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VORWÄRTS/621: Wattestäbchen und DNA-Sammelwut


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 45/46 vom 28. Nov. 2009

Wattestäbchen und DNA-Sammelwut

Von Michi Stegmaier


Während die bürgerlichen Medien zwanzig Jahre Mauerfall "gedenken", wird gleichzeitig fleissig am Überwachungsstaat gebastelt. Und das mit immer beängstigender werdenden Mitteln wie aktuelle Fälle von fragwürdiger DNA-Abnahme belegen. Als Reaktion auf die umstrittene Praxis, DNA-Proben schon bei simplen Vergehen anzuordnen, hat sich Widerstand formiert und es wurde unlängst das Komitee FICHE 2.0 gegründet.


Eigentlich ist es wieder mal wie immer. Während im Mai 2000 beim Bundesamt für Polizei noch die Rede davon war, die neue erkennungsdienstliche Wunderwaffe "Wattestäbchen" nur bei Mafiosis, Triebtätern und anderweitig schwere Jungs anzuwenden, so sieht heute die Praxis, welch Überraschung, gänzlich anders aus. Längst wurde das Feld der potentiellem "SpeichelspenderInnen" auf unliebsame Personengruppen wie Hausbesetzer, PolitaktivstInnen, Sprayer sowie Schwarzfahrende ausgedehnt. Das bestätigt auch Nicholas Pohl von augenauf Bern, wo sich mehrere Geschädigte wegen unverhältnismässigen DNA-Abnahmen meldeten: "Die uns bekannten Fälle von DNA-Fichierung geschahen mehrheitlich im Zusammenhang mit Hausbesetzungen oder nichtbewilligten Demonstrationen: Letztere geschahen im Rahmen von Vorladungen nach einer Demonstration für den Erhalt des Trip-Huus in Biel. Unsere Kritik setzt hauptsächlich bei der Ausweitung der Verwendung von DNA-Profilen auf Vergehen oder Verdacht auf Vergehen an. DNA-Profile wurden für Ermittlungen gegen Schwerverbrecher eingeführt. Nun genügen aber bereits Vergehen wie Hausfriedensbruch, um eine DNA-Entnahme anzuordnen. Insbesondere die Ausweitung auf 'Verdacht auf Vergehen' könnte zu einer Fichierung von gesamten Bevölkerungsgruppen führen. Denn dieser Verdacht kann immer bestehen oder beliebig konstruiert werden", gibt Pohl zu bedenken. Gerade weil die Entnahme eines sogenannten genetischen Fingerabdruckes einen ausserordentlich schwerwiegenden Eingriff in die Privatsphäre darstellt, braucht es aber eine demokratische Kontrolle sowie besonders restriktive Regeln für die Anwendung dieser neuen polizeilichen Wunderwaffe. Das inflationäre Anlegen von DNA-Fichen auf Vorrat öffnet Willkür Tor und Tür. Schon der Fichenskandal 1989 hat nachhaltig aufgezeigt, was geschehen kann, wenn man dem Überwachungsstaat nicht ständig genau auf die Finger schaut.


Komitee gegen DNA-Fichierung

Mehrere solcher Vorfälle führten unlängst zur Gründung des Komitees FICHE 2.0 wie Reto Niemand (Name geändert) berichtet. "Ausschlaggebend für die Gründung von FICHE 2.0 waren die wiederholten Fälle von DNA-Fichierung im Raum Biel. Der letzte Vorfall anfangs Oktober, als eine junge Frau, nachdem sie beim Schwarzfahren erwischt wurde, von der Polizei festgenommen und ihr auf dem Posten widerrechtlich DNA entnommen wurde, kann als Initialzündung betrachtet werden". Das überregionale Komitee EICHE 2.0 empfiehlt Betroffenen unbedingt auf einer schriftlichen untersuchungsrichterlichen Verfügung zur Entnahme einer DNA-Probe zu bestehen und sich auf keinen Fall von der Polizei unter Druck setzen zu lassen.

Derzeit prüft EICHE 2.0 wie gegen DNA-Entnahme juristisch am besten vorgegangen werden kann. Als besonders stossend wird empfunden, dass auch immer wieder politische AktivistInnen mit der DNA-Abnahme konfrontiert sind und es dabei zu mehreren Fällen von gewaltsamer Abnahme des genetischen Fingerabdruckes kam. "Es darf nicht vergessen werden, dass die DNA-Entnahme bei politisch engagierten Personen nicht nur einen Eingriff in deren persönlichen Grundrechte darstellt, sondern dazu dient die gesamte Bewegung zu kriminalisieren und einzuschüchtern", betont Niemand. Bei augenauf Bern stösst man sich auch daran, dass Betroffene gar nicht oder dann nur äusserst mangelhaft über ihre Rechte aufgeklärt werden. "Von der Polizei fordern wir, dass sie Betroffene stets über ihre Rechte informiert", fordert Nicholas Pohl. Zwar spricht (noch) niemand von einem neuen Fichenskandal, gewisse Parallelen sind jedoch durchaus ausmachbar.

"Es kann davon ausgegangen werden, dass das Mittel der DNA-Entnahme zur Fichierung und Einschüchterung von spezifischen Bevölkerungsgruppen dient wie dies zum Beispiel bei SprayerInnen oder politisch engagierten Personen der Fall ist. Obwohl das Ausmass der Fichierung bei weitem nicht jenes des Fichenskandals erreicht, sind doch Parallelen zu erkennen. Hinzu kommt, dass die Fichierung mit der heutigen zentralen DNA-Datenbank bedeutend effizienter geworden ist", gibt Niemand von FICHE 2.0 zu bedenken. Um der erneuten Fichierungswelle einen Riegel zu schieben und die unverhältnismässigen und teils illegalen Praktiken der Polizei an die Öffentlichkeit zu tragen sowie die Löschung der erstellten DNA-Profile zu erwirken, ruft FICHE 2.0 zu dezentralen Aktionen sowie zu einer ersten schweizweiten Demonstration gegen DNA-Fichierung und Überwachungsstaat am 5. Dezember 2009 in Bern auf.


Demonstration "Gegen DNA-Fichierung und Überwachungsstaat"
Samstag, 5. Dezember 14:00 Uhr, Heiliggeistkirche, Bern

mehr Infos und Kontakt: fiche2.0@immerda.ch

Formular für Betroffene:
http://www.augenauf.ch/pdf/formularerkennungsdienstlichemassnahmen.pdf.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 45/46 - 65. Jahrgang - 28. Nov. 2009, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Dezember 2009