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VORWÄRTS/687: Demokratischer Ausschluss vom demokratischen Prozess


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 37/38/2010 vom 9. Oktober 2010

INLAND
Demokratischer Ausschluss vom demokratischen Prozess


mgb. Das Abstimmungswochenende vom 26. September war sehr ernüchternd für all diejenigen Menschen, die sich für eine stärkere politische Teilhabe ausländischer Mitmenschen in der Schweiz engagieren. In den Kantonen Bern und Basel-Stadt lehnten die Stimmberechtigten Initiativen für ein Ausländerstimmrecht deutlich ab.


Die Schweiz kennt eines der am stärksten direktdemokratischen Systeme weltweit. Bürgerinnen und Bürger können unliebsame Gesetze an der Urne bodigen oder die Verfassung ändern. Sie können in vielen Kantonen der Regierung allgemein formulierte Aufträge erteilen und in kleineren Gemeinden niederschwellig direkt am Gesetzgebungsprozess teilhaben. Gleichzeitig fehlt es eben diesen Schweizerischen Stimmberechtigten insofern an demokratischem Geist, als dass sie sich äusserst schwer damit tun, ihre demokratischen Rechte auf zusätzliche Schichten der Einwohnerschaft auszudehnen. So gesehen beim Frauenstimmrecht, welches die Schweiz als einer der letzten Staaten Europas erst 1971 einführte. Der Kanton Appenzell Innerrhoden musste 1990 gar durch das Bundesgericht dazu gezwungen werden, auch dem weiblichen Teil der Bevölkerung die politische Mitbestimmung einzuräumen.

Ähnliches zeigt sich nun beim Ausländerstimmrecht. Demokratie bedeutet grundsätzlich, dass jene Menschen, die von einer Regelung - oder generell einer Machtausübung - betroffen sind, über diese Regelung oder Machtausübung entscheiden können. Deshalb gibt es keinen rationalen Grund, weshalb nicht alle Menschen, welche in der Schweiz leben, hier ihre Steuern zahlen und den hiesigen Gesetzen unterworfen sind, demokratisch über die Ausgestaltung des "Lebensraums Schweiz", der Steuern und der Gesetze mitbestimmen können. Ein Fünftel der Einwohnenden dieses Landes sind jedoch von diesem Prozess ausgeschlossen: Ausländerinnen und Ausländer besitzen hierzulande - ausser in Neuenburg, im Jura und in einzelnen Gemeinden von Appenzell Ausserrhoden - kein Stimm- und Wahlrecht. Kantonale Initiativen versuchten nun diesen Missstand in Bern und in Basel-Stadt zu beheben. Vergebens. Am 26. September lehnten die Stimmberechtigten die entsprechenden Vorschläge mit einer deutlichen Mehrheit ab.


Die Angst geht um

Im Kanton Bern war die Forderung der Initiative vergleichsweise bescheiden. Selbst bei einer Annahme hätte es keinen Automatismus für das Ausländerstimmrecht gegeben. Die Initiative forderte einzig, dass die Gemeinden die Möglichkeit erhalten, AusländerInnen, die länger als zehn Jahre in der Schweiz wohnen, das Stimmrecht in Gemeindeangelegenheiten einzuräumen. Nur gerade 28 Prozent der stimmberechtigten BernerInnen wollten dieser Idee Folge leisten. Für Cyrille Baumann von der PdA Bern, welche die Initiative mitlanciert hat, liegt die Ablehnung vor allem in Angst begründet. "Die Menschen hatten Angst vor dieser Erweiterung der Demokratie - und ein Stück weit auch Angst vor ihren Mitmenschen ohne Schweizer Pass." Generell herrsche derzeit eine fremdenfeindliche Stimmung, unter anderem bedingt durch die Propaganda der SVP.

In Basel-Stadt erreichte die Initiative, welche allen länger als fünf Jahren in Basel-Stadt lebenden AusländerInnen mit Niederlassungsbewilligung das kantonale Stimm- und Wahlrecht erteilen wollte, magere zwanzig Prozent. Zeitgleich kam ein Gegenvorschlag des Regierungsrates zur Abstimmung. Dieser hätte die Hürde für das Stimm- und Wahlrecht bei zehn Jahren Wohnsitz im Kanton festgelegt und den betroffenen AusländerInnen nur erlaubt, zu stimmen und zu wählen - nicht aber, sich selbst wählen zu lassen. Der Gegenvorschlag kam an der Urne immerhin auf respektable 39 Prozent.

Auch in Basel war der Einfluss der SVP-Stimmungsmache indirekt spürbar. Gemäss Einschätzung des Mitinitianten Daniel Ordás von der SP hätte es der Gegenvorschlag geschafft, wenn sich auch die bürgerlichen Regierungsräte Conti (CVP), Eymann (LDP) und Gass (FDP) für diesen stark gemacht hätten. "Sie hätten ausreichend politisches Gewicht aufgebracht, um die fehlenden zehn Prozent im bürgerlichen Lager zu mobilisieren. Aber leider haben sie sich anders entschieden." Die Passivität bei den Bürgerlichen erklärt sich Ordás durch die Angst vor der SVP. Er spricht in diesem Zusammenhang vom "Minarett-Schock". "Leider haben die Bürgerlichen als Steigbügelhalter der SVP entschieden, dass sie für Konfrontation und Ausgrenzung sind, statt für Partizipation und Miteinander. Das ist sehr schade!"


Es gibt Fortschritte

Auch in anderen Deutschschweizer Kantonen sind Initiativen für ein Ausländerstimmrecht in der Pipeline. In Luzern wurde eine entsprechende Initiative bereits eingereicht und wird demnächst im Kantonsrat behandelt. In Zürich ist geplant, in Kürze mit der Lancierung zu beginnen. Das Vorgehen ist in beiden Fällen ähnlich wie im Kanton Bern. Mit den Initiativen würde den Gemeinden bloss die Möglichkeit eingeräumt, AusländerInnen, welche eine gewisse Zeit in der Schweiz leben, das kommunale Stimm- und Wahlrecht zuzugestehen.

Bei allen vier Initiativen spielten die Second@s plus eine wichtige Rolle. Die Organisation setzt sich für die Rechte und Interessen von Migrantinnen und Migranten in der Schweiz ein. Ylfete Fanaj, Präsidentin der Second@s plus, hält das gewählte Vorgehen trotz der Resultate für richtig. Wie beim Frauenstimmrecht brauche man mehrere Anläufe, um die jeweils Stimmberechtigten von der Richtigkeit des Anliegens zu überzeugen: "Es war uns von Anfang an bewusst, dass dies ein sehr langwieriger Prozess ist." In den Kantonen Bern und Basel-Stadt wurde 1994 bereits schon einmal über ein Ausländerstimmrecht abgestimmt. Dass die Resultate nun in beiden Kantonen besser sind als vor 16 Jahren, wertet Fanaj als Zeichen dafür, dass es einen Fortschritt in dieser Frage gibt. Auch die beiden Mitinitianten aus Bern und Basel, Cyrille Baumann und Daniel Ordás, sind der Meinung, dass sich der Aufwand trotz der Resultate gelohnt habe. "Immerhin haben die Städte Bern und Moutier die Initiative angenommen. Das gibt eine kleine Hoffnung", so Baumann. Und. Ordás hält fest: "Einerseits hat die Initiative gezeigt, dass vier von zehn Baslerinnen und Basler für das Ausländerstimmrecht sind. Andererseits sehen nun die Ausländerinnen und Ausländer ganz klar, welche Parteien gegen sie politisieren." Die vierzig Prozent Ja-Stimmen für den Gegenvorschlag seien zudem ein vielversprechendes Ergebnis: "Das zeigt, dass es beim nächsten Versuch klappen sollte!"


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 37/38/2010 - 66. Jahrgang - 9. Oktober 2010, S. 10
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Oktober 2010