tatsächlich ist die Stimmung in den Ländern der Revolution derzeit ausgeprägt antiwestlich. Ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Westen und seinen Absichten ist in allen gesellschaftlichen Schichten und politischen Strömungen zu finden, nicht nur bei den IslamistInnen. Jahrhunderte des Kolonialismus und zehn Jahre "War on Terror" haben tiefe Risse hinterlassen. Der Westen, er ist schon jetzt der grosse Verlierer des arabischen Frühlings. Und er verliert immer mehr die Kontrolle über die zukünftige Entwicklung im Mittleren und Nahen Osten, ein geopolitisches Desaster sondergleichen.


Versagen der säkularen Kräfte

Es gibt viele Gründe, dass in Tunesien und Ägypten zwei islamistische Parteien derzeit die Regierung stellen. Die IslamistInnen waren in der Vergangenheit dort präsent, wo der Staat und die Gesellschaft versagten und ein Vakuum entstehen liessen. Sie offerierten Gesundheitsversorgung, Schulen und Suppenküchen dort, wo man sie brauchte. Sie haben sich um die Armen und die Menschen am Rande der Gesellschaft gekümmert und sind gesellschaftlich viel breiter verankert als jede andere Oppositionsgruppe. Um die Hintergründe des arabischen Frühlings zu begreifen, muss man verstehen, welch ungeheures Spannungsfeld zwischen Arm und Reich in den einzelnen Ländern existiert. Die islamistische Politik entstand aus einer Notwendigkeit heraus und war eine Reaktion darauf, dass die herrschenden Eliten die sozialen Realitäten einfach beiseite schoben und ignorierten. Als es dann dem säkularen Autoritarismus immer weniger gelang, für wirtschaftliches Wachstum und soziale Gerechtigkeit zu sorgen, wandten sich viele den islamistischen Bewegungen zu, mehr als Ausdruck eines Widerwillens gegenüber dem Status Quo, denn als Stimme für den politischen Islam. Die ägyptische Autorin Amira Galal geht mit der Opposition hart ins Gericht: "Die Liberalen müssen das Vertrauen der Ägypter wieder gewinnen und beweisen, dass sie sich für die alltäglichen Probleme der breiten Bevölkerung nicht nur interessieren, sondern dass sie auch ernsthaft daran arbeiten, diese zu lösen und dabei auch greifbare Ergebnisse vorweisen." Für Amira Galal ist klar, dass hinter dem Erfolg der IslamistInnen vor allem das Versagen der liberalen und säkularen Kräfte steht. "Wenn den liberalen Säkularisten tatsächlich daran gelegen ist, in der ägyptischen Politik wieder Fuss zu fassen, sollten sie zunächst bereit sein, Kritik anzunehmen und es vermeiden, auf die fehlende Bildung der Wähler zu verweisen oder über die Ignoranz der unteren Schichten zu klagen. Sie müssen sich aus dem Scheinwerferlicht der internationalen Medien begeben und sich darauf konzentrieren, praktische und realistische Politikentwürfe zu schaffen, die dann auch voll umgesetzt werden", fordert Amira Galal in ihrem Artikel auf der Onlineplattform "Quantara".


Das Mittelmeer wird breiter

Hinter der fehlenden Wertschätzung und dem allgemeinen Desinteresse innerhalb der emanzipatorischen Linken am Transformationsprozess der arabischen Welt verbergen sich vor allem auch eine islamophobe Grundhaltung und ein verengter eurozentristischer Blickwinkel. Man bedient sich verschiedenster Rassismen und unterstreicht damit die eigene zivilisatorische Überlegenheit gegenüber Andern. Dass die emanzipatorische Linke bei uns seit Jahren vor einem Scherbenhaufen steht und schon lange keinen gesellschaftspolitischen Einfluss mehr hat, spielt bei dieser Wahrnehmung keine Rolle. Im westlich geprägten Bewusstsein waren die arabischen Revolutionen von Anbeginn zum Scheitern verurteilt. Nun sieht man bestätigt, was sowieso schon von vornherein feststand, die arabischen Revolutionen werden kläglich scheitern. Sind sie aber nicht. Und werden es auch nicht. Tatsächlich verläuft der Transformationsprozess bei genauerer Betrachtung durchaus positiv. Dass die islamistischen Kräfte derzeit die Oberhand haben - und damit eben auch in der Verantwortung stehen - ist für die Weiterführung des revolutionären Prozesses sogar unabdingbar. Die Muslimbrüder in der Opposition? Gute Nacht, das wäre dann tatsächlich ein echtes Horrorszenario. Es kommt wie es kommt. Es sind die gegenseitigen Bilder in den Köpfen, die verquickter nicht sein könnten. Der Mittelmeerraum wurde während Jahrtausenden als gemeinsamer Kulturraum genutzt. Und doch waren wir uns noch nie so fremd wie heute. Die Bretter vor den Köpfen, sie könnten grösser nicht sein. Die Bilder, welche wir über die arabische Welt haben, und umgekehrt, sie könnten verdrehter nicht sein. Es wird viel zu besprechen, diskutieren und reflektieren geben, wenn der arabische Tsunami es dann doch noch auf die andere Seite des Mittelmeers schaffen wird. Bis dahin wird es wohl noch einen Moment dauern, die bärtige Wutwelle gegen westliche Botschaften kann aber durchaus als unbeholfene Dialogaufnahme und identitätsstiftende Abgrenzung gegenüber dem Westen verstanden werden. Und doch wäre "sich ducken" die falsche Antwort und Reaktion auf die Wutwelle in der islamischen Welt.


Einseitige Wahrnehmung

Tatsächlich haben die Botschaftsstürme und Proteste gegen den beleidigenden Film in der islamischen Welt eine grosse Kontroverse über Meinungsfreiheit und Blasphemie losgetreten. Das Unverständnis und dass jetzt wieder alle sagen werden, dass "die Araber" unzivilisiert seien, überwog dabei bei Weitem die Stimmen aufgebrachter religiöser Fanatiker. Letztendlich ist es kein Konflikt zwischen dem Christentum und dem Islam oder gar der vielbeschworene "Kampf der Kulturen", sondern das Aufeinanderprallen einer individualistischen und gottlosen Gesellschaft im "Norden" und einer sehr wertkonservativen Gesellschaft im "Süden", wo christliche KoptInnen, orthodoxe Jüdinnen und Juden und gläubige MuslimInnen sich viel näher sind als diesen merkwürdigen Wesen mit den prallen Portemonnaies, bunten Tattoos und schrägen Lebenseinstellungen. Die Instrumentalisierung der Religionen dient auch im Islam vor allem der Zementierung der Interessen patriarchaler Männerbünde. Und nichts anderem. Das sollten wir eigentlich aus der eigenen Geschichte bestens kennen. Dass es auch andere Formen des Protestes gibt, zeigt eine Kampagne, die vom 21. bis 23. September zu einem Youtube-Boykott aufgerufen hatte, um so dagegen zu protestieren, dass die Internetplattform Youtube den umstrittenen Film bis jetzt nicht vom Netz genommen hat. Da diese Realitäten aber nicht in das Bild passen, welches wir von "den Arabern" haben (möchten), gehen solche Meldungen grundsätzlich bei den Depeschenagenturen unter. Letztendlich wird das ewig gleiche Bild eines rückständigen, intoleranten und gewalttätigen Islam bedient. Meldungen, die da nicht ins festgefahrene Bild passen, haben wenig bis keine Chance, medial aufgegriffen zu werden. Entsprechend einseitig und verzerrt ist der westliche Blick auf die arabische Welt.


Widerstand gegen Islamismus formiert sich

In einigen Monaten wird es in Ägypten vorgezogene Neuwahlen geben. Tatsächlich wird diese Parlamentswahl der erste echte Gradmesser zum Zustand der Arabellion in der ganzen Region sein, zwei Jahre nach dem Aufbruch. Anders als bei den Parlamentswahlen Ende 2011, wo die Opposition unorganisiert war, in den Kinderschuhen steckte und radikal-islamistische Kräfte einen Erdrutschsieg erlangten, stehen diese Wahlen unter anderen Vorzeichen. Während sich im islamisch geprägten Politspektrum drei grosse sich gegenseitig konkurrierende Blöcke herauskristallisieren, bewegt sich auch die Linke. So wurden in den vergangenen Tagen gleich mehrere Parteibündnisse initiiert. Am 19. September gründeten zehn linke Parteien und Bewegungen das Bündnis "Demokratisch Revolutionäre Koalition". Im Parteibündnis vertreten sind unter anderem die ägyptische KP, verschiedene sozialistische Initiativen, die Tagammu-Partei sowie die "Mina Daniel Bewegung". Mina Daniel, am Nil besser bekannt als der ägyptische Che Guevara, wurde nach wochenlangen friedlichen Protesten der koptischen Maspero-Jugend vor dem staatlichen Fernsehen, bei der blutigen Niederschlagung durch das ägyptische Militär am 6. Oktober 2011 erschossen. Daniel war einer der führenden Aktivisten der Jugendorganisation von "Freiheit und Gerechtigkeit". Freiheit und Gerechtigkeit? Sind das nicht die Muslimbrüder? Stimmt, das sind die Muslimbrüder. Ein koptischer Revolutionär als Aktivist der Jugendbewegung der Brotherhood? In Ägypten nicht wirklich ein Widerspruch, in unseren Köpfen schon. Eine enge Zusammenarbeit mit der wenige Tage zuvor gegründeten "Konstitutionellen Partei" El Baradeis und der nasseristischen "Populären Strömung" von Sabbahi, dem heimlichen Sieger der Präsidentschaftswahlen, gegründet am 21. September, sollen einen starken Gegenpol zu den IslamistInnen bilden und für einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und religiösem Fundamentalismus eintreten. Die Strasse, wichtige Bewegungen wie der 6. April oder die Revolutionären SozialistInnen setzen weiterhin auf Basisarbeit und ausserparlamentarischen Widerstand. Ihr Einfluss ist nicht zu unterschätzen und selbst Präsident Mursi ist auf den Rückhalt der Jugendbewegung, welche den Sturz des Mubarak-Regimes einläutete, angewiesen, geniesst aber, vor allem im Umfeld des 6. Aprils, durchaus einen gewissen Rückhalt, da er die Forderungen der Strasse zur Überraschung vieler rasch und konsequent umgesetzt hat.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 35/36/2012 - 68. Jahrgang - 28. September 2012, S. 8-9
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2012