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VORWÄRTS/720: Generation Revolution - von Bengasi bis Lampedusa


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 13/14/2011 vom 8. April 2011

LYBIEN
Generation Revolution: von Bengasi bis Lampedusa


Redaktion. Alma Allende beobachtete für die Website "Rebelion" die Tunesische Revolution. Sie stellt Fragen an Daniele del Grande, der seit zwei Wochen vor Ort in Bengasi ist. Er berichtet aus der Mitte der Aufständischen. Ein Interview, das helfen soll, die Entwicklung in Libyen besser zu verstehen.


FRAGE: Gabriele, die UNO-Intervention wurde beschlossen und Libyen wird von den Alliierten bombardiert. Einige Antiimperialisten versuchen den Nachweis zu erbringen, dass die Revolte von Anfang an von den westlichen Mächten vorbereitet wurde. Gab es einen solchen externen Plan oder hat es sich um spontane Revolten von unten gehandelt, wie in Tunesien und Ägypten?

DANIELE DEL GRANDE: Ich bin mit denen, die rufen, es habe eine Verschwörung gegeben, überhaupt nicht einverstanden. Wie in Tunesien, Ägypten, dem Jemen und jetzt auch in Syrien sind die Revolten in Libyen nicht die Frucht amerikanischer Verschwörungen, sondern vielmehr die natürlichste Antwort gewesen, die wir nach jahrzehntelangen - im Namen der Stabilität und guter Geschäfte von den Grossmächten unterstützten - Diktaturen erwarten konnten. Sie sind spontan gewesen und von unten ausgegangen. Es verwundert, dass Verschwörungstheorien aus linken Kreisen kommen. Das ist ein interessantes Paradoxon. Es sind vor allem die Armen, die in Kairo, wie in Tunis und Bengasi, auf der Strasse sind. Die Armen aber fordern keine Löhne, sie wettern nicht gegen die Bonzen, sie identifizieren sich nicht mit der Arbeiterklasse - zumindest noch nicht. Vor allem fordern sie Freiheit und sie sehen sich vordergründig als Bürger. Die wichtigsten Instrumente, die es ihnen erlauben, sich zu organisieren, sind Konsumgegenstände: der Computer, mit dem man ins Netz gehen kann, und die Videohandys, mit denen sie das, was auf der Strasse passiert, festhalten. Schliesslich gibt es noch ein generationsspezifisches Element. Es handelt sich im Gegensatz zu Italien, wo der Bürger im Durchschnitt im kalten Krieg heranwuchs, um junge Länder. Der Grossteil der Bevölkerung ist weniger als 25 Jahre alt und drängt auf Wandel. Einen Wandel, den wir am nördlichen Ufer nicht zu begreifen vermögen - auch wegen einer rassistischen und kolonialen Herangehensweise, von der wir uns noch nicht befreit haben. Europa hält sich für die einzige Wahrerin der Demokratie, als handle es sich dabei um einen Begriff, der einigen aber nicht allen eigen ist. Und sie hält es für nicht möglich, dass ein muslimisches Land nach Freiheit statt nach religiösem Obskurantismus streben könnte. Das ist der Grund, weshalb die Verschwörungstheorien greifen. Wir können nicht akzeptieren, dass "ihr" Wiederaufleben "unserer" Dekadenz gegenübersteht.

FRAGE: Warum glaubst du, dass die USA, die EU und auch Italien sich für eine "humanitäre" Intervention gegen einen Freund und Verbündeten entschieden haben?

DANIELE DEL GRANDE: Aufgrund eines kapitalen Berechnungsfehlers. Ich erläutere das: Anfangs schien es so, als würde das Gaddafi-Regime innerhalb weniger Tage zusammenfallen. In Tunesien und Ägypten lief es so ab. Es gab in jenen Tagen einen Wettlauf der Weltmächte, um einerseits die libysche Diktatur zu verurteilen und andererseits um Signale der Öffnung an die Aufständischen zu senden, damit die Kontinuität der Ölverträge und der milliardenschweren Aufträge aus Libyen gewahrt bleibt. Dann hat sich Gaddafi jedoch als härterer Brocken erwiesen als vermutet worden war. Dank dem Spiel auf Zeit der UNO und dem Antreten von Söldnern aus anderen afrikanischen Staaten, die Professionelle des Krieges sind in den Städten der Aufständischen eingesetzt werden, konnte Gaddafi an Boden gewinnen. So haben die internationalen Grossmächte eine Entscheidung treffen müssen, um ihre Interessen in Libyen zu verteidigen: Entweder auf die Aufständischen setzen oder umkehren. Dies hätte allerdings die Gefahr beinhaltet, dass Gaddafi - vor dem Hintergrund seines eigenwilligen und wankelmütigen Handlings des "Systems Libyen" - aus Ressentiment die Verträge mit den Gesellschaften jener Staaten aufhebt.

FRAGE: Wer gehört dem libyschen Nationalrat an? Sind es Agenten des Imperialismus, gute Revolutionäre oder eine Mischung aus allem?

DANIELE DEL GRANDE: Es sind Gestalten unterschiedlichsten Hintergrunds. Vor allem Anwälte, Richter, Geschäftsleute und das ein oder andere saubere Gesicht des Regimes. Einige sind nach Jahren des Exils im Ausland nach Libyen zurückgekehrt, besonders aus den USA. Aus ihren Erklärungen geht deutlich hervor, dass sie ein geeintes Libyen anstreben. Es soll auf einem verfassungsrechtlichen, parlamentarischen und von Parteien getragenen System beruhen, welches, mit der Hauptstadt Tripolis, die alten Ölverträge einhält und die Freiheit der Meinungsäusserung, der Bildung von Vereinigungen und Unternehmen sowie der Gesinnung anerkennt. Die Arbeit, die vor ihnen liegt, ist unendlich gross, weil die Zivilgesellschaft in Libyen seit 42 Jahren praktisch nicht existiert. Es gibt keine Vereinigungen. Es gibt keine Gewerkschaften. Es gibt keine politischen Parteien. Es gibt keine Institutionen. Es gibt nur das Netzwerk der Volkskomitees Gaddafis, seine Spezialkräfte und eine Armee, die nichts zählt sowie die lange Hand des grossen Häuptlings, der je nach Laune über alles entscheidet.

FRAGE: Gibt es in Bengasi eine organisierte Linke? Welche Rolle haben die Jugendlichen gespielt?

DANIELE DEL GRANDE: Die Linke gibt es nicht und wenn sie es gibt, dann sieht man sie nicht. Noch mal: Es gibt und gab in den letzten vierzig Jahren keine politischen Parteien. Jede Form des Dissenses ist repressiv unterdrückt worden. Die einzige interne Opposition der letzten Jahrzehnte ist der politische Islam gewesen, der härtester Repression ausgesetzt war. Es genügt, an die 1.200 Islamisten zu denken, die 1996 im Abu Salim-Gefängnis in Tripolis in einer Nacht niedergemetzelt wurden. Und auch die Revolution vom 17. Februar ist durch den Funken einer ihrer Proteste entstanden, als die Angehörigen der Opfer vom 15. Februar auf die Strasse gingen um Gerechtigkeit zu fordern. Sonst ist es eine spontane Bewegung, die vor allem aus jungen Menschen besteht, die auch naiv sein mögen, aber im positiven Sinne. Das heisst, es gibt eine Generation, die ohne Sophismen beschlossen hat, dass es sich lohnt, um die Freiheit zu kämpfen und dem Gaddafi-Regime ein Ende zu setzen - auch um den Preis des eigenen Lebens.

FRAGE: Wie war die soziale und wirtschaftliche Lage vor den Revolten? Ist Libyen nicht ein reiches Land? Warum also der Protest?

DANIELE DEL GRANDE: Das ist wieder sehr interessant. Im Unterschied zu Tunesien und Ägypten ist Libyen ein reiches Land. Auch in diesen Tagen sieht man brandneue Geländewagen durch die Gegend fahren und die Häuser, in denen ich war, sind Häuser der Mittelklasse. Die Armen in der Stadt sind vor allem Ausländer. Ägypter, Sudanesen, Tschader, Tunesier, Marokkaner, Nigerianer, die auf der Suche nach Glück nach Libyen eingewandert und bei der Verrichtung der niedersten und am geringsten entlohnten Arbeiten geendet sind. Anders verhält es sich auf dem Land und in bäuerlichen Regionen, die entschieden unterhalb des Lebensstandards der Städte leben. Hier wird aber nicht wegen der Löhne protestiert - ich betone es noch mal. Ich habe nie gehört, wie das Wort "Lohn" ausgesprochen wurde. Natürlich wird die Korruption angeprangert, der springende Punkt ist aber die Freiheit und das Ende der Diktatur und des Staatsterrorismus. Darüber hinaus ist es klar, dass alle glauben, dass eine auf das Allgemeinwohl bedachte Verwaltung des Öls dem ganzen Land grossen Reichtum, mehr Bildung und Lebensqualität einbringen wird.

FRAGE: Haben die Bewohner Bengasis tatsächlich um die Intervention gebeten? Haben sie keine Angst, dass sie die Kontrolle über ihre Revolution verlieren könnten?

DANIELE DEL GRANDE: Die Bewohner Bengasis haben zu zwei Dingen klare Vorstellungen. Sie wollen die Flugverbotszone sowie die Bombardements der Alliierten gegen die Luftwaffe Gaddafis und gegen sein schweres Gerät, welche die Zivilbevölkerung bedrohen. Gleichzeitig wollen sie weder einen Einmarsch ausländischer Truppen noch eine militärische Besatzung. Das sagt die Strasse und der nationale Übergangsrat bekräftigt es.

FRAGE: Die Verschwörungstheoretiker fragen sich, wieso die Demonstranten sich nach den ersten Tagen sofort bewaffnet haben. Woher haben sie diese Waffen genommen? Wer hat die Rebellen versorgt?

DANIELE DEL GRANDE: Es ist seltsam, dass sie sich stattdessen nicht fragen, wer Gaddafi bewaffnet hat und woher er all die Panzer und Raketenwerfer genommen hat, mit denen er die Zivilbevölkerung terrorisiert. Um aber zur Frage zu kommen: Es handelt sich um eine sehr simple Dynamik. Am 15. Februar beginnt der Protest in Bengasi. Wie in Tunis und in Kairo weigert sich die Armee, auf das Volk zu schiessen. Allerdings eröffnen Spezialsicherheitskräfte Gaddafis das Feuer. Es gibt mindestens 300 Tote. Unter dem Druck des Volkes öffnet die Armee daraufhin die Kasernen. Es lässt zu, dass sich die jungen Leute die alten Kalaschnikows und die wenigen Raketenwerfer holen, die in den Depots liegen. Mit diesen Waffen gelingt es ihnen, Gaddafis Spezialkräfte aus der Stadt zu verjagen, Bengasi zu verteidigen und die Nachbarstädte Ljadabiya, Brega und Ras Lanuf zu befreien. All das bis Gaddafis Sondereinheiten, mit Panzern und Raketen bewaffnet und von der libyschen Luftwaffe unterstützt, mit Bombardements Panik in den Reihen der Aufständischen auslösen. Es ist wahr, dass in den Tagen, die auf die ersten militärischen Niederlagen gegen die Armada Gaddafis folgen, neue Waffen und Munition in der Stadt ankommen. Es sind erneut alte Kalaschnikows und auch Flugabwehrartillerie. Jemand hat drei Hubschrauber und zwei Mirage-Flugzeuge wieder in Gang gesetzt, die später beide abgeschossen werden. Eines durch "friendly-fire" und eines wegen der Explosion des Motors. Wenn es auch ein Rätsel ist, woher diese neuen Waffen gekommen sind, so ist dagegen sicher, dass es sich um leichte Waffen von extrem schlechter Qualität handelt.

FRAGE: Wie könnte die westliche Intervention den Verlauf der libyschen und arabischen Revolutionen beeinflussen?

DANIELE DEL GRANDE: Das hängt davon ab, welche Entscheidungen fallen werden. Vorerst hat das Bombardement der schweren Artillerie Gaddafis einfach ein Massaker abgewendet. Mit Sicherheit wurden hunderte libysche Soldaten und Söldner getötet. Mit Sicherheit hätte man das durch eine vorherige Intervention auf diplomatischer Ebene verhindern können, vielleicht zehn Jahre zuvor, statt den Diktator seit dem Ende des Embargos 2004 zu hofieren. So wie die Dinge stehen, hat jenes Bombardement aber die Eroberung Bengasis durch dreissig Panzer und zwanzig Raketenwerfern verhindert, als diese bereits vor den Toren standen und nachdem ein einziger Gefechtstag in der Stadt 94 Tote gekostet hatte! Ob der Krieg gefällt oder nicht - und mir gefällt er nicht - das ist es, wovon wir reden. Jetzt ist es notwendig, dass die Intervention aufhört und dass der Rest der Arbeit von den Libyern erledigt wird. Das Problem ist nicht "Krieg ja oder nein". Der Krieg ist schon da. Und es ist ein Befreiungskrieg. Der Krieg eines Volkes gegen sein Regime. Es darf kein Kolonialkrieg gegen eine Regierung werden, die den eigenen, besonderen Interessen feindlich gegenübersteht. Anhand dessen, was ich in diesen Tagen gesehen habe, fühle ich mich motiviert, das libysche Volk umfassend zu unterstützen. Im besten Falle wird eine auf ein neoliberales Wirtschaftssystem gestützte, verfassungsrechtliche Republik dabei heraus kommen. Das mag uns nicht zusagen, es ist aber das, was den Libyern zusagt und die werden wohl das Recht haben, über ihre Zukunft zu entscheiden! Gaddafi im Namen seiner sozialistischen Maske zu unterstützen ist nicht nur dumm, sondern etwas für Komplizen eines Kriegsverbrechers.

FRAGE: "Gaddafi darf kein Haar gekrümmt werden, die Bilder seines bombardierten Hauses tun mir weh", sagte Berlusconi. Er sagte auch, dass er die Absicht habe, einen Besuch in Tripolis zu absolvieren, um mit dem Rais über "einen ehrbaren Gang von der Bühne" zu verhandeln. Aus welchem Grund?

DANIELE DEL GRANDE: Berlusconi spricht wegen seines Allmachtswahnes so und wegen seiner ständigen Suche nach einem Platz unter den grossen Staatsmännern der italienischen Geschichte. Vermutlich auch, um die italienische und internationale Öffentlichkeit von seinem Hurenbock-Image abzulenken, das seit den letzten, von der italienischen Richterschaft und Presse so morbide untersuchten Sexskandalen an ihm haftet.

FRAGE: Reden wir über Lampedusa. Dort waren 11.000 Migranten gelandet, doch nun befinden sich dort nurmehr 3.000 Migranten. Von 2.000 Menschen ist bekannt, dass sie verlegt wurden. Von weiteren 5.000 bis 8.000 Menschen behauptet das Innenministerium, dass sie im Land "verteilt" seien. Gibt es hier einen Zusammenhang mit Libyen?

DANIELE DEL GRANDE: Nein, vorerst gibt es keinen Zusammenhang. Es wird ihn aber geben, sobald Schiffe wieder aus Zuwara ablegen werden, vermutlich nach dem Ende der Revolution. Auf der Insel kommt momentan keiner an, der auf der Flucht aus Libyen wäre. Gewiss, von hier sind 250.000 Ausländer weggegangen, besonders Ägypter und Tunesier, aber auch Chinesen, Bangladeschis und andere. Sie sind inzwischen aber zum großen Teil heimgekehrt, um später wieder in Libyen zu arbeiten. Die libyschen Flüchtlinge bewegen sich für den Moment von einer Stadt des Landes in die nächste und suchen in den befreiten Zonen im Osten Zuflucht. In Lampedusa sind hingegen ausschliesslich Tunesier angekommen, die zudem aus Zarzis, Djerba und Tatouine stammen. Auch hier liegt nicht das Chaos der Revolution die Ursache des rasanten Anstiegs der Abfahrten, wie viele behauptet haben, die nach politischem Asyl rufen und von Flüchtlingen reden. Es liegen stattdessen zwei Faktoren vor. Ein eher zufälliger, der mit der tunesischen Wirtschaftskrise zusammenhängt, welche auf den Zusammenbruch des Tourismus gefolgt ist. Der zweite hängt mit dem kollektiven Abenteuer zusammen. Noch mal: Allein nach einem Krisenschema zu räsonieren ist oberflächlich und rassistisch, weil wir so dazu gebracht werden, zu vergessen, dass von jungen Leuten die Rede ist, die uns mit ihren Träumen und ihrem Sinn für Herausforderungen gleich sind. Tausende junge Leute haben gelernt, dass es richtig ist, zu rebellieren. Ohne es vielleicht rational erfasst zu haben, haben sie begonnen, gegen die Ungerechtigkeit der Grenze aufzubegehren. Sie wollen zu ihren Verwandten nach Paris, sie wollen ein paar Monate arbeiten, sie wollen das nördliche Ufer sehen, sie wollen sich mit einer Italienerin verloben. Sie wollen reisen. Der Grund ist ihre Sache, denn das Reisen ist schliesslich nichts, das nur Verzweifelte betreiben. Es ist, ganz im Gegenteil, ein nicht wegzudenkender Teil des Lebens aller jungen Leute von heute. Deswegen sage ich, dass es im Endeffekt nicht schlecht ist, dass Lampedusa überfüllt ist. Das wirft auf explosive Weise ernste Fragen auf. Das Regime der Kriminalisierung der Bewegungsfreiheit muss fallen, genauso, wie die Diktaturen am Mittelmeer gefallen sind. Die Zeit ist inzwischen reif.

FRAGE: Hast Du nicht das Gefühl gehabt, parteiisch zu sein, indem du aus Bengasi schreibst? Wie beurteilst du die Qualität der Information zu Libyen Bengasi? Hat man uns manipuliert?

DANIELE DEL GRANDE: Die linke - eine bestimmte Linke - sagt, dass Gaddafi die Demonstranten nie bombardiert hat und dass dies der Beweis dafür sei, dass alles gelogen ist. Aber auch einige linke Journalisten - wie Mateuzzi von "Il Manifesto" oder "Telesur" - haben eine partielle oder geradezu falsche Information betrieben. Klar bin ich parteiisch. Ich bin mir dessen bewusst und stolz darüber. Jede Erzählung hat einen Standpunkt und es wichtig, den eigenen zu wählen. Ich schreibe von Grenze und nehme dabei den Standpunkt der Zurückgewiesenen und der Familien derer an, die auf See gestorben sind, statt den Standpunkt der europäischen Bourgeoisie oder der Grenzpolizei. Genauso habe ich auch aus der Mitte der Aufständischen und nicht aus der Mitte der Schergen der Diktatoren von den Revolutionen in Tunesien und Ägypten erzählt. So ist es auch in Libyen. Ich will nicht der Sprecher eines Kriegsverbrechers wie Gaddafi sein. Ich wäre hingegen gerne in Tripolis, allein schon, um vom Dissens in der Hauptstadt zu erzählen. Der verschwand nämlich aus den Nachrichten, nachdem die ersten, schüchternen Demonstrationen im Blut ertränkt und alle eingebetteten Journalisten in die Hotels gesperrt und gezwungen wurden, lediglich die vom Regime selektierten Nachrichten zu covern. Folglich bin ich parteiisch. Ich ziehe es vor, auf der Seite derer zu sein, die für die Freiheit kämpfen, statt auf der Seite desjenigen, der Söldnertruppen oder Raketenwerfer einsetzt, um das eigene Volk anzugreifen, weil er nach 42 Jahren Diktatur die Macht nicht loslassen will. Und jetzt kriegt die Linke eine Krise, weil Gaddafi ein Symbol für Sozialismus und "Thirdworldismus" gewesen ist. Noch heute hat er viele Freunde. Unter denen ist Chavez und damit "Telesur", auch Valentino Parlato und damit Il Manifesto. Was die Libyenfrage betrifft, würde ich diese beiden Medien also nicht als Beispiel für guten Journalismus benennen. So wie ich auch nicht den TV-Sender "Al Arabiya" benennen würde, der die falsche Zahl von 10.000 Toten in Umlauf brachte. Auch alle anderen Medien disqualifizieren sich, die ohne Beweise die Nachricht der Bombardements auf Demonstrantenmengen und der Massengräber verbreitet haben und dabei sogar so weit gegangen sind, auf unangebrachte Weise das Wort Genozid zu verwenden. Hierbei kommt zum x-ten Mal die mangelnde Qualität des heutigen Journalismus zu Tage, insbesondere des italienischen. Vor allem wenn es darum geht, Phänomen darzustellen, die von den gewohnten Denkmustern abweichen: Sozialismus und Diktatur, Krieg und Frieden, Islam und Demokratie. Gerade deswegen scheint es mir wichtig, hier zu sein und von den Geschichten der wahren Protagonisten dieser Revolution zu schreiben - den Kids der neuen libyschen Generation.


Daniele del Grande

Der als Journalist, Blogger und Autor arbeitende italienische Menschenrechtsaktivist Daniele del Grande hält sich seit mehreren Wochen in Bengasi auf, um von dort über die Libysche Revolution und den Krieg zu berichten. Er ist durch seinen Blog "Fortress Europe" und einige Publikationen zum Thema Migration und Grenzen international bekannt. Die für das Infoportal "Rebelion" aus Tunesien berichtende spanisch-tunesische Linksaktivistin Alma Allende führt das Interview und stellt verschiedene unbequeme Fragen. Es geht um die Lage am südlichen Rand des Mittelmeers, um Lampedusa und auch um den latenten Rassismus des Westens.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 13/14/2011 - 67. Jahrgang - 8. April 2011
Sonderbeilage Ökologie, S. 10-11
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Mai 2011