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VORWÄRTS/680: Interview mit Viktor Györffy - Schnüffelstaat heute


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 33/34/2010 vom 10. September 2010

Schnüffelstaat heute


tpd. Die Schweiz fichiert bis heute Personen, die ihr nicht passen. Zum Beispiel Menschen, die sich für mehr Demokratie einsetzen. Das wirft die Frage auf, wen der Staatsschutz eigentlich schützt? Der vorwärts sprach mit Viktor Györffy, Präsident von grundrechte.ch, die Nachfolgeorganisation der Stiftung Archiv Schnüffelstaat Schweiz. Diese Stiftung ist im Zusammenhang mit dem Fichenskandal vor etwa 20 Jahren entstanden.



VORWÄRTS: Wie ist das mit den Fichen heute?

VIKTOR GYÖRFFY: Es liegt in der Natur der Geheimdienste, dass man in der Regel sehr wenig über sie weiss, und noch weniger darüber, was sie genau machen. Doch in den letzten Jahren konnten wir ein paar Schlaglichter ins Dunkle werfen. Etwa anhand von Einzelfällen, durch die wir erfahren haben, ob und wie jemand im Staatsschutzcomputer ISIS erfasst wird. Sehr interessant ist ein Bericht, der diesen Sommer herausgekommen ist. Er stammt von der Geschäftsprüfungsdelegation der Eidgenössischen Räte (GPDel). Diese ist das parlamentarische Aufsichtsorgan des Geheimdienstes. Die Delegation hatte bemerkt, dass beim Staatsschutz was nicht stimmen kann. Zum Beispiel werden immer wahlloser sehr breit Daten gesammelt. Die Zahl der im Jahr 2004 erfassten Personen lag bei 60.000. Jetzt sind es 200.000.

VORWÄRTS: 60.000 Staatsfeinde im Jahr 2004?

VIKTOR GYÖRFFY: Hier gibt es eine grosse Diskrepanz. Einerseits gibt es die Logik des Gesetzgebers, der seine Vorstellungen davon hat, was der Geheimdienst machen soll. Gesetzlich geregelt ist, dass bestimmte Aktivitäten beobachtet werden dürfen. Namentlich terroristischer oder gewalttätiger Extremismus. Gleichzeitig ist geregelt, dass politische Betätigung nicht beobachtet werden darf. Denn das berührt die Grundrechte, wie die Meinungsäusserungs- oder Versammlungsfreiheit, aber auch die gewerkschaftlichen Rechte. Dies alles gilt nicht, wenn vorgenannte Aktivitäten nur als Vorwand für gewaltextremistische Tätigkeiten dienen. Soweit die gesetzliche Schranke. Was der Bericht aufzeigte, ist, dass diese Schranke in der Praxis völlig wirkungslos ist. Es werden sehr viele Informationen gesammelt. Sehr breit, unspezifisch, oberflächlich und undifferenziert. Es ist ohnehin so, dass man kaum von einem Verdacht sprechen muss, damit der Staatsschutz aktiv wird. So wie dieser handelt, genügt eine Meldung über irgendetwas und man landet in dem Staatschutz-Computer.

VORWÄRTS: Ist das kein Rechtsbruch? Steht den Betroffenen der Rechtsweg offen?

VIKTOR GYÖRFFY: Dass Gesetze nicht eingehalten worden sind, ist ganz klar. Mit dem Eindämmen oder Klagen ist es sehr viel schwieriger. An sich gibt es ja die parlamentarische Kontrolle. Es gibt auch departementsinterne Kontrollen. Offensichtlich können diese nicht viel ausrichten. Und was den Rechtsweg der Betroffenen angeht, ist zunächst einmal gesetzlich geregelt, dass man grundsätzlich kein Einsichtsrecht hat. Wer ein Einsichtsgesuch stellt, bekommt meist die gleichlautende kafkaeske Antwort, aus der nicht hervorgeht, ob man registriert ist oder nicht. Hier schützt das Gesetz den Staatsschutz. Es gibt allerdings eine Ausnahmeklausel. Dazu gibt es eine EMRK-konforme Auslegung (EMRK = Europäische Menschenrechtskonvention, Anm. d. Red.), also teilweise wird die Klausel entsprechend der Praxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte angewandt. Trotzdem bleibt es in der Schweiz Glücksache, ob man Einsicht erhält oder nicht.

VORWÄRTS: Wie wird fichiert?

VIKTOR GYÖRFFY: In verschiedenen Kategorien. Es gibt Personen mit direkter Staatsschutzrelevanz. Bei diesen wird vermutet, dass sie zum Beispiel gewalttätige Extremisten sein könnten. Dann gibt es die Kategorie so genannter Drittpersonen. Diese werden fichiert, weil sie zu einer registrierten Person einen Bezug haben. Zum Beispiel, wenn eine registrierte Person das Auto einer Drittperson benutzt. In der Praxis wird die Kategorie Drittperson als Auffangbecken benutzt. Alles, was man sonst noch fichieren will, landet hier. Wenn zum Beispiel jemand an einer Demo kontrolliert wurde und sonst nichts, dann ist man in der Regel als Drittperson erfasst. In diesem Zusammenhang gibt es auch ein internes, gegen 600 Seiten dickes technisches Handbuch. Eine Regel darin besagt: Wer mehr als zweimal in einer Meldung erwähnt wurde, wird in der Datenbank automatisch von der Kategorie Drittperson in die Kategorie Staatsschutzrelevant transportiert.

VORWÄRTS: Was ratet Ihr Politaktivisten, die davon ausgehen, fichiert zu werden?

VIKTOR GYÖRFFY: In solch einem Fall will man vielleicht wissen, ob man in der Tat fichiert wurde. Und wenn ja, wie. Das Problem ist, dass das Einsichtsrecht nur in Ausnahmefällen gewährt wird. Zuständig ist hier der Eidgenössische Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragte (EDÖB). Er gibt einem jeweils Gelegenheit, anzugeben, weshalb man ausnahmsweise Einsicht will. Liefert man hier eine detaillierte Begründung, dann sind die Chancen besser, Einsicht zu erhalten. Aber das bedingt ein Stück weit, seine politische Tätigkeit offenzulegen. Persönlich würde ich das eingehen, aber ich verstehe, wenn jemand Mühe damit hat. Bekommt man keine Auskunft, kann man den Bescheid des Datenschutzbeauftragten durch das Bundesverwaltungsgericht überprüfen lassen. Bei den Fällen die ich kenne, ist das Gericht jedoch kaum auf das Gesuch eingegangen. Eine effektive gerichtliche Prüfung bekommt man damit im Moment nicht, obschon dies von Strassburg verlangt würde. Was bleibt, wäre das Bundesgericht, wobei bislang nicht klar ist, ob dieses auf eine solche Beschwerde eintreten würde. Mindestens ein Fall ist dort zur Zeit hängig. In letzter Konsequenz kann man die Sache vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nach Strassburg bringen. Wir empfehlen das sehr, in der Hoffnung, dass wir endlich ein Präjudiz für die Schweiz bekommen. Ein Urteil, in dem klipp und klar steht, dass die Schweizer Rechtslage nicht menschenrechtskonform ist.

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WWW.GRUNDRECHTE.CH.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 33/34/2010 - 66. Jahrgang - 10. September 2010, S. 9
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. September 2010