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VORWÄRTS/818: Krise und Gewerkschaften - An der Bruchstelle


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 17/18/2012 vom 27. April 2012

Krise und Gewerkschaften
An der Bruchstelle



sit. Die Gewerkschaft Unia ist zwar in der Lage, grössere und gute Aktionen durchzuführen, aber an einen längeren, nationalen Branchenstreik ist momentan schlicht nicht zu denken, wie der Kampf um die Erneuerung des Landesmantelvertrags für das Bauhauptgewerbe (LMV) aufzeigte. Ein Hauptproblem ist das Fehlen der Vertrauensleute vor Ort. Eine Kulturrevolution soll dem Abhilfe schaffen.


Rund 80.000 Arbeiter unterstehen dem LMV, der somit einer der grössten und wichtigsten Gesamtarbeitsverträge in der Schweiz ist. Vor einem Jahr, am 9. April 2011, hatten die gut 300 Delegierten der Berufskonferenz Bau, das so genannte "Bauarbeiterparlamentes der Unia", einstimmig ihrer Verhandlungsdelegation ein Mandat "zu Verbesserungen des LMV erteilt", in dem "Verschlechterungen ausgeschlossen sind". Dieses Ziel wurde nicht erreicht, da im neuen LMV, der am 1. April 2012 in Kraft getreten ist, einige Abstriche zu beklagen sind. Der vorwärts berichtete darüber ausführlich in seiner Ausgabe Nr. 13/14 vom 23. März 2012.


Ein altbekanntes Problem

Das Problem der Unia ist rasch auf den Punkt gebracht: Ein nationaler Branchenstreik ist Wunschdenken. Einer der Hauptgründe dieser Streikunfähigkeit ist mit Sicherheit das Fehlen eines starken Netzes von Vertrauensleuten vor Ort auf den Baustellen.

Ein Problem, das aber nicht neu ist: Im Jahr 1987 erschien in der Sonderausgabe des "Widerspruch" mit dem Titel "Arbeitsfrieden - Realität eines Mythos" ein Beitrag von Vasco Pedrina. Der langjährige Präsident der Gewerkschaft Bau & Industrie (GBI) und dann Co-Präsident der Unia (2004 bis 2006) schrieb: "Schliesslich werden die neuen Ideen und ein neuer, in die Zukunft weisender Entwurf nicht vom Himmel fallen. Sie werden vielmehr aus der praktischen Gewerkschaftsarbeit hervorgehen, die allerdings im Sinne einer 'Gewerkschaft in Bewegung' (Syndicalisme en mouvement) revidiert werden muss". Was konkret darunter zu verstehen ist, erklärte Pedrina mit folgenden Worten: "Die Arbeitnehmer sollen uneingeschränkt in die Entscheidungsprozesse integriert werden, insbesondere wenn es um die Erneuerung der Gesamtarbeitsverträge geht. Sie sind systematisch zu sensibilisieren und zu mobilisieren und, wenn dies als zweckmässig erscheint, dürfen auch vergessene Instrumente des offenen Kampfs wieder gebraucht werden". Als Hauptpfeiler dieser "Gewerkschaft in Bewegung" nennt Pedrina ein "solides Netz von Vertrauensleuten und Arbeitnehmern, die sich ihren wahren Interessen klar bewusst sind". Diese Folgerungen zieht Pedrina nach einer treffender Analyse, die er so auf den Punkt bringt: "Die Generation jener Unternehmer (...), die noch von der Ideologie des nationalen Schulterschlusses über alle Klassen hinweg geprägt war, macht einer neuen Generation Platz, für die nur nackte Kräfteverhältnisse zählen und die leicht der Arroganz der Macht verfällt". Er fügt hinzu: "50 Jahren nach dem Friedensabkommen werden wir immer mehr in die Enge getrieben".

Das Zeitalter der Profis

So klar Pedrina die Marschrichtung aufzeigte, so völlig anders war dann die konkrete Entwicklung der Gewerkschaften, die er entscheidend mitprägte. Ab Mitte der 90er und im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends haben die GBI sowie der SMUV - zuerst für sich alleine, dann gemeinsam als Unia - hauptsächlich auf den Profiapparat gesetzt. Das war ein bewusster Entscheid, angesteckt vom damaligen Virus, dass Non-Profitorganisationen "professionalisiert" werden müssen, um richtig zu funktionieren. Man war innerhalb der Gewerkschaftsführung überzeugt, dass nur ein "Profiapparat" in der Lage sei, die neuen Herausforderungen einer sich rasant wandelnden Arbeitswelt zu meistern. Die Funktionäre erhielten unter anderem Kurse im "Management by Objectives" und wurden auf die Rekrutierung neuer Mitglieder gedrillt. Die Gewerkschaft wurde dabei immer stärker als Dienstleistungsunternehmen statt als Kampforganisation "verkauft"; als eine Art Hilfsorganisation, die bei Problemen mit dem Chef einen Rechtsschutz zur Verfügung stellt und im Falle von Arbeitslosigkeit hilft. Entsprechend wurde die Gewerkschaft von den Mitgliedern in Anspruch genommen und das politische Bewusstsein schwand wie Schnee an der Sonne.

Zusehends blieb auch die notwendige, klassische gewerkschaftliche Basisarbeit auf der Strecke liegen. Als Folge davon brachen die Basisstrukturen mit überzeugten und aktiven KollegInnen ein und somit auch die Präsenz der Gewerkschaft vor Ort. Dazu ein konkretes Beispiel: Der langjährige Präsident der Malergruppe der GBI-Sektion Zürich, wohlbemerkt ein Basismitglied, sah seine gewerkschaftliche Aktivität und Aufgabe hauptsächlich darin, den "Berufskollegen auf der Baustelle und im Betrieb die Wichtigkeit, den Inhalt sowie den Sinn und Zweck des GAV zu erklären und sie zu überzeugen, in die Gewerkschaft einzutreten", wie er es selber immer wieder gerne betonte. Doch besorgt über die Entwicklung hielt er vor rund 15 Jahren an einer Sitzung seiner Berufsgruppe fest: "Früher waren es die vielen Vertrauensleute, die dem Gewerkschaftsfunktionär sagten, was er zu tun hat. Heute sind es die vielen Funktionäre, die den wenigen Vertrauensleute sagen, was von ihnen erwartet wird. Da läuft doch was schief." Als logische Folge davon vertiefte sich der Graben zwischen Basis und Gewerkschaftsprofis immer mehr. Dies führte wiederum dazu, dass in der Praxis die Entscheidungen vom Profiapparat getroffen und von der Basis kopfnickend abgesegnet wurden. Die "Gewerkschaft von Profis" führte dazu, dass der angestrebten "Gewerkschaft in Bewegung" die Träger und Hauptakteure fehlten, in einem Wort: die Basis!


Zurück in die Zukunft

Eine Tatsache, die 23 Jahre nach seinen Ausführungen im "Widerspruch" auch von Pedrina bestätigt wird. In einem Interview in der Unia-Zeitung "work" vom 2. Dezember 2010 sagte er: "Heute leisten Profis den überwiegenden Teil der Gewerkschaftsarbeit. Die aktive Präsenz in den Betrieben wird immer schwieriger. Diese Form von Gewerkschaft funktioniert nicht mehr." Der ehemalige Unia Co-Präsident hält weiter fest: "Wir sind jetzt an einer Bruchstelle: Die Stellvertretergewerkschaft hat ausgedient. Wir müssen eine Gewerkschaft erfinden, die wieder vermehrt von ihren Mitgliedern getragen wird". Es ist die gleiche Forderung wie 1987 einfach mit anderen Worten.

Die Aussagen von Pedrina im "work" stehen im Zusammenhang mit dem Unia-Kongress vom 3. und 4. Dezember 2010 in Lausanne, an dem die Delegierten das Programmpapier "Stärkung der Unia-Vertrauensleute" verabschiedeten. Dies mit dem ehrgeizigen Ziel, in "den kommenden Jahren 2000 bis 3000 Vertrauensleute" zu gewinnen. Sie sollen "vernetzt und in ihrer Rolle gestärkt werden - sowohl in den Betrieben wie in der Gewerkschaft", schreibt "work" dazu. Spannend und gleichzeitig vielsagend über die letzen beiden Jahrzehnte ist die Wortwahl, mit der die Unia den Kongress beschreibt: Von einer "radikal verwandelten Gewerkschaft", ja gar von einer "Kulturrevolution" ist die Rede, und sie will "vom Apparat zurück zur Basis und zur Gewerkschaft der Vertrauensleute". Am ausserordentlichen Kongress vom 31. März 2012 in Bern wurde laut Medienmitteilung die "Stellung der Basismitglieder innerhalb der Unia weiter gestärkt. So werden im Zentralvorstand mehr Basismitglieder Einsitzt nehmen".


Betteln um das Friedensabkommen

Die angestrebte "Kulturrevolution" ist zwingend notwendig, um streikfähig zu werden, was oberstes Gebot sein muss. Doch sie droht ohne eine Radikalisierung der politischen Kultur eine Fülle schöner Worte und Sätze zu bleiben. Diese "Politrevolution" muss mittelfristig zum Ziel haben, das Friedensabkommen in die Wüste zu schicken. Eine Notwendigkeit, die sich aus der Aktualität ergibt: Die Gewerkschaft ist heute ohne ihre stärkste Waffe, den flächendeckenden Branchenstreik, auf das Friedensabkommen und dem LMV angewiesen. Ohne LMV hat die Unia den Bauarbeitern wenig zu bieten und es käme daher mit Sicherheit zu einem massiven Mitgliederschwund im Bauhauptgewerbe mit gravierenden finanziellen Konsequenzen. So verkommt der Abschluss des LMV zu einem überlebensnotwendigen Ziel der Unia. Der LMV muss aber das kraftvolle Mittel werden und sein, um die Forderungen der Basis durchzusetzen. Ziel und Mittel sind nicht das gleiche!

Zudem kommt hinzu, dass der Schweizerische Baumeisterverband (SBV) die Unia offen und frontal bekämpft. This Jenny, Bauunternehmer und SVP-Ständerat aus Glarus, hat Mitte März eine parlamentarische Initiative eingereicht, um das "Gewerkschaftsmonopol" zu brechen. Jenny verlangt, dass der Bundesrat für die Allgemeinverbindlicherklärung der Gesamtarbeitsverträge die Gewerkschaftsmitglieder nicht stärker gewichten darf als Arbeitnehmende, die sich per Einzelunterschrift(!) an einem GAV beteiligen. Was dies konkret heisst, weiss der SBV sehr genau: "Damit könnte auch eine kleinere Arbeitnehmerorganisation plus genügend Einzelunterschriften die nötige Mehrheit für eine Allgemeinverbindlicherklärung erreichen". Natürlich unterstützt der SBV diese Forderung und schreibt: "Das Monopol der Gewerkschaften zur Vertretung von Arbeitnehmerinteressen ist in der heutigen Arbeitswelt überholt". Angesichts dieser Tatsachen bleibt der Unia kein grosser Spielraum: Ihre Streikfähigkeit muss so gross werden, dass die Arbeitgeber richtiggehend um ein Friedensabkommen betteln.

Wie kann diese Streikfähigkeit erreicht werden? Vasco Pedrina hat es vor 25 Jahren bereits geschrieben: Es braucht ein "solides Netz von Vertrauensleuten und Arbeitnehmern, die sich ihren wahren Interessen klar bewusst sind". Der Punkt ist, dass die Interessen der Arbeitnehmer in der kapitalistischen Wirtschafsordnung immer den Interessen der Arbeitgeber weit untergeordnet bleiben werden. Die "Kulturrevolution" der Unia impliziert daher, dass die Frage der Überwindung des Kapitalismus zentraler Bestandteil beim Aufbau des Vertrauensleutenetzes wird. Ob die Unia-Führung diesen Schritt tut oder von der Basis dazu gezwungen wird, werden die kommenden Jahre zeigen. Fakt ist heute, dass auch 75 Jahre nach dem Friedensabkommen die Gewerkschaften in "die Enge getrieben werden", so wie es Pedrina bereits im Jahr 1987 richtigerweise festgestellt hat.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 17/18/2012 - 68. Jahrgang - 27. April 2012, S. 10
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Mai 2012