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VORWÄRTS/611: Was einmal die Sowjetunion war - Teil 1


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 37/38/09 vom 2. Oktober 2009

HINTERGRUND
Was einmal die Sowjetunion war: Ukraine

luk. Was einst ein Land war, sind jetzt 19 Länder. Wo einst eine Ideologie des Internationalismus herrschte, dominiert der Nationalismus. Der erste Teil einer Serie zur Situation in der ehemaligen Sowjetunion thematisiert die Sprachpolitik in der Ukraine.


1991: Die Sowjetunion bricht zusammen. Die 15 Teilrepubliken erklären ihren Austritt aus dem Staatenbund. In der Folge propagieren noch weitere vier Republiken - international nicht anerkannt - ihre Unabhängigkeit: Südossetien und Abchasien von Georgien, Bergkarabach von Aserbaidschan und Transnistrien von Moldawien. Was einmal ein Land war, wurde zu 19 Staaten. 19 Staaten, für welche nur noch die eigenen, nationalen Interessen massgebend waren. Nationale Interessen indes, die nun plötzlich - die Länder sind in den kapitalistischen Weltmarkt geschleudert worden - im Gegensatz zueinander standen: Kriege brachen aus. Im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion fanden seit 1991 ganze 11 Kriege statt. Moldawien, Tadschikistan und vor altem der Kaukasus waren betroffen. Geschätzte 185 000 Menschen haben in diesen Kriegen ihr Leben verloren. Die scheinbar "friedliche" Auflösung der Sowjetunion war nicht friedlich.

Diesen Sommer haben zwei Kollegen und ich Teile der ehemalige Sowjetunion bereist: Von Rumänien gelangten wir in die Ukraine, danach reisten wir nach Georgien, Armenien und Aserbaidschan (beziehungsweise in die von ihm nach einem blutigen Krieg losgelöste, international nicht anerkannte Republik Bergkarabach). Von dort aus fuhren wir in den Nahen Osten, wo insbesondere Israel aufgrund der hohen Einwanderungsrate aus der UdSSR - beziehungsweise ihren Nachfolgestaaten (fast ein Drittel der dortigen Bevölkerung) - in diesem Zusammenhang erwähnt werden kann.

In einer Serie will ich nun - in Bezug auf die politische, ökonomische und soziale Entwicklungen in den jeweiligen Ländern - über unsere Eindrücke auf der Reise berichten. Anfangen will ich mit der Ukraine.


Multiethnisches Land

Die Ukraine ist - wie jede ehemalige sowjetische Teilrepublik - ein multiethnisches, multikulturelles Land. Drei Viertel der Bevölkerung machen Menschen aus, die mindestens einen ukrainischen Elternteil haben. Daneben bilden RussInnen mit 17 Prozent Anteil an der Gesamtbevölkerung die grösste Minderheit. Schon seit geraumer Zeit, im Zuge der sowjetischen Umsiedlungspolitik oder durch die innersowjetische Migration, leben in der Ukraine Angehörige mehrerer Dutzend Minderheiten: RumänInnen, MoldawierInnen, WeissrussInnen, PolInnen, JüdInnen, KrimtatarInnen, UngarInnen, BulgarInnen, ArmenierInnen, Deutsche, KoreanerInnen, Sinti und Roma, TürkInnen, AserbaidschanerInnen, GeorgierInnen oder GriechInnen, aber auch viele weitere. Und obwohl Menschen mit derart vielen kulturellen Hintergründen aufeinander trafen, ergab sich ein Zusammenleben, ein friedliches, bei welchem der kulturelle Hintergrund sekundär war und das gemeinsame gesellschaftliche Leben im Mittelpunkt der Menschen stand. Deshalb kam es auch schnell zu einer ethnischen Durchmischung, so dass die strikte ethnische Zuordnung, wie sie von den ukrainischen StatistikerInnen vorgenommen wurde, vor allem auf dem Papier existiert.

Verkehrssprache war während der Sowjetzeit das Russische. Noch heute gibt es mehr Einwohner der Ukraine, welche die russische Sprache beherrschen, als solche, welche des Ukrainischen mächtig sind. Insbesondere sprechen auch nicht alle der ethnischen "Ukrainer" ukrainisch im Alltag. Während zwar im Westen der Ukraine - in Städten wie Lemborg oder Kiew - hauptsächlich ukrainisch gesprochen wird, redet man im Osten und Süden - insbesondere in Dnjepropetrowsk, Lugansk, Charkow oder Odessa - grossmehrheitlich bis ausschliesslich Russisch. Trotzdem: Seit der Unabhängigkeit ist Ukrainisch die alleinige Amtssprache.


Kein Russisch

Zwei, drei Stunden warten wir sicher schon an der Grenze. Mit uns reist ein älterer Rumäne. Er hat in der Sowjetunion studiert und dort auch als IngenieurInnen gearbeitet. Wie es gewesen sei, in der Sowjetunion, wollen wir wissen. "Got", sagt er, kommentarlos. Es hat sich leben lassen, interpretieren wir, aber ein Paradies wird es wohl auch nicht gewesen sein.

Wir sitzen im Zug von Bukarest, der Hauptstadt Rumäniens, nach Kiew. Ein Umweg: eigentlich wollten wir über Moldawien - Chisinau - fahren, doch die Züge wurden gestrichen. Aus politischen Gründen, wie wir vermuten: In diesen Tagen finden in Moldawien gerade Wahlen statt.

Endlich kommen die Zollbeamten; sie geben uns die Einreiseformulare. Unser rumänischer Mitreisender ist verdutzt: Das komplette Formular ist nur auf Englisch und Ukrainisch geschrieben. Natürlich kann er kein Ukrainisch. Nicht nur in der Sowjetunion, auch in den ehemaligen Ostblockstaaten, sogar in vielen blockfreien Staaten wie zum Beispiel Jugoslawien wurde Russisch, und nicht Englisch, als erste Fremd- und als Verkehrssprache unterrichtet. Die Ukraine grenzt nur an ehemalige Ostblockstaaten, und es liegt daher nahe, das Einreiseformular auch auf Russisch anzuschreiben. Doch es wird nicht gemacht.

Der Grund dafür liegt in der ukrainischen Sprachpolitik, welche wiederum auf einem nationalistischen Kurs der Ukraine beruht. Nach dem Austritt aus der Sowjetunion musste ein funktionierender ukrainischer Nationalstaat geschaffen werden mit eigener Identität. Eine den Nationalstaat legitimierende Identität musste das ideologische Loch füllen, welches der Wegfall der sowjetisch-kommunistischen Ideologie hinterlassen hatte. Und so gab es dann auch die Nationalsprache, Nationalgeschichte samt Nationalvolk. Nur: die Ukraine ist - wie zuvor beschrieben - ein multiethnisches Land und von seinem Charakter her nicht empfänglich für eine nationalistische Ideologie. Insbesondere wenn mehr ukrainische Bürger russisch als ukrainisch sprechen, ist die Legitimation, einen Staat auf dem Boden eines ukrainischen Nationalismus zu gründen, fraglich.


Ukrainisch etablieren

Während in den Anfangszeiten der Ukraine die Sprachenpolitik relativ liberal gehandhabt wurde, ist die Politik spätestens seit der neuen Verfassung von 1996 klar: Das Ukrainische ist alleinige Amts- und Nationalsprache (oder sollte es zumindest werden). So wird auf der einen Seite das Ukrainische gefördert - in staatlichen Schulen und Universitäten wird mindestens theoretisch ausschliesslich auf Ukrainisch unterrichtet - auf der anderen Seite wird das Russische unterdrückt, indem im Kontakt mit den Behörden - auch in ausschliesslich russischsprachigen Gebieten - die ukrainische Sprache verwendet werden muss. Ebenso sind alle Beschilderungen, wie zum Beispiel Strassennamen, in ukrainischer Sprache.

In der vielfältigen Sprachenlandschaft der Ukraine soll das Ukrainische als alleinige Landessprache etabliert, die anderen Sprachen zurückgedrängt werden. So hat die Ukraine zwar die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen von 1992 im Jahr 2005 ratifiziert, doch unter dem Vorbehalt, dass sie "den Massnahmen mit dem Ziel der Etablierung der ukrainischen Sprache als offizielle Sprache und der Entwicklung ihrer Funktion in allen Bereichen des sozialen Lebens innerhalb des ganzen Territoriums der Ukraine" nicht zuwiderläuft. Was man nicht weiter kommentieren muss.

Die ukrainische und die russische Sprache sind nah verwandt. So kann unser rumänischer Mitreisender mit Verstand, und nachdem wir ihm ein bisschen Übersetzungshilfe aus dem Englischen gegeben haben, das Einreiseformular ausfüllen. Er schreibt auf Russisch.


Im nächsten Teil erreichen wir Kiew, die Hauptstadt der Ukraine. Dort treffen wir auf faschistische Sprayereien, viel nationale Identität sowie protestierende Kommunistinnen und Kommunisten.


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Kriege nach dem Zusammenbruch

luk. Die Auflösung der Sowjetunion war alles andere als friedlich. 11 Kriege mit etwa 185.000 Toten brachen im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion aus. Eine Chronologie, welche einen Überblick über die kriegerischen Auseinandersetzungen schaffen soll.


1991:
Im Laufe des Jahres treten alle Mitglieder aus der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) aus. Gemäss der sowjetischen Verfassung steht es jeder Teilrepublik frei, aus dem Staatenbund auszutreten, weshalb der Zerfall der Sowjetunion friedlich verläuft.

21. Dezember 1991:
Die UdSSR wird auf Beschluss des Obersten Sowjets, der höchsten parlamentarischen Versammlung der Sowjetunion, aufgelöst.

Januar 1992 bis Juni 1992:
Der Südossetisch-georgischer Krieg endet mit der Sezession eines international nicht anerkannten Südossetiens von Georgien. Die Kampfhandlungen fordern circa 1000 Tote.

Februar 1992 bis Mai 1994:
Krieg um Bergkarabach. ArmenierInnen und AserbaidschanerInnen kämpfen um das Gebiet, welches von ArmenierInnen bewohnt ist, aber zu Aserbaidschan gehört. Endet mit Friedensvertrag und der Sezession einer international nicht anerkannten "Republik Bergkarabach". 15.000 bis 22.000 Tote.

Mai 1992 bis Juni 1997:
Tadschikischer Bürgerkrieg. Äusserst blutiger Krieg zwischen Regierungskräften Tadschikistans, Usbekistans und Russlands sowie bewaffneten liberalen und islamistischen Milizen. 50.000 bis 100.000 Tote.

August 1992 bis September 1993:
Erster Abchasienkrieg. Auseinandersetzung zwischen Abchasien und Georgien um die Sezession. Abchasien erlangt die (international nicht anerkannte) Unabhängigkeit. Die georgischen EinwohnerInnen Abchasiens fliehen. 8000 bis 9000 Tote.

Oktober bis November 1992:
Ossetisch-inguschetischer Konflikt. Ein ethnischer Konflikt zwischen ossetischen und inguschetischen EinwohnerInnen im russischen Nordossetien eskaliert zur militärischen Auseinandersetzung. Etwa 60.000 InguschInnen werden vertrieben. Circa 650 Tote.

Dezember 1994 bis August 1996:
Erster Tschetschenienkrieg. Krieg um die Sezession Tschetscheniens von Russland durch islamistische Kräfte. Endet mit einer weitgehenden Unabhängigkeit eines islamistischen Tschetscheniens. 20.000 bis 50.000 Tote.

Mai 1998:
Abchasischer Sechstagekrieg (Zweiter Abchasienkrieg). Spannungen zwischen Abchasien und Georgien eskalieren. Endet mit Sieg Abchasiens. Circa 350 Tote.

August bis September 1999:
Dagestankrieg. Islamistische Rebellen fallen aus Tschetschenien in die benachbarte russische Republik Dagestan ein. Endet mit Sieg Russlands und führt zum Zweiten Tschetschenienkrieg. Circa 2.800 Tote.

August 1999 bis April 2009:
Zweiter Tschetschenienkrieg. Russland kann seine Macht in Tschetschenien wiederherstellen. Obwohl der Krieg schon 2006 für offiziell beendet erklärt wurde, wurde der Kriegsstatus für Tschetschenien erst im April 2009 von Russland aufgehoben. 30.000 bis 80.000 Menschen sterben in diesem äusserst brutalen Krieg.

Seit Juli 2007:
Inguschetischer Bürgerkrieg. Bürgerkrieg zwischen Rebellen und der Staatsmacht in der russischen Kaukasusrepublik Inguschetien. Bis jetzt circa 800 Tote.

August 2008:
Russisch-georgischer Krieg. Nach Angriffen Georgiens auf die sezessionistischen Republiken Südossetien und Abchasien marschieren russische Einheiten in georgisches Hoheitsgebiet ein und sichern so deren Unabhängigkeit. Russland und einige wenige andere Länder anerkennen Abchasien und Südossetien. Circa 850 Tote.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 37/38/2009 - 65. Jahrgang - 2. Oktober 2009, S. 9
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Oktober 2009