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VORWÄRTS/617: Was einmal die Sowjetunion war - Teil 3


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 43/44 vom 13. Nov. 2009

Was einmal die Sowjetunion war - Teil 3 (*)


luk. Kiew ist eine geschichtsträchtige Stadt. Doch wie geht sie mit ihrer Geschichte um? Von eingehüllten Lenin-Statuen und einer Hungersnot, die zu einem Völkermord wurde. Eine Reportage.


Kiew. Die Hauptstadt der Ukraine. 2.700.000 Einwohner. Eine - wie die meisten Städte hier in dieser Gegend - geschichtsträchtige Stadt. 1920 wurde Kiew sowjetisch; ab 1934 war sie Hauptstadt der ukrainischen Teilrepublik. Von 1932 bis 1933 durchlebte sie - wie auch viele andere Teile der Ukraine - eine schreckliche Hungersnot. Am 19. September 1941 wurde die Stadt vom faschistischen Deutschland besetzt. Nur wenige Tage später - am 29. und 30. September 1941 - fand das "Massaker von Babij Jar" statt, an welchem über 33.000 Kiewer Juden von Angehörigen der SS ermordet wurden. Insgesamt fielen in Kiew während der Besatzungszeit etwa 150.000 Menschen einer sowohl politisch, als auch rassisch motivierten Verfolgung zum Opfer. Im November 1943 gelang es schliesslich der Roten Armee, die Stadt von den deutschen Besatzern zu befreien:

1991 wurde Kiew die Hauptstadt der unabhängigen Ukraine. Im Jahr 2004 war sie das Herz der so genannten "Orangen Revolution", in welcher es durch die Mobilisierung Tausender Menschen auf die Strassen Kiews gelang, die als manipuliert nachgewiesenen Präsidentschaftswahlen ein zweites Mal durchführen zu lassen. So wurde schliesslich der eher westlich orientierte Kandidat Wiktor Juschtschenko zum Präsidenten gewählt - eine Revolution war es nicht wirklich. Soweit zur Geschichte Kiews.


Beschädigter Lenin

Nun, meine Kollegen und ich spazieren durch Kiew Im Jahr 2009, bald schon 20 Jahre seitdem die Ukraine unabhängig wurde. Wir sind überrascht: An Plakatwänden, auf Bannern oberhalb der Strasse oder auf Häuserfassaden; überall sehen wir - und anders kann man es nicht ausdrücken - staatliche und kirchliche Propaganda: "Grosser Gott, beschütze unsere einige Ukraine", steht zum Beispiel auf Ukrainisch geschrieben, mit kirchlichen und ukrainisch-nationalistischen Symbolen. Bemerkenswert ist die Penetranz, mit welcher solche Plakate auftauchen: Fast alle 20 Meter, scheint uns, erscheint ein neues. Ist es derart notwendig, eine nationale Identität zu propagieren?

An einem zentralen Platz treffen wir auf eine Lenin-Statue - in ein Tuch gehüllt. Davor wehen Dutzende Fahnen mit Hammer und Sichel drauf - die Kommunistische Partei der Ukraine hat hier einen immerwährenden Stand. "Faschisten haben das Lenin-Denkmal beschädigt", erklärt uns ein Anhänger der Partei wütend. Sie sammeln Geld, um das Denkmal zu reparieren. Aber natürlich ist der Stand auch da, um auf die Missstände in der Ukraine aufmerksam zu machen. "Das ist Demokratie auf Amerikanisch", sagt uns ein älterer Herr und zeigt auf zerbombte Zivilisten im Irak - die Ukraine gehörte der "Koalition der Willigen" im Irakkrieg an und ist ein Beitrittskandidat der Nato. Sie verfolgt seit der "Orangen Revolution" einen sehr pro-amerikanischen Kurs.


Hungersnot oder Völkermord?

Wir kommen an der Sankt-Michaels-Kathedrale im Zentrum der Stadt an. An der Aussenfassade der mittelalterlichen orthodoxen Kirche sehen wir Gedenktafeln: "Nicht zu vergessen: Eine Chronik kommunistischer Inquisition. Der ukrainische Holocaust", sind die Tafeln betitelt. Doch das Thema der Tafeln ist nicht etwa der Holocaust in der Ukraine, sondern die Hungersnot in der Ukraine 1932 bis 1933. In dieser, wohl einer der schrecklichsten Hungernöte überhaupt, starben etwa 2.2 Millionen Menschen. Ausgelöst wurde sie durch eine Missernte verbunden mit den Strapazen der stalinistischen Zwangskollektivierung: um ihre Ernte nicht abzugeben, haben viele ukrainische Mittel- und Grossbauern der sowjetischen Kollektivierung dadurch Widerstand geleistet, dass sie ihre Erzeugnisse zurückbehielten und verbrannten. Die sowjetischen Verantwortlichen gingen ihrerseits nicht sinnvoll mit der Lage um und gingen gegen die widerständigen Bauern mit äusserster Härte vor. Das Resultat war eine Hungersnot; doch war diese weder geplant noch sollte damit ein systematischer "Genozid an den Ukrainern durch die Russen" bezweckt werden, wie dies von offizieller ukrainischer Seite oftmals behauptet wird. Die Frage, was der Grund für die schreckliche Hungersnot gewesen sei, ist Gegenstand wissenschaftlicher Debatten; die Behauptung, dass ein Völkermord durch die sowjetische Regierung geplant worden sei, steht indes ausserhalb eines wissenschaftlichen Standpunkts. Vielmehr wird die Hungersnot damit auf eine Ebene gebracht, die sich aufgrund seines antikommunistischen und antirussischen Inhalts zwar im Sinne eines ukrainischen Nationalismus politisch und propagandistisch gut ausschlachten lässt, mit der Realität aber wenig zu tun hat. Geschichtsrevisionismus treffen wir vielerorts in Kiew an. So zum Beispiel auch im "Nationalen Museum der Geschichte des Grossen Vaterländischen Kriegs", dem Museum zum Zweiten Weltkrieg aus Sowjetzeiten. Wie wir aber merken, wurde das Museum seit Sowjetzeiten wohl geringfügig umgestellt. Die ukrainische Nationalfahne ziert die Eingangshalle. Was die ukrainische Nationalfahne mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun hat? Auf jeden Fall waren diejenigen UkrainerInnen, welche ihr Land von den deutschen Besatzern befreit haben, kommunistische Partisanen, sowjetische Kämpfer, und sie fühlten sich ukrainisch-nationalistischen Bestrebungen wohl nicht sehr verbunden. Im Gegensatz zu den etwa 280.000 Freiwilligen, die in der Ukraine als Kollaborateure in den Reihen der Deutschen, der SS, der "Ukrainischen Befreiungsarmee" kämpften...


(*) Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Teil 1 und 2 dieses Artikels siehe unter:
www.schattenblick.de -> Infopool -> Medien -> Alternativ-Presse
VORWÄRTS/611: Was einmal die Sowjetunion war - Teil 1
VORWÄRTS/613: Was einmal die Sowjetunion war - Teil 2


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 43/44 - 65. Jahrgang - 13. Nov. 2009, S. 8
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. November 2009