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VORWÄRTS/626: Yongsan-Tragödie - Ein Jahr danach


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 03/04 vom 22. Jan. 2010

Yongsan-Tragödie: Ein Jahr danach

Von Lukas Arnold


Der nun 2.000-seitige Untersuchungsbericht zur Yongsan-Tragödie, bei welcher bei einer Erstürmung eines besetzten Hauses in Seoul sechs Menschen getötet wurden, liegt nun vor. Ein Rück- und ein Ausblick.


Seoul, 19. Januar 2009: Rund 1.400 Bereitschaftspolizisten und Mitglieder der Anti-Terror-Einheit sowie 150 Angehörige von Sicherheitsfirmen stürmen in einer Aktion ein besetztes Haus im Stadtteil Yongsan der südkoreanischen Hauptstadt.

Etwa 40 Besetzer halten das Gebäude besetzt - bei der Erstürmung erst seit einem Tag. Sie protestieren gegen die Städte- und Wohnbauentwicklung in der Stadt, welche sehr auf die Interessen der Wohlhabenden ausgerichtet ist: Billige Wohngelegenheiten in der Stadt werden nicht nur nicht gebaut, sie werden auch abgerissen und ihren Bewohnern gekündigt, um "profitableren" Häusern Platz zu machen. So setzen sich die BesetzerInnen des Hauses etwa je zur Hälfte aus ehemaligen MieterInnen des besetzten Gebäudes und aus AktivistInnen der Föderation gegen Häuserabriss, Jun Chul Yun, zusammen. Jun Chul Yun wurde 1994 gegründet und setzt sich, auch militant, gegen kurze Räumungsfristen, staatliche Willkür und geringe Entschädigung ein. Beim besetzten Haus in Yongsan handelt es sich konkret um ein fünfstöckiges Gebäude, welches hauptsächlich aus Büroräumlichkeiten besteht. Wegen Sanierungsmassnahmen wurde den MieterInnen - die meisten davon Betreiber von kleinsten Geschäften - gekündigt. Für die MieterInnen bedeutete dies den finanziellen Ruin - mit der Besetzung sollte erreicht werden, dass die Gekündigten eine angemessene Entschädigung erhalten, um sich die Einmietung in andere Räumlichkeiten leisten zu können.

Weil sich die BesetzerInnen gegen die Räumung der Besetzung wehren, setzt die Polizei massive Gewalt ein. "Die wollten die Leute umbringen", so ein Augenzeuge. Und tatsächlich: Nach der mehrstündigen Erstürmung starben sechs Menschen; ein Polizist und fünf Besetzer. Es ist die Folge eines äusserst brutalen Vorgehens der nationalen Polizei, welche weder Aufwand noch Verbrechen scheute, um den Widerstand der BesetzerInnen zu brechen: Helikopter waren im Einsatz, die Polizei setzte neben Tränengas, Schlagstöcken und Metallschildern auch Vorschlaghammer sowie nicht unter staatlicher Kontrolle stehende Angehörige privater Sicherheitsfirmen ein. Als besonders verhängnisvoll erwies sich der Einsatz von brennenden Gummireifen: um die BesetzerInnen zur Aufgabe zu zwingen, sollten sie "ausgeräuchert" werden. Doch auf dem Dachstock entwickelte sich ein Brand, und fünf Protestierende und sogar ein Polizist wurden getötet - um nicht zu sagen: ermordet.

Der südkoreanische Staat hat klar gezeigt: jeder Widerstand gegen die Staatsgewalt, gegen die Interessen der Mächtigen und Besitzenden, wird sofort und mit härtestem Vorgehen bekämpft. Das erklärt das Vorgehen, bei welchem - ohne den Versuch, eine Verhandlung mit den BesetzerInnen zu führen - mit massivster Repression innert kürzester Zeit (25 Stunden nach dem Anfang der Besetzung) auf eine Auflehnung reagiert wird, und bei welchem ohne weiteres auch Tote in Kauf genommen werden. Die Mächtigen fürchten sich. Schon vor einer Hausbesetzung.


Rechtsentwicklung

Die Tragödie in Yongsan steht aber auch im Zusammenhang mit einer allgemeinen Rechtsentwicklung in Südkorea. Als Nachfolger der eher linken Präsidenten Kim Daejung und No Muhyeon wurde der ehemalige Konzernchef des Konglomerats "Hyundai" I Myeongbak (auch Lee Myung-Bak) ins Präsidentenamt gewählt. Er verfolgt einen ausgesprochen wirtschaftsfreundlichen Kurs, welches sich nicht nur in der Schwächung der Arbeitnehmerrechte, Stärkung der Industriekonglomerate, Liberalisierung des Marktes, Schwächung der demokratischen Rechte oder einer spannungsgeladenen Nordkorea-Politik, sondern auch in einem viel schärferen Vorgehen gegen DemonstrantInnen und Proteste äussert.

Das harte Vorgehen bei der Erstürmung des besetzten Hauses in Yongsan wurde von der Bevölkerung umgehend mit massiven Demonstrationen und Protesten beantwortet. Zunächst wurden von staatlicher Seite noch die BesetzerInnen für die Toten verantwortlich gemacht - was offensichtlich Augenzeugenberichten widerspricht. Aufgrund der Proteste jedoch wurde eine Untersuchung aufgenommen, welche auch gegen die Staatsgewalt ermittelte.

Der über 2000-seitige Bericht wurde nun in diesem Jahr veröffentlicht: Er zeigt evident auf, dass die Tragödie in Yongsan den Polizeikräften, beziehungsweise ihrem Befehlshaber, zuzuschreiben ist und die BesetzerInnen rechtlich nicht belangt werden können, wie es wohl das Interesse der Rechts-Regierung gewesen wäre.

Ob es aber je zu einer Verurteilung kommen wird, ist fraglich: Die Demokratie in Korea ist formell, die Handels- und Industriekonglomerate wie Hyundai, Samsung oder LG haben nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch - insbesondere seit der Präsidentschaft I Myeongbaks - die politische und justizielle Macht inne. Und so wird wohl das Interesse des Staates darin liegen, sich selbst zu schützen und Protestierende zu verfolgen und nicht umgekehrt. Das hysterische Vorgehen gegen Proteste zeigt jedoch, dass die Mächtigen in Angst um ihre Position sind; was natürlich auch die Brüchigkeit und Instabilität des korrupten Systems aufzeigt. Und woraus man schliessen kann, dass eine Veränderung der politischen und ökonomischen Verhältnisse in Südkorea durchaus möglich ist.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 03/04 - 66. Jahrgang - 22. Jan. 2010, S. 9
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Januar 2010