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VORWÄRTS/846: Wladimir Tatlin - zu visionär für Trotzki


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.29/30 vom 20. Juli 2012

Zu visionär für Trotzki

Von David Hunziger



Das Tinguely-Museum stellt in einer Ausstellung das Werk des russischen Avantgarde-Künstlers Wladimir Tatlin vor. Bekannt ist dieser vor allem durch seinen Entwurf zu einem Monument für die Dritte Internationale. Eine Fahrt nach Basel lohnt sich auch darum.


Wladimir Tatlin war vor allem ein Visionär. In so hohem Mass, dass es gar dem damaligen Volkskommissar Trotzki etwas zu viel wurde. Er soll Tatlins berühmtestes Werk, ein 400 Meter hohes Monument für die Dritte Internationale von 1917, verächtlich eine "Riesen-Thermosflasche" genannt haben. Unter anderem aus finanziellen Gründen wurde der Turm, der auch eine Radiostation und die Konferenzräume für die Internationale hätte enthalten sollen, nie gebaut. Übrig geblieben sind bloss Tatlins Pläne und einige rekonstruierte Modelle.

Zwei dieser einige Meter hohen Modelle sind nun in der Tatlin-Ausstellung "Neue Kunst für eine neue Welt" im Basler Tinguely-Museum ausgestellt. Daneben einige von Tatlins Gemälden, einige so genannter Konterreliefs, die man als abstrakte Wandskulpturen bezeichnen könnte. Hinzu kommen weitere Arbeiten des Künstlers wie ein wunderschönes Ein-Mann-Flugzeug und Bühnenbilder fürs Theater. Ein Besuch der Ausstellung lohnt sich aber bereits wegen des Turms. Er ist ein gutes Beispiel für die visionäre Kreativität der jungen Sowjetunion.


Turm: nie gebaut, Flugzeug: nie abgehoben

Auch Tatlins Flugzeug-Entwurf, der "Letatlin", trägt visionäre Züge und zeigt gleichzeitig sein spannungsreiches Verhältnis zu Fortschritt und Technik. Das Flugzeug sollte dem Menschen das Gefühl des Fliegens zurückgeben, das er durch die Erfindung von motorisierten Flugzeugen an die Maschinen verloren habe. Obwohl mit dem sehr leicht gebauten Flugzeug, für das Tatlin etwa die Knochen von Walfischen verwendete, auch Tests durchgeführt wurden, war der "Letatlin" nicht für den tatsächlichen Einsatz gedacht. Fliegen konnte man damit nicht. Wie der Turm für die Internationale sollte der "Letatlin" die herrschende Vorstellung des Raums sprengen.

Ein Turm, der nie gebaut wurde, und ein Flugzeug, das den Boden nie verlassen hat, könnten dazu verleiten, Tatlin einen Träumer oder Anti-Realisten zu nennen. Tatlins Arbeit zeigt aber ein anderes Bild: Er war für einige Jahre als Dozent an der Höheren Künstlerisch-Technischen Werkstätte in Moskau angestellt, wo ähnlich wie am Bauhaus eine Vereinigung von Kunst und Handwerk und eine Ästhetik im Dienst der Nützlichkeit angestrebt wurde. Mit seinen Schülern entwarf Tatlin zahlreiche Alltagsgegenstände.


Die Vorstellungskraft bis zum "Kosmismus" steigern

Solche und andere Dinge erzählt der auf ansprechende Art dilettantisch gemachte Dokumentarfilm, der in der Ausstellung läuft. Hilfsmittel wie dieser Film, Ausstellungsplakate oder Fotografien sind dem Umstand geschuldet, dass nur sehr wenige von Tatlins Originalen erhalten sind. Die Ausstellung verliert dadurch nichts. An die Stelle der Aura von Original-Kunstwerken tritt eine historische Spurensuche nach all den kreativen Momenten, für die Tatlin steht. Die oft nur in Skizzen gezeigten Werke entsprechen in der gezeigten Form Tatlins Arbeitsweise: Wie der "Letatlin" zeigt, ging es dem Künstler nicht immer um verwertbare Endprodukte, sondern wohl auch darum, die Vorstellungskraft zu steigern.

Das Monument für die Dritte Internationale sollte beides können: Einerseits die Bedeutung der Revolution repräsentieren und andererseits ein durchaus funktionales Gebäude sein. Die Konstruktion des Turms besteht aus einem Spiralband, das sich um eine Achse nach oben windet, in immer kleiner werdenden Kreisen. Die Achse ist im gleichen Winkel wie die Erdachse gesenkt, ein Hinweis auf die geplante Ausdehnung der Revolution auf die gesamte Welt. Tatlin wurde auch schon die sogenannte Auffassung des "Kosmismus" zugeschrieben, die einer Aussage Trotzkis folgt, nach der Weltrevolution sei das Weltall das nächste Ziel.


Zeugnis für visionäre Gesellschaftsentwürfe

Die Spirale diente zu Tatlins Zeit oft dazu, die Dynamik der Revolution darzustellen. Die Bewegung nach oben symbolisiert die grundlegende Veränderung der Gesellschaft. Im Innern der spiralförmigen Aussenwand sollten drei riesige Körper angebracht werden, die sich um die eigene Achse drehen sollten. Auch die Konferenzräume hätten sich so ständig um diese Achse gedreht und die Perspektive der Debattierenden so ständig verändert.

Der Turm gilt als Weiterführung von Tatlins Konterreliefs. Tatlin kannte die europäischen Avantgarde-Maler und verarbeitete sie in seinem Werk. Die Konterreliefs sollten eine Erweiterung des Kubismus und seiner Raumexperimente sein. Tatlin verarbeitete industrielle Materialien zu Skulpturen, die in den Raum eindringen. Der Turm kann als politische Erweiterung dieser Raumexperimente angesehen werden. Er ist damit eine Verbindung der Avantgarde-Kunst von vor 1917 mit den neuen gesellschaftlichen Bedingungen. Kein gigantistisches Projekt eines Spinners also, sondern Zeugnis für die visionären Gesellschaftsentwürfe der jungen Sowjetunion.


(Die Ausstellung im Tinguely-Museum Basel dauert noch bis zum 14. Oktober.)

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 29/30/2012 - 68. Jahrgang - 20. Juli 2012, S. 7
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. August 2012