Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

VORWÄRTS/763: Buchbesprechung - Mit David Harvey das "Kapital" lesen


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 35/36/2011 vom 7. Oktober 2011

Mit David Harvey das "Kapital" lesen

von Thomas Schwendener


Mit der grössten Wirtschaftskrise seit der Grossen Depression der 1930-er Jahre stösst die Frage nach der Funktionsweise der kapitalistischen Ökonomie wieder auf breiteres Interesse. Dabei kommt man kaum um die Analysen von Karl Marx herum. Kürzlich ist nun von David Harvey auf Deutsch eine lohnenswerte Einführung in den ersten Band des "Kapitals" erschienen.


Der bekannte marxistische Humangeograph und Sozialwissenschaftler David Harvey gibt seit fast 40 Jahren Unterricht zum "Kapital" von Karl Marx. So ist es ein Glücksfall, dass seine gut verständliche Einführung nun auf Deutsch erschienen ist. Harvey versteht es, komplexe Zusammenhänge und verwinkelte Argumentationen klar und deutlich darzustellen. Man soll sich aber nicht täuschen: Die ersten drei Kapitel seines Buches sind schwere Kost. Das hängt damit zusammen, dass der behandelte Stoff komplex ist und Marx grundlegende Kategorien und Begriffe auf eine apriorische und etwas kryptische Art und Weise setzt - das heisst, er setzt die Begriffe, ohne diese vorerst logisch zu entwickeln. Um Marx zu folgen, muss man sich dabei auf seine Argumentation einlassen, was in den kommenden Kapiteln aber belohnt wird. Harvey versucht, die LeserInnen an die Hand zu nehmen und sie durch das dialektische Labyrinth des "Kapitals" zu führen. Das gelingt ihm dank seiner verständlichen Sprache und aktuellen Beispielen gut. So ist zum Beispiel das berüchtigte und viel diskutierte Kapitel zum "Fetischcharakter der Ware", das viele LeserInnen zum Aufgeben bringt, sehr plastisch dargestellt.

Harvey nimmt sich Zeit, um auf die dialektische Darstellungsweise von Marx einzugehen. Es ist sehr angenehm, dass der Autor die Vorgehensweise von Marx genau erläutert. So wird klar, warum die Argumentation im "Kapital" sich durch die beständige Umwandlung, Umformulierung und Ausweitung der vorgefundenen Widersprüche entwickelt und warum Marx deshalb immer wieder zu bereits entwickelten Sachverhalten zurückkehrt.


Fruchtbare Interpretation

Harveys Buch bietet eine fruchtbare Herangehensweise an die schwere Kost des "Kapitals". Dabei bleibt der Autor aber immer vorsichtig und weist darauf hin, dass seine Interpretation auch nur eine Interpretation und nicht notwendig der Weisheit letzter Schluss ist. Er erklärt, dass der Kapitalismus kein starres System ist, sondern ein dynamisches, sich in Widersprüchen entfaltendes, gesellschaftliches Verhältnis. Was er damit meint, wird am Begriff des Kapitals deutlich: Das Kapital, so Harvey, ist keine feststehende Sache, sondern befindet sich in ständiger Bewegung. Das Kapital ist "ein Prozess der Zirkulation von Werten". Dabei nimmt das Kapital verschiedene Formen an: Zuerst tritt es als Geld auf, dann als unterschiedliche Ware, bevor es sich wieder in die Geldform zurückverwandelt. Diese prozesshafte Bestimmung des Kapitals ist wichtig und unterscheidet sich fundamental von der klassischen Ökonomietheorie, die traditionellerweise das Kapital als feststehende Vermögenssumme in Form von Geld, Maschinen oder Waren zu fassen versuchte. Diese Bestimmung hat ausserdem wichtige politische Implikationen: Erst so versteht man, dass die ArbeiterInnen das sie beherrschende Kapital als fremde Macht tagtäglich reproduzieren - und darum auch fähig sind, damit Schluss zu machen.


Verteidigung von Marx

Harvey verteidigt an manchen Stellen die marxsche Analyse gegen falsche Vorwürfe. So hält er einer tatsächlich problematischen historischen Leseweise der ersten Kapitel des "Kapitals" eine logische Herangehensweise entgegen. KritikerInnen haben angemerkt, dass Marx mit der Entwicklung der Geldform eine teleologische Geschichtsschreibung betreibe (der Kapitalismus wäre demnach ein unvermeidlicher Schritt in der Menschheitsgeschichte) und dass der Prozess der Durchsetzung des Geldes ein weit umkämpfterer und ambivalenterer Prozess gewesen sei. Nach Harvey geht es Marx aber darum, logisch zu entwickeln, wie die Geldform entstanden ist, um so zum Kern des Problems - ohne historische Modifikationen - vorzustossen und die immanenten dialektischen Beziehungen einer entwickelten kapitalistischen Produktionsweise zu enthüllen. Auch andere Vorwürfe, die etwa auf einer falschen Auffassung der berühmten These der absoluten Verelendung der Arbeiterklasse oder auf einem undialektischen Verständnis des Materialismus beruhen, weisst der Autor überzeugend zurück. An gewissen Stellen weicht allerdings auch er von Marx ab. Wenn man nicht in einer strengen Orthodoxie befangen ist, dann leuchten einige dieser Abweichungen durchaus ein: So bei der Kritik an der ausschliesslichen Fokussierung von Marx auf den Typus des Manchesterkapitalismus. Oder bei der Betonung, dass Marx die Frage der kapitalistischen Prägung der Maschinerie - die dann nicht mehr einfach für den Kommunismus zu übernehmen wäre - zweideutig beantwortet hat.


Problematische Stellen

Auch wenn das Buch von Harvey zu empfehlen ist, hat es doch einige Schwachstellen. So entwickelt der Autor etwa die Idee, dass zwar der Wert eine historische Kategorie sei, dass aber KommunistInnen eine alternative Wertform entwickeln müssten, "die auf völlig andere Weise der gesellschaftlichen Reproduktion dient". Es ist mehr als fraglich, warum die gesellschaftliche Vermittlung in einer Gesellschaft der Bedürfnisproduktion noch so was wie eines Wertes bedarf. Zudem erwähnt Harvey auffällig häufig den Namen Keynes, ohne ihn zu kritisieren und versteigt sich dann im letzten Kapitel in die Behauptung, dass die Krise in den 1930er Jahren wohl von Keynes richtig analysiert worden sei. Es ist allerdings bekannt, dass es eben nicht die keynesianischen Wundermittel waren, die beispielsweise die USA gerettet haben, sondern erst die Kriegsvorbereitungen und der Eintritt in den Zweiten Weltkrieg. Dass Harvey dann auch noch den tendenziellen Fall der Profitrate - der eigentlich erst im dritten Band behandelt wird - bestreitet und stattdessen acht Punkte für eine Krisentheorie darstellt, für deren Mehrzahl man nicht notwendigerweise Marx braucht, das hinterlässt dann doch einen etwas eigenartigen Nachgeschmack. Es gäbe noch einige Punkte zu erwähnen, die aber nicht den Kern des Buches, die Auseinandersetzung mit dem ersten Band des "Kapitals", betreffen. Deshalb ist das Buch als Einführung in die marxsche Theorie zu empfehlen, sowohl für EinsteigerInnen wie auch für Leute, die das "Kapital" bereits gelesen haben und an einer fruchtbaren Interpretation interessiert sind.


DAVID HARVEY: MARX' "KAPITAL" LESEN.
HAMBURG 2011. 390 SEITEN. ZIRKA 37 FRANKEN.


*


Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 35/36/2011 - 67. Jahrgang - 7. Oktober 2011, S. 12
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: Vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch

vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Oktober 2011