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VORWÄRTS/726: Eine andere Studentenbewegung


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 17/18/2011 vom 13. Mai 2011

Eine andere Studentenbewegung
Pascal Jurt führt ein Interview mit Jan Ole Arps


tho. Nach 1968 verliessen die StudentInnen auch in Deutschland die Universitäten und gingen in die Fabriken, um die Einsichten Marx' mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen der FabrikarbeiterInnen und anderer Lohnabhängiger zu konfrontieren.
Pascal Jurt führt ein Interview mit Jan Ole Arps, der in seinem Buch "Frühschicht" die linken Fabrikinterventionen der 70er Jahre untersucht.


PASCAL JURT: In deiner Studie untersuchst du die gesellschaftlichen und historischen Bedingungen unter denen politische AktivistInnen und Intellektuelle mit Marx, Lenin, Mao oder operaistischen Schriften im Gepäck vor dem Fabriktor, aber auch innerhalb der Fabrik versuchten zu agitieren. Du hast unter anderem Interviews mit ehemaligen AktivistInnen geführt. Was waren die Gründe für Linke nach 1968 in die Fabrik zu gehen?

JAN OLE ARPS: Der Aufbruch von 1968 war für die Beteiligten eine existenzielle Erfahrung, die im Zeitraffer ganze Lebensentwürfe umkrempelte. Eben noch brave Studentin, jetzt schon auf der Barrikade. Mit dem Tempo, in dem sich die Leben der Einzelnen veränderten, hielten die gesellschaftlichen Entwicklungen aber nicht Schritt. Die politischen Erfolge der Bewegung waren ja bescheiden: Weder konnte sie die Notstandsgesetze verhindern, noch nach dem Attentat auf Rudi Dutschke auch nur für einen Tag die Auslieferung der Zeitungen des Springer-Konzerns verhindern. Das hinterliess ein Gefühl der Ohnmacht. Dagegen: Als im September 1969 Arbeiter verschiedener Branchen wilde Streiks anzettelten, wurden ihre Forderungen meist nach wenigen Tagen erfüllt. Das machte Eindruck auf die Studenten. Hinzu kommt, dass die Fabrik in den l96Oern noch von absolut zentraler Bedeutung war: fast die Hälfte der Erwerbstätigen arbeitete in der Produktion. Und in den Nachbarländern Italien, Frankreich, England wurde heftig gestreikt. Da lag der Gedanke nicht fern, dass das auch in Deutschland möglich sein müsste - wenn man etwas nachhilft. In die Betriebe oder in die Bevölkerung zu gehen, war der logische, nächste Schritt für viele, ein vielversprechendes Abenteuer!

PASCAL JURT: Auf die blosse Befragung sollte also eine unmittelbare Beteiligung folgen. Man wollte nicht nur wie ethnographische Feldforscher oder mit dem Rüstzeug der teilnehmenden Beobachtung der klassischen Industrie- und Arbeitssoziologie den ArbeiterInnen begegnen, sondern auch agitieren und sich selbst proletarisieren?

JAN OLE ARPS: Die verschiedenen Strömungen setzten unterschiedliche Schwerpunkte: Die Spontis begannen mit Untersuchungen, sie wollten die Bedingungen für politische Aktionen in der Fabrik ergründen und erste Aktionen zusammen mit Arbeitern starten. Die Maoisten stellten zu Beginn die politische Agitation in den Vordergrund. Aber der Impuls war ähnlich: raus aus dem studentischen Milieu, rein in die Bevölkerung. Übrigens auch bei denen, die, wie die DKP, vor allem in den Gewerkschaften arbeiteten, oder wie das Sozialistische Büro, über Bildungsarbeit im Proletariat nachdachten. Wie vielfältig die Versuche waren, ist heute kaum noch bekannt.

PASCAL JURT: Inwiefern unterschieden sich maoistische von spontaneistischen oder operaistischen Fabrikinterventionen?

JAN OLE ARPS: Zunächst mal von der Zahl der Teilnehmer und von der Dauer ihrer Aktivitäten. Die Maoisten waren mehr und sie blieben auch viel länger in den Betrieben - manche bis heute. Das hat natürlich auch mit den unterschiedlichen Konzepten zu tun. Manche Sponti-Gruppen planten ohnehin, nur ein Jahr in der Fabrik zu bleiben. Ihr Ziel war nicht, selbst zur Avantgarde des Proletariats zu werden, sondern Lage und Bewusstsein der Arbeiter und rebellische Proleten kennenzulernen, mit denen man zusammen was starten konnte. Gruppen wie der "Revolutionäre Kampf" aus Frankfurt haben sich eher als eine Art Starthilfekabel für die Selbstorganisierung der Arbeiter verstanden. Ausserdem bedeutet Vollzeit-Fabrikarbeit auch, dass nicht mehr viel Zeit für anderes bleibt. Wenn du morgens um halb fünf aufstehen musst, kannst du nicht bis nachts um zwei in der Kneipe oder in der WG-Küche sitzen. Die Fabrikarbeit war mit dem Sponti-Lebensstil schlecht zu vereinbaren. Auch deshalb verliessen manche die Fabrik schnell wieder.

Bei den Maoisten oder K-Gruppen stand die "fröhliche" Entfaltung des Individuums nicht so im Vordergrund, da wog die Organisationsdisziplin schwerer. Deshalb sind viele Maoisten länger in der Fabrik geblieben. Mit den Jahren haben sich ihre Aktivitäten im Betrieb sehr verändert, sie haben sich der Realität angepasst in Richtung Interessenvertretung. Viele von ihnen sind heute noch linke Gewerkschafter. Manche haben auch Karriere im Apparat gemacht. Die politische Agitation der K-Gruppen blieb davon lange unberührt: Ein etwas bizarres Nebeneinander.

PASCAL JURT: Sowohl die Septemberstreiks von 1969 und die Streikbewegung bis 1973 waren ja sehr stark von migrantischen ArbeiterInnen geprägt. Inwieweit wurde das von den AktivistInnen reflektiert?

JAN OLE ARPS: Die Spontis zielten, zumindest in der Theorie, sowieso auf den "multinationalen Massenarbeiter", wie es damals hiess. Ihre Grundannahme war: Die deutschen Facharbeiter sind gewerkschaftlich und durch die Arbeitsorganisation fest in die betriebliche Ordnung eingebunden. Kämpfe sind eher von denen zu erwarten, die unten in der Hierarchie stehen und die besonders unangenehmen Arbeiten machen müssen: Angelernte, Arbeitsmigranten, Jugendliche, auch Frauen. An die richteten sie sich auch vor allem. Was die Kämpfe der frühen 1970er anging, hatten sie also einen ganz guten Riecher.

Die Maoisten appellierten stärker an die Einheit der Arbeiterklasse gegen das Kapital und die "DGB-Bonzen". Widersprüche wurden da nicht so gesehen. Aber in der Praxis hatten sie auch viel mit migrantischen Kollegen zu tun, weil die wegen ihrer speziellen Benachteiligungen und auch politischen Ausschlüssen leichter ansprechbar waren. Das gilt für beide Lager. Und beide hatten auch viel mit politischen Organisationen der Migranten zu tun.

PASCAL JURT: In den Berichten der AktivistInnen merkt man auch oft die Enttäuschung über eine gewisse Lethargie der deutschen ArbeiterInnen an. Warum standen denn die AktivistInnen der ArbeiterInnenklasse (im Gegensatz zu Italien oder Frankreich) doch eher fremd gegenüber, waren gar isoliert?

JAN OLE ARPS: Diesen Eindruck der Fremdheit muss man vielleicht etwas relativieren. Im Buch habe ich das vielleicht etwas zu sehr hervorgehoben. Für die, die nur kurz im Unternehmen waren, war es sicher so. Ich glaube, die Enttäuschung betrifft eher die schlechten Möglichkeiten für revolutionäre Aktivitäten. Viele, die in die Fabrik gingen, hatten ja eine ziemlich bewegte Zeit hinter sich, Demonstrationen, Aktionen, Uni-Besetzungen. Das lässt sich am Arbeitsplatz natürlich nicht ohne weiteres fortsetzen, da sind solche Situationen die Ausnahme. Die meiste Zeit wird gearbeitet. Und wenn doch mal was Aufregendes passiert, dann fliegt man schnell raus wegen Störung des Betriebsfriedens. Ein Unternehmen ist ja kein öffentlicher Ort, an dem man einfach protestieren kann. Die Bedingungen für Protest und Aktionen sind ganz anders. Ich glaube, die Enttäuschung betrifft vor allem diesen Punkt, wenn es sie gab.

PASCAL JURT: Lag es nicht auch am Denkfehler des politischen Marxismus beziehungsweise des leninistischen Kadergedankens, der davon ausging, dass Klassenbewusstsein nur durch Agitation geschieht, nicht aber vor allem durch die gemeinsame Erfahrung der Ausbeutung oder auch im gemeinsamen Widerstand?

JAN OLE ARPS: Klar, durch ein Flugblatt wird niemand zum Revolutionär. Erst recht niemand, für den Texte keine grosse Bedeutung haben. Aber das gleiche Problem hatten die Spontis auch. Eine Sponti-Gruppe hat in ihrer Auswertung sinngemäss geschrieben: Wieso sollten die Arbeiter nur wegen unseren Flugblättern plötzlich ihre Angst vor dem Unternehmer verlieren, ihre Uneinigkeit überwinden und losschlagen? Wer nicht nur für ein paar Monate in der Fabrik arbeiten muss, hat mehr zu verlieren als die linken Agitatoren. Vielleicht hat man im Betrieb gerade nette Kollegen, die Arbeit ist relativ angenehm und das Gehalt auch nicht schlecht. Wieso soll man das leichtfertig aufs Spiel setzen, wenn die Alternative ist, dass das "Spiel" in einem anderen Unternehmen, vielleicht schlechter bezahlt, mit schwererer Arbeit und unbekannten Kollegen von vorne losgeht?

PASCAL JURT: Wenn man sich die Streiks heute zum Beispiel bei "Gate Gourmet" anschaut und auch die allgemeine Transformationen der Arbeitswelt in Betracht zieht, hat sich doch einiges verändert: Die alten AktivistInnen rekrutierten sich - zumindest in Deutschland - eher aus kleineren K-Gruppen und versuchten eher kaderartig ihre Ideen den ArbeiterInnen aufzuoktroyieren. Heute arbeiten UnterstützerInnen meist nicht mehr direkt in den Werken und sind nicht in Gewerkschaften organisiert. Sind sie deshalb eventuell risikobereiter und auch unabhängiger?

JAN OLE ARPS: Ich glaube nicht, dass es hilfreich ist, wenn linke Aktivisten, die einen Kampf von aussen unterstützen, risikobereiter sind als die Beschäftigten, um deren Kampf es geht. Das ist ja wieder der avantgardistische Gedanke, der auch in den l97Oern verbreitet war. Aber es stimmt: Die politischen Rezepte von damals sind unter bestimmten historischen Bedingungen entstanden. Für heutige Arbeitskämpfe werden sich andere Formen entwickeln. Die nächsten Jahre werden sicher spannend.


Jan Ole Arps: Frühschicht. Linke Fabrikintervention in den 70er Jahren. Berlin-Hamburg 2011. 238 Seiten. 16 Euro.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 17/18/2011 - 67. Jahrgang - 13. Mai 2011, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Mai 2011