Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

VORWÄRTS/643: Medienmacht und Verantwortung


vorwärts - die sozialistische zeitung, 1.-Mai-Ausgabe vom 29.04.2010

Medienmacht und Verantwortung

Von Sabine Schiffer


Die aktuellen Polemiken etablierter Medienvertreter gegen Wikileaks zeugen von einem wichtigen existenziellen Umbruch. Der "Spiegel" denunziert die Veröffentlichung eines Videos aus dem Irak, der den Beschuss von Zivilisten dokumentiert, als Verrat am "Qualitätsjournalismus". Selbstidealisierender kann man sich kaum äussern. Ein entlarvendes Szenario, das auf einige Dilemmata aufmerksam macht.


Zwar hat es auch zu Zeiten des reinen Printjournalismus das Phänomen des Pseudonyms gegeben, und zu Gesicht hat man die meisten Redakteure sowieso nie bekommen. Aber in Zeiten des Internets gehört es quasi zum guten Ton, Identitäten zu verschleiern und sogar falsche Spuren zu legen. Nachdem der Mainstream-Journalismus sich immer wieder der Verführbarkeit durch Macht und Geld schuldig gemacht hat und eben auch keine Objektivität garantieren kann, erkämpft sich der "usergenerated content" im Netz seinen Platz in der Medienwelt.


Professionelle Desinformateure

Im Schutz der Anonymität ist vieles möglich, was ansonsten zur Vorsicht - ja Übervorsicht bis hin zur Selbstzensur - verleiten könnte. Wie eine Art vorauseilender Gehorsam die Nachrichtenredaktionen der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten zum Vasallen der Politik gemacht hat, statt zu ihrem Kontrolleur, beschreibt unter anderem Walter van Rossum in seinem Buch "Die Tagesshow". Nun hilft es dem kritischen Interessierten durchaus zu wissen, dass unsere Nachrichtenformate - und wohl nicht nur die von ARD und ZDF - nicht primär informieren, sondern eine Agenda und die Sprachregelung vorgeben sollen, wie über die Themen zu diskutieren sei, auf die Aufmerksamkeit gelenkt wird.

In der aktuellen Kriegsbefürwortung von politischer Seite ist das Muster auffällig: Angesichts der Tatsache, dass der Mainstream sich der herrschenden Klasse angedient hat und unsere Medien ihre Funktion als Vierte Gewalt nicht erfüllen, macht sich Wissen um die fünfte Macht - Lobby- und PR-Aktivitäten - breit, die den so genannten Qualitätsjournalismus weiter unterminiert. Weshalb in Zukunft Initiativen wie Lobbycontrol.org oder auch Kritik an den Techniken von Public Relations und Spin-Doktoren immer wichtiger werden.

Aber auch die Blogger müssten die Machenschaften der professionellen Desinformateure ernster nehmen, denn auch sie sind Ziel so genannter Mind-Operations. Die (mögliche) Anonymität von Blogs, Facebook und Mikromedien wie SMS und Twitter bieten nicht nur dem investigativen und kritischen Kopf Schutz, sondern auch demjenigen, der nichts als Schmutz verbreiten will oder soll. Ja, es liegt fast in der Natur der Sache, dass sich im Netz vor allem die Extreme tummeln und ausbreiten, die sonst keinen Platz im öffentlichen Diskurs finden. Dennoch wäre es schade, man liesse sich vom Zeitaufwand, der nötig ist, die Spreu vom Weizen zu trennen, abhalten, die Möglichkeiten der neuen Medien zu nutzen. Wobei natürlich weniger in der Medienart die Crux der relevanten Information liegt, als vielmehr in der Ausrichtung, weshalb Prints wie Freitag und Junge Welt derzeit ähnlich erkenntnisfördernd sind wie Web medien wie "www.hintergrund.de" oder Radio Utopie.

Nun zeichnet sich "hintergrund.de" durch eine professionelle Redaktion und akribische Recherchestandards aus, was viele Blogger, die allein oder zu wenigen und oft ehrenamtlich arbeiten, nicht in gleichem Masse erfüllen können. Beispielhaft für Potentiale und gleichzeitig Informationskontaminationen sei der Blog "Alles Schall und Rauch" genannt: Neben informativen und fundierten Beiträgen wie zum Beispiel "Die Motive der Kennedy Ermordung" und einem sehr sehenswerten Interview mit der US-Kongressabgeordneten und Präsidentschaftskandidatin der US-Grünen Cynthia McKinney enthält die Seite auch Artikel wie "Der Zyklus der Sonne steuert das Klima" oder die These, hinter der ganzen CO2-Debatte würde nur die Atomenergie-Industrie stecken.


Black Box

Hierin liegen die Gefahren, die neben dem Vorteil von alternativen Gedankenspielen lauern, nämlich aufs falsche Gleis geführt zu werden: aus Unbedacht oder auch gezielt. Dass aber professionelle Mind-Operators im Auftrag von Industrie, Geheimdiensten und anderen immer wieder Diskurse manipulieren, ist seit dem Bekanntwerden mindestens der Skandale um CoIntelPro und den NATO-Geheimarmeen, wie sie etwa Daniele Ganser nachweist, ein offenes Geheimnis. Darum sei an dieser Stelle die Lektüre unseres online-Beitrags "Konspiration auf dem Kunstrasen" über die immer stärker werdende Bewegung um den US-amerikanischen 11. September zur Lektüre empfohlen. Hier werden deutlich die neuen Möglichkeiten, aber auch die neuen Fussfallen einer Graswurzelbewegung aufgezeigt, die sich des Internets als Aufklärungs- und Vernetzungsmediums bedient - angesichts des Versagens der in diesem Bereich besonders stark konformistischen Mainstream-Medien.

Nun graben dem so genannten Qualitätsjournalismus neben der Wirtschaftskrise all die neuen Möglichkeiten das Wasser und damit noch mehr Recherchezeit ab. Was allerdings "Qualitätsjournalismus" ist, findet sich nirgendwo umfassend definiert, wenn auch die journalistisch Ausgebildeten mindestens das Hinzuziehen mehrerer Quellen, also die explizite Gegenrecherche, nennen würden. Das würde auch so manchem Blogger gut zu Gesicht stehen - das kritische Nachfragen auch bei Themen, die gegen den Mainstream gebürstet sind. Darum sind sie nämlich nicht automatisch richtiger. Umgekehrt, haben die etablierten Medien es versäumt, ihr Metier durch Transparenz aufzuwerten.

Seit nunmehr fünf Jahren fordern wir jährlich zu einer Transparenz-Woche auf, die zwar auf Interesse stiess, aber bisher niemanden zum Mitmachen bewegen konnte (www.medienverantwortung.de/Projektbeispiele). Vielleicht aus Angst, dass es dann andere nachmachen könnten, ist man eine Blackbox geblieben, die Recherchemethoden, Entstehungsgeschichten und Selektionsvorgänge nicht offen legt. Gerade dies ermöglicht es vielen anderen Akteuren, genau in gleicher Blackbox-Manier vorzugehen. Damit wird es für den Normalbürger mit wenig Zeit für medienkritische Recherche zur Norm, aus dem Bauch heraus entweder Glauben zu schenken oder zu zweifeln, eventuell gar jemandem (blind) zu vertrauen - damit wird das Medium zum Wahrheitsträger stilisiert, anstatt dass mehr Menschen die Fähigkeiten erhielten, jedem Medienprodukt mit der notwendigen kritischen Distanz und dem erforderlichen Know-How zur Dekonstruktion von dünner Faktenlage und inszenierendem Aufbau gegenüberzustehen.


Mündige Mediennutzende

Ein Fall wie jener von Wikileaks wäre beim Ausschöpfen der Medienmöglichkeiten gar nicht mehr so sensationell - aber die transnationalen Überschreitungen sind auch in Zeiten des Internets eher schwach ausgebildet. In "youtube.com" gibt es schon lange die Möglichkeit, durch die Eingabe von "Apache" und eventuell noch "Falluja", die Kriegstrophäen der Moderne als Mitschnitt anzusehen. Die Filmchen erinnern zuweilen an so manchen Egoshooter. Die leuchtenden Männchen im grünen Nachtsichtlicht sind aber Menschen und das Gefühl dafür sollte bei aller medialen Verfremdung nicht verloren gehen. Die Nichtnutzung der um ein Vielfaches grösseren Möglichkeiten des Internets deuten darauf hin, dass auch hier das Dogma der Aufmerksamkeitsökonomie herrscht, was viele Menschen davon abhält, die vielfältigen Informationen, die vorhanden sind, auch abzugreifen. Um Orientierungspunkte zu setzen, besteht die Gefahr, sich nur in selbstbestätigenden Kreisen zu bewegen und die kritische Auseinandersetzung zu verlernen. Und die Unterhaltungsindustrie hat schon dazu angesetzt, mittels vielfältiger Brot-und-Spiele-Angebote oder besser Brot-und-Shopping-Angebote zu verhindern, dass die Menschen ihre Potentiale als mündige Bürger auch tatsächlich nutzen.


*


Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
1.-Mai-Ausgabe (Beilage) - 66. Jahrgang - 29. April 2010, S. 13
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: Vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch

vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-
reduziert (AHV, Studenten): Fr. 110.-


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Mai 2010