Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


STREIFZÜGE/040: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 67, Sommer 2015


Streifzüge Nummer 67, Sommer 2015
Magazinierte Transformationslust

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde


INHALTSVERZEICHNIS

Martin Scheuringer: Einlauf

Marianne Gronemeyer: Wo geholfen wird, da fallen Späne

Lorenz Glatz: Alltag.
Vermutungen zum anstehenden Kultur-Bruch

Ilse Bindseil: Mein doppelter Alltag

Petra Ziegler: Alltägliche Befangenheit

Martin Taurer: Minimalismus - eine individuelle Notwehrmaßnahme

Karl Kollmann: Alltag. Stillhalten, Gedankenlosigkeit und Verdrängung.
Notizen aus dem Vorbewussten

Franz Schandl: Der Kapitalismus und du.
Fragmente einer Kritik des bürgerlichen Alltags

Martin Scheuringer: Emanzipatorische Romantik

Johann Stefan Tschemernjak: Die Freiheit, die niemand kennt

Erich Ribolits: Die geltende Vernunft bekämpft nicht Macht, sondern nur deren "Entarten" zu Herrschaft.

Emmerich Nyikos: Irratio capitalis.
Über die Idiotie des bürgerlichen Systems

Hermann Engster: Die Wanderratten.
Ein Gedicht für gestern und heute

Franz Schandl: Zitterndes Glück - Kurd Adler.
Zum 100. Todestag eines Vergessenen

Kolumnen
Immaterial World: Stefan Meretz "Kollektive Selbstverständigung"
Rückkkopplungen: Roger Behrens "Pop, Kultur und Alltag"
Dead Men Working: Maria Wölflingseder "Alltagsblau"
Auslauf: Martin Scheuringer "Hausbau"

Rubrik 2000 Zeichen abwärts
Hedwig Seyr (H.S.): Ungeniert privilegiert?
Marin Scheuringer (M.Sch.): Wie reden?
Franz Schandl (F.S.): Putzen
Dieter Braeg (D.M.): S-Bahn Nr.8. 2001

Rezensionen
Martin Brandt (M.B.) zu Felix Bartels: Odysseus wär zu Haus geblieben
Cornelia Stahl (C.S.) zu Verena Zeltner: Kornblumenkinder

*

Einlauf

von Martin Scheuringer

Diesmal war es einfach, die Nummer zu füllen. Aber unsere Fragen aus dem Call - ob die beantwortet wurden? Ich bin unschlüssig, aber wer ist das nicht nach der Lektüre der Streifzüge? Ich vermute, dass dies der Grund ist für die wenigen Rückmeldungen, die wir erhalten.

Vielleicht überladen wir euch auch, und dann ist Feedback recht schwer. Die Menge an Gelesenem ist groß, die Verbindung mit euch durch Texte ist sehr distanziert und sie geht in eine Richtung. Es kann auch so bleiben - vielleicht ist für ein Magazin nicht mehr an Nähe und Kommunikation möglich. Essays öffnen sich bloß den Geöffneten, sie stabilisieren eine Gemeinschaft der Wissenden, aber können sie Menschen in diese Gemeinschaft reinholen? Wir wünschen uns lange schon den genialen einführenden Text, aber geschrieben hat ihn noch keiner.

Wünschenswert ist ein lokaler Theoriebetrieb des gesprochenen Wortes, bei dem sich Menschen treffen und nicht bloß Texte. Es sollte nicht nur Hacker-Spaces und Fablabs geben, Theorie-Labs täten uns auch gut.

Aber wer kann seinem Nachbarn den Mechanismus der Verwertung in klaren Sätzen beschreiben und die Folgen daraus ableiten? Im Text besteigen wir steilere Gipfel als im Gespräch. Denn da fragt wirklich jemand nach. Und dann kommt es drauf an: Hat man die Haltung eines Dozenten eingenommen - wie man das im Text ja so gerne macht -, so ist einem nichts peinlicher als die Erklärungslücke. Ganz anders aber, wenn man gemeinsam etwas verstehen möchte und jeder zum Verständnis der Sache beiträgt. Das wäre ein gemeinschaftliches Produzieren unter Peers. Gemeinsame Recherche, Lektüre, Verständigung darüber, welche Fragen wie beantwortet werden könnten. Womöglich als lang andauernde Auseinandersetzung mit vielleicht nur einer Person. Und am Ende ist kein Text, sondern vielleicht eine Freundschaft entstanden.

*

Wo geholfen wird, da fallen Späne

von Marianne Gronemeyer

"... unsere 'Wohltäter' sind mehr als unsere Feinde die Verkleinerer unseres Wertes und Willens. Bei den meisten Wohltaten, die Unglücklichen erwiesen werden, liegt etwas Empörendes in der intellektuellen Leichtfertigkeit, mit der da der Mitleidige Schicksal spielt." (Friedrich Nietzsche)


Die Zeiten, da das Helfen noch geholfen hat, sind unwiderruflich vorbei. Aber damit nicht genug: Hilfe kann heutzutage fast nur noch angedroht werden; und wem sie angedroht wird, der muss auf der Hut sein. Schon vor über hundert Jahren schrieb Henry David Thoreau, nachdem er sich in die Wälder zurückgezogen hatte, um eine Weile abseits des Weltgetöses zu leben: "Wüsste ich gewiss, dass jemand zu mir käme mit der bewussten Absicht, mir eine Wohltat zu erweisen, ich würde davonlaufen, so schnell mich meine Füße tragen wollten (...), aus Angst, er könnte mir etwas von seinem Guten antun." (Thoreau, Henry David: Walden oder Leben in den Wäldern, Zürich 1971, S. 82) Hilfe als Drohung, als Gefahr im Verzug? Was für eine Paradoxie!

Widersinnig ist "drohende" Hilfe jedoch nur, weil sich trotz hundertfältiger historischer Widerlegung der gute Klang des Hilfsbegriffes im Alltagsbewusstsein nicht überlebt hat. "Hilfe" kommt für das Alltagsbewusstsein so unschuldig daher wie eh und je, obwohl sie sich längst zu einem Instrument perfekter, das heißt, eleganter Machtausübung gemausert hat. Elegante Macht prügelt nicht, zwingt nicht, legt nicht in Ketten. Sie hilft. Unmerklich verwandelt sich das staatliche Gewaltmonopol in ein staatliches Fürsorgemonopol, womit es nicht weniger, sondern umfassender mächtig wird. Kaum ein Kriegseinsatz, der heutzutage nicht als humanitäre Intervention, also als Hilfe gerechtfertigt wird.

Wenn nun "Hilfe" scheinheilig geworden ist, bis zur Unkenntlichkeit entstellt, was wäre dann ihr eigentlicher Sinn; welcher Wohlklang des Wortes wird da profitträchtig beerbt?

Recht verstandene Hilfe ist bedingungsloser Beistand in Not, ohne Ansehen der Person, der Situation, des Erfolges und des möglichen eigenen Schadens. Misericordia, die ans Herz gehende "wehmütige Theilnahme" (Georges, Karl Ernst: Kleines lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Leipzig 1869, Sp. 1497), das Erbarmen angesichts der Not des anderen oder der leidenden Kreatur blieb einst Gott und dem überraschenden, nicht planbaren, regellosen, augenblicklichen Einzelfall vorbehalten. Hilfe war, wie das Mitleid selbst, ein Ereignis, nicht eine Tat, "eine Erfahrung, die gelegentlich aufblitzt" (Safranski, Rüdiger: Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie, München 1988, 2. Auflage, S. 349).

Ivan Illich hat, um diese Erfahrung zu beschreiben, in immer neuen Nuancen die Geschichte vom barmherzigen Samariter erzählt.

"Die Geschichte ist bestens bekannt." (Evangelium nach Lukas 10, 25-37) Aber gerade diese Bekanntheit hat dazu beigetragen, ihre anstößige Pointe zu verharmlosen. "Die vielleicht einzige Art, wie wir sie heute ins Gedächtnis zurückrufen können, ist, uns den Samariter als einen Palästinenser vorzustellen, der einem verwundeten Juden beisteht." (Illich, Ivan: In den Flüssen nördlich der Zukunft, München 2006, S. 74) Der Samariter, der in Geschäften unterwegs ist von Jerusalem nach Jericho, ist nach all den herkömmlichen Kriterien gerade nicht zuständig für den, der da verwundet am Wegesrand liegt, von Wegelagerern ausgeplündert bis auf die nackte Haut. Der Priester und der Levit, die auf ihrem Weg nach Jerusalem an dem Geschundenen vorbeigegangen sind, weil sie wichtige Tempeldienste zu verrichten haben, wären von Rechts wegen zuständig gewesen, denn der Geschlagene war einer von ihnen, einer aus ihrer Sprach-, Sitten- und Religionsgemeinschaft. Der Samariter hingegen war keinesfalls zu helfen verpflichtet, im Gegenteil: Er war ein Erzfeind des Juden und machte sich mit seiner Hilfeleistung sogar eines Verrats gegenüber den eigenen Leuten schuldig. Er also entschied ganz allein, dass dieser geplünderte Jude sein Nächster ist. Und genau darum geht es, Illich zufolge, in diesem Gleichnis. Es ist eben keine Anleitung zu korrektem moralischen Verhalten. Und der Samariter handelt weder nach ethischen Grundsätzen noch nach Moral, Pflicht, Regel oder Gesetz. Die Hinwendung des Samariters zu dem Juden im Straßengraben, der in seiner Erbärmlichkeit nicht gerade ein prädestiniertes Objekt der Erwählung ist, diese Hinwendung zum erbarmungswürdigen anderen entspringt nicht dem eigenen großherzigen Entschluss, nicht einer Generosität, derer sich der Samariter rühmen könnte, nicht einem Akt der Selbstüberwindung, auf die er stolz sein könnte, nicht seiner Selbstbestimmung, sondern sie ist Resonanz, Widerhall auf ein Geschenk, das der Geschundene dem Vorbeikommenden macht. Die Möglichkeit der Zuwendung nämlich entsteht durch den Anblick des Geschlagenen; "Anblick" im doppelten Sinn des Blickens und des Anblicks, den er in seiner Not bietet und der dem Samariter buchstäblich in die Eingeweide fährt. Der Samariter verdankt nicht sich selbst, sondern dem anderen die Möglichkeit, sich ihm zuzuwenden und seine Geschäfte einstweilen fahren zu lassen.

Hilfe als Machtinstrument

Moderne Hilfe hat sich an allen Komponenten des traditionellen Hilfsbegriffs vergangen. Der Übergriff reicht von der offenkundigen, plumpen Perversion des Bedeutungsgehaltes bis hin zur gekonnten Sinnverwirrung.

• Weit davon entfernt, bedingungslos zu sein, ist moderne Hilfe unverhohlen berechnend; von der sorgsamen Erwägung des eigenen Vorteils viel eher geleitet als von der besorgten Betrachtung der Not des anderen.

• Hilfe ist auch nicht mehr Hilfe in Not, sondern Hilfe zur Beseitigung von Defiziten. Die offenbare Bedrängnis, der Hilfeschrei dessen, der in Not ist, ist kaum mehr Anlass der Hilfe. Hilfe ist vielmehr die unerlässliche, zwingende Konsequenz einer Hilfsbedürftigkeitsdiagnose. Ob jemand Hilfe braucht, entscheidet nicht mehr der Schrei, sondern der Standard der Normalität. Der Hilferufer ist seiner Autonomie als Rufer beraubt. Selbst der Notschrei liest noch seine Fälligkeit am Standard ab.

• Dass Hilfe ohne Ansehen der Person gewährt werde, ist den modernen Menschen kaum noch erinnerlich. So sehr hat sich die Hilfe in ein Instrument verwandelt, mit dem man anderen die Pflicht zum Wohlverhalten auferlegen kann. Hilfe als Disziplinierungsmittel hat eine lange Tradition. Wer Hilfe begehrt, setzt sich "freiwillig" dem überwachenden Blick des Helfers aus. Der überwachende Blick ist an die Stelle des erbarmungsvollen getreten.

• Auch dass Hilfe der unvorhersehbare, regellose Einzelfall sei, gilt nicht mehr. Hilfe ist institutionalisiert und professionalisiert worden. Sie ist weder Ereignis noch Tat. Sie ist Strategie. Hilfe sollte nicht länger dem Zufall überlassen sein. Die Hilfsidee wurde mit Gerechtigkeitspathos aufgeladen. Aus dem Gleichheitsrecht wurde ein universalistisches Anrecht auf Hilfe abgeleitet ebenso wie eine weltumspannende Hilfspflicht. Die Idee und Praxis der Hilfe sind in ihrem Expansionsdrang grenzenlos geworden. Ihre Segnungen reichen in den letzten Winkel der Welt, und kein Sektor des gesellschaftlichen und individuellen Lebens ist mehr vor der Diagnose der Hilfsbedürftigkeit gefeit.

In der Entwicklungshilfe allerdings ist die Perversion der Hilfsidee auf die Spitze getrieben: Selbst die hoch bezahlte Deponierung von Völkermordmaschinen auf fremdem Terrain, die für die Empfängerländer ökonomisch, politisch und moralisch ruinös ist, heißt Hilfe. Neuerdings gelingt es sogar, die gefällige Überlassung verseuchter, hochgiftiger Industrierückstände unter die Kategorie der allgemeinen Wirtschaftshilfe zu subsumieren. Was Nahrungsmittelhilfe genannt wird, stellt in Wahrheit eine Apokalypse des Hungers in Aussicht. Sie bereitet die Weltherrschaft einiger weniger Konzerne durch die Kontrolle über das Saatgut vor.

Wie offenkundig betrügerisch die Begriffswahl in der Entwicklungs"hilfe" auch ist, das Wort wird nach wie vor für bare Münze genommen, nicht zuletzt von den Betrogenen selbst. Der Hilfsbegriff scheint von seiner moralischen Selbstevidenz kaum etwas eingebüßt zu haben. Seine Suggestivkraft ist ungebrochen. Augenscheinlich genügt heutzutage der Gestus des Gebens, unabhängig von der Art der Gabe, dem zu entrichtenden Preis, der Absicht des Gebers und dem Nutzen für den Empfänger, um den Tatbestand der Hilfe zu erfüllen. Der Wandel vom nehmenden zum gebenden Kolonialismus wurde im Schutze des wohllautenden Wortes vollzogen.

Gleichschaltung durch Konsumismus

Pier Paolo Pasolini, der vielleicht radikalste Kritiker des Konsumismus, schrieb schon 1975, also vor mehr als 40 Jahren: "Die kulturelle Durchdringung der Welt durch ein konsumorientiertes, alles assimilierendes Zentrum hat die verschiedenen Kulturen der Dritten Welt zerstört (...). Das Kulturmodell, das den Italienern (und im übrigen allen Menschen der Erde) angeboten wird, ist nur ein einziges. Die Angleichung an dieses Modell erfolgt vor allem im Gelebten, im Existentiellen, infolgedessen im Körper und im Verhalten. Hier werden bereits die Werte der neuen Kultur der Konsumzivilisation gelebt, das heißt des neuen und repressivsten Totalitarismus, den man je gekannt hat." (Pasolini, Pier Paolo: Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft, Berlin 1979, S. 46)

Wer sich über Entwicklungspolitik urteilsfähiger machen möchte, muss sich auseinandersetzen mit einer Macht, die unserer Aufmerksamkeit viel eher entgeht als die Macht der Superreichen, jener 62 Reichsten der Welt, die sich nach neuesten Auskünften die Hälfte des Weltvermögens teilen. Ich meine die Macht der durchaus gut beleumundeten Experten. Ivan Illich nennt diese Macht "entmündigend", ich nenne sie "diagnostisch". Experten maßen sich an - es wird ihnen aber auch mit breiter Zustimmung zugestanden -, darüber zu befinden, was in einer Gesellschaft und über sie hinaus im Weltmaßstab als normal angesehen werden muss, was also Standard ist, wie man heute sagt, oder doch zumindest Mindeststandard: Bildungsstandard zum Beispiel, Gesundheitsstandard, Lebensstandard, Sicherheitsstandard, Bequemlichkeitsstandard. Unter dem prüfenden Blick dieser schonungslosen Diagnose wird alles, was hinter dem verordneten Standard zurückbleibt, für entwicklungsbedürftig erklärt. Wer über kein Spülklosett verfügt, ist entwicklungsbedürftig, wer seine Kochwärme nicht aus der Steckdose bezieht, ebenso. Wer etwa glaubt, dass man ohne die Schule gebildet sein kann, ohne Versicherung im Kreis von Freunden sich hinreichend sicher fühlen kann, ohne den Supermarkt satt und ohne Hightech-Medizin leidlich gesund sein kann, wer glaubt, dass man ohne das Automobil mobil, ohne Coca-Cola durstgestillt sein kann und ohne den Sterbeberater bereit sein zu sterben, der ist überfällig für Bekehrung - und, wo die nicht fruchtet - für den unnachgiebigen Zwang zum Konsumismus, jener neuen Glaubensrichtung, die Pasolini als den neuen Faschismus, ja sogar als Völkermord brandmarkte. Der Konsumismus ist die neue Form der Gleichschaltung, unter der alle kulturellen Differenzen lautlos verschwinden. Welteinheitskultur, die Perversion der Gleichheitsforderung.

Monokulturen und Monopole

Die moderne Expertenmacht ist absolut unduldsam gegenüber jeder Lebensäußerung und jeder Lebensform, die sich nicht dem Konsum von industriell produzierten Waren und warenförmigen Dienstleistungen verdankt.

• Ehe nicht einer ein Konsument und ein Mehrfachklient geworden ist, angewiesen auf die Zufuhr der Versorgungsindustrie, angewiesen auf Serviceleistungen der Dienstleistungsindustrie, kann er nicht als hinreichend loyal gelten.

• Ehe nicht der letzte Erdenbürger zum belieferungsbedürftigen Mängelwesen wurde, zum drug addict, zum Junkie, der nach den Drogen der Versorgungsindustrie japst und jammert und mit jedem Schuss abhängiger wird, hilfloser, unfähiger, sich selbst zu erhalten;

• ehe nicht diese Abhängigkeit total ist;

• ehe nicht die Kunde von dem, was als normal zu gelten hat, in den letzten Winkel gedrungen ist;

• ehe nicht jeder glaubt, dass sein Mensch-Sein, seine Humanitas, seine Vollständigkeit als menschliches Wesen auf Gedeih und Verderb an den Markenartikeln, die von der Industrie ausgespuckt werden, hängt;

• ehe sich nicht die Überzeugung durchgesetzt hat, dass der Apparat, der Maschinenkoloss alles menschliche Tun in den Schatten stellt;

• ehe nicht der letzte Bauer, die letzte Bäuerin sich als Nahrungsmittelproduzenten verstehen und der letzte Heiler Alternativmediziner geworden ist und sich als Untercharge der modernen Medizin begreift;

• ehe nicht der letzte Weise sich dem Bildungswesen als
professioneller Pädagoge subordiniert hat;

• ehe nicht jeder Mann und jede Frau begriffen hat, dass wir unsere Häuser nicht mehr selber bauen müssen, unsere Nahrung nicht mehr anbauen, unsere Kinder nicht mehr erziehen müssen, uns um unseren kranken Nachbarn nicht mehr kümmern müssen, dass wir uns nicht mehr bewegen müssen, weil wir so komfortabel bewegt werden; dass wir nichts mehr lernen müssen außer der Bedienung des Computers, dass wir nicht einmal mehr ein Gewissen ausbilden müssen, weil das Gerät, das uns lenkt und steuert und sichert und vorgibt, unser Leben von der Mühsal zu befreien, so fabelhaft gewissenhaft ist, dass wir es nicht mehr sein müssen;

• ehe all dies nicht machtvoll durchgesetzt ist, kann die moderne Macht ihrer Mächtigkeit nicht sicher sein und wenn das alles machtvoll durchgesetzt ist, zeigt sich, dass man es nicht bezahlen kann, als Individuum nicht und nicht als Gesellschaft.

Verstehen wir es richtig: Der Konsumismus ist totalitär. Niemand darf ihm entkommen. Verrückterweise nicht einmal die Habenichtse der Welt, die hoffnungslos abgehängt sind von der Möglichkeit, als Konsumenten ihr Auskommen zu finden, die niemals als zahlungskräftige Käufer das Geschäft beleben werden. Auch sie sollen sich am Standard messen, sollen in die Konkurrenz um die Weltofferten hineingezwungen werden, Lebensmühe darauf verwenden, sich Millimeter um Millimeter ächzend vorzuarbeiten in die schöne neue Konsumentenwelt, in der der Gelderwerb absoluten Vorrang genießt vor dem Broterwerb.

Alle müssen bedürftig werden. Warum das? Nun, nur wer bedürftig ist, ist beherrschbar. Moderne Macht, Machtgebaren, das auf der Höhe der Zeit ist, ist nicht tyrannisch oder diktatorisch. Sie fuchtelt nicht mit Gewalt herum. Moderne Macht ist elegant, von souveräner Unauffälligkeit. Sie wandert in die Bedürfnisse ein, sodass die Unterworfenen wollen, was sie sollen, ihre Unterworfenheit beharrlich leugnend, befangen im Freiheitswahn.

"Bedürfnisse", hören wir auf das Wort. Im "Bedürfnis" steckt das "Dürfen". Wer bedürftig ist, wer Bedürfnisse geltend macht, hält sich an das, was man wollen darf. Und wollen dürfen wir nur noch, was die Konzerne an Waren und Dienstleistungen im Angebot haben, wie verderblich und schädlich die Produkte auch immer sein mögen. Wer Bedürfnisse hat, ist vollständig erpressbar. Das Bedürfnis nach bezahlter Arbeit zum Beispiel hat eine Erpressungsmaschinerie größten Stils hervorgebracht. Keine Sorte "Wohlverhalten" und Unterwerfung, die nicht mit der Gewährung oder Vorenthaltung eines Arbeitsplatzes abgezwungen werden kann, bis hin zur "freiwilligen" Selbstgefährdung, Selbstausbeutung und Selbstschädigung. Wer sich hingegen selbst erhalten kann, wer sein täglich Brot erzeugen und sein leidliches Auskommen aus eigener Kraft in Gemeinschaft mit anderen und mit der Natur bewerkstelligen kann, der ist nicht beherrschbar, weil er nicht erpressbar ist.

Deswegen ist der Krieg gegen die Subsistenz der vorrangige Zweck aller Entwicklungspolitik, denn täuschen wir uns nicht: Entwicklungshilfe ist immer Selbsthilfe der Reichen. Subsistenzorientierte Gemeinschaften leben hauptsächlich von ihrer Eigenarbeit und der eigenen Herstellung von Gebrauchsgütern, nach Maßgabe der Gegebenheiten, in denen sie sich vorfinden, Gegebenheiten der Natur, der Region und der jahrhundertealten kulturellen Traditionen, die ihnen ihre Daseinsmächtigkeit sicherten. Entwicklungshilfe hatte es von Anfang an darauf abgesehen, diese traditionellen und bewährten Formen der Unterhaltswirtschaft durch geldabhängige Warenwirtschaft zu zerstören. Ivan Illich sagt dazu: "Eigenarbeit sagt 'Danke, nein!'. Sie blickt über die warenintensive Gesellschaft hinaus: nach vorn, nicht zurück. Entwicklung hieß seit einigen Jahrzehnten Ersatz von Unterhaltswirtschaft durch Ware. Eigenarbeit ist der Ersatz von Ware durch eigene Tätigkeit." (Illich, Ivan: Vom Recht auf Gemeinheit, Reinbek 1982, S. 52)

Entwicklung diene in erster Linie der Herstellung einer Monokultur des Denkens, sagt Vandana Shiva, die unermüdlich für die Verfügung der Menschen über ihre Nahrungsgrundlagen kämpft: den Boden, das Wasser und das Saatgut.

Monokulturen und Monopole, so Vandana Shiva, bedingen sich gegenseitig. Es sind mächtige Monopole, die dafür Sorge tragen, dass die Monokultur des Denkens weltbeherrschend wird. Es sind jene treibenden Kräfte, die den Fortschritt garantieren: die Naturwissenschaft, die Ökonomie, die Technik und die Bürokratie.

In seinem Geltungsanspruch ist dieses Quartett so gebieterisch wie einst die apokalyptischen Reiter, die allerdings ganz andere Namen trugen und die mittelalterlichen Menschen in Angst und Schrecken versetzten: der Hunger, die Pestilenz, der Krieg und der allgewaltige Tod. Dieser Vergleich scheint unerhört und völlig entgleist, denn die modernen Mächte gelten als die tragenden Säulen der Menschheitszukunft und haben mit den fratzenhaften Schreckensgestalten, die wir auf alten Bildern verderbenbringend und verwüstend über den Erdkreis jagen sehen, offensichtlich nichts gemein. Und tatsächlich muss man wohl zugestehen, dass ihnen an und für sich nichts Verderbliches anhaftet. Es ist im Gegenteil doch aller Mühen wert, die Natur zu erforschen, die Vorräte zu bewirtschaften, die Arbeit zu erleichtern und das Gemeinwesen zu ordnen. Und dennoch bilden die glorreichen vier eine unheilige Allianz, die wie einst ihre archaischen Vorgänger einen großen Teil der heute lebenden Menschen mit Hunger, Krieg, Krankheit und Tod bedrohen. Ihre zerstörerischen Kräfte entfalten sie erst dadurch, dass sie in ihrem jeweiligen Geltungsbereich eine Monopolstellung behaupten. Die Naturwissenschaft beansprucht das Monopol der Weltdeutung, die Ökonomie das der Weltverteilung, die Technik das der Weltgestaltung und schließlich die Bürokratie das Monopol, die Welt zu regeln. Zusammengeschlossen und miteinander vernetzt bilden sie eine Supermacht, die ihren Anspruch auf Weltherrschaft weitgehend durchgesetzt hat. Sie tendiert dazu, sich alles anzuverwandeln und alles in sich einzuschließen. Sie duldet keine anderen Götter neben sich.

Monopole sind dazu da, sich in praktizierte Macht umzusetzen. Jedes der vier Monopole ist insbesondere zuständig für eine Handlungsmaxime, die nicht nur das große Weltgeschehen steuert, sondern bis in den Alltag der Menschen Gefolgschaft erzwingt. Der Naturwissenschaft obliegt es, Konsens in Fragen der Welterklärung herzustellen, die Ökonomie sorgt dafür, dass die Konkurrenz alle menschlichen Beziehungen prägt, auch die allerintimsten. Die Technik richtet die Welt auf Konsumierbarkeit zu und erhebt den Konsum zur ausschließlichen Form der Daseinssicherung. Die Bürokratie schließlich stellt Konformität dadurch her, dass sie alle menschlichen Handlungen nach dem Vorbild maschinellen Funktionierens ausrichtet. "Du sollst mit mir eines Sinnes sein und meiner Evidenz trauen", sagt die Naturwissenschaft. "Du sollst deinen Nächsten besiegen wollen", sagt die Ökonomie. "Du sollst die Maschinen statt deiner arbeiten lassen, lass dich bedienen und versorgen", sagt die Technik. "Das kostet natürlich eine Kleinigkeit", wirft die Ökonomie ein. "Vor allem sollst du nicht stören", sagt die Bürokratie.

Erst dadurch allerdings, dass die Monopole zu einem umfassenden System zusammenwachsen, werden ihre Forderungen zu Diktaten, deren Logik so zwingend ist, dass sie gegen nahezu jeden Widerstand immun sind; ja mehr noch: dass sie den Widerstand im Keim ersticken; oder noch genauer: dass der Gedanke, man könnte ihnen widerstehen sollen, verrückt, abwegig oder närrisch erscheint: Sobald sich die Naturwissenschaft mit der Technik liiert, gibt sie jede Zurückhaltung und Selbstbeschränkung auf. Sie begnügt sich nun nicht mehr damit, alleingültig über die Welt Bescheid zu wissen, sondern will maßgeblich daran mitwirken, die Welt zu verändern. Die Ökonomie, die das Duo komplettiert, steuert den Gesichtspunkt der Profitabilität bei. Sie will die Welt verwerten und macht aus der wissenschaftlich-technischen Maschine eine Geldmaschine. Die bürokratische Gleichschaltung aller Machenschaften schließlich erzeugt jene unwiderstehlichen Sachzwänge, gegen die aufzubegehren so nutzlos ist, wie den Mond anzubellen. Und das alles lässt sich als Entwicklungspolitik deklarieren.

In den reichen Ländern ist das Projekt des Konsumismus abgeschlossen. Hier hat die moderne Macht ausgesorgt. Die Bewohner der reichen Weltareale sind zu 100 Prozent Konsumenten, in nahezu jeder Lebensverrichtung auf Versorgungspakete angewiesen, bedürftig bis auf die Knochen. In den armen Ländern steht die Vollendung des Projektes noch aus, wiewohl auch dort der Glaube an den Konsumismus sich epidemisch ausgebreitet hat. Nur steht wegen erwiesener Aussichtslosigkeit die Glaubenspraxis hinter der Glaubensüberzeugung noch zurück.

Dass dem Coca-Cola-Schluck aus der Dose vor dem nahrhaften Hirsegetränk aus der eigenen Herstellung der Vorzug gebührt, wird auch im südlichen Afrika kaum noch bezweifelt; dass die von hoch bezahlten Experten exekutierte Hightech-Medizin der traditionellen Heilkunst den Rang abläuft und deren Heilkraft in das Reich des Aberglaubens verweist, hat sich auch im ländlichen Indien herumgesprochen.

"Hilfe zur Selbsthilfe"

Dennoch: Es scheint in den ärmsten Ländern immer noch Reste eines Widerstandspotenzials gegen die Konsumabhängigkeit zu geben und ein immer noch existierendes Vertrauen in die Selbsterhaltungsfähigkeiten. Ein Konflikt um die Nahrungsmittelhilfe, der zwischen südafrikanischen Ländern und dem staatlichen Hilfsprogramm USAID vor ein paar Jahren aufbrach, spricht eine beredte Sprache. Die Afrikaner wollten den genmanipulierten Mais aus Amerika nicht haben. Nicht so sehr, weil sie sich fürchteten, ihn zu essen. In gemahlener Form zum reinen Verzehr hätten sie ihn ins Land gelassen.

Sie fürchteten aber, dass sie sich, wenn sie dieses Zeug als Saatgut verwenden, ein für alle Mal in Abhängigkeit vom großen Agro-Business begeben, ihre Böden für ihr eigenes Saatgut unbrauchbar machen und künftig auf den Ankauf patentrechtlich geschützten Saatgutes angewiesen sein würden. Die Amerikaner lehnten es ab, den Afrikanern gemahlenen Mais zu überlassen. Afrikanische Selbstversorger sollten Konzernkunden werden, das ist der Hintersinn der generösen Hilfsbereitschaft der Weltmacht. Imperialismus getarnt als Nothilfe.

Es scheint, dass man in Teilen der armen Länder noch weiß: Am Saatgut hängt die Nichterpressbarkeit. Das Saatgut ist wie die Musik und der Dialekt das Kulturgut einer Gemeinde, angewiesen auf Hege und Bewahrung durch die Gemeinde und im Gegenzug Garant ihrer Unabhängigkeit (Pat Roy Mooney).

Aber natürlich regen sich auch Gegenkräfte gegen die Bereicherung der reichen Weltareale an den armen Ländern. Widerstand artikuliert sich in der Regel als Forderung nach Umverteilung des Reichtums, den die Reichen widerrechtlich an sich gerissen haben. Aber können wir das wirklich wollen? Der Reichtum ist ja nicht unschuldig geblieben. Alles, was die Macht verwaltet, ist infiziert mit dem Pesthauch der Unterwerfungsgier, der ganze vorhandene Überfluss, der zur Umverteilung anstünde, ist von der Art, dass er Abhängigkeit erzeugt, dass er alles zum Mittel macht, inklusive der Menschen, die sich dieser Mittel bedienen. Alles, was die Macht verwaltet, ist vom Typ Coca-Cola, dem Gesöff, das dazu bestimmt ist, den Menschen den Kopf zu verdrehen. Es ist nicht nährend, aber ungemein klebrig, man bleibt daran kleben wie die Fliegen auf dem Leim, es hinterlässt Berge von Müll, es vernichtet Unmengen trinkbaren Wassers und es macht den, der es nicht bezahlen kann, zum Drop-out, der sich seiner Niedrigkeit schämen muss. Alles, was die Macht verwaltet, ist in Geldwert berechnet, alles ist warenförmig und käuflich. Alles ist gegen alles austauschbar, alles zeichnet sich durch einen eklatanten Mangel an wirklicher Brauchbarkeit aus. Alles dient dazu, den Neid zu schüren und die Apartheid, die Trennung der Habenichtse von den Begüterten, zu verewigen. Alles, was die Macht verwaltet, stiehlt den Menschen ihre schöpferischen Fähigkeiten. Die Fähigkeiten, die tausendfältigen selbstbestimmten Könnerschaften werden den Bedürfnissen geopfert. Alles, was die Macht verwaltet, ist gezeichnet von stupidester Einförmigkeit, trostloser Ödnis, beklemmender Bleichheit und Leblosigkeit.

Wollen wir das alles wirklich umverteilen?

Die einzige Hilfe, die kritisch betrachtet nicht als anrüchig und kontraproduktiv galt, die vielmehr einen Ausweg aus dem Dilemma zu weisen schien, war die "Hilfe zur Selbsthilfe". Sie wird dann auch zur politischen Leitidee in den nichtstaatlichen Hilfswerken. In der Ertüchtigung zur Selbsthilfe findet die Hilfe scheinbar ihre Unschuld wieder. Es entspricht diesem Konzept, dass die Hilfe sich in einer angemessenen Frist überflüssig macht. Die durch sie begründete Abhängigkeit ist erklärtermaßen ein Durchgangsstadium mit der Tendenz zur Selbstaufhebung. "Hilfe zur Selbsthilfe" rührt jedoch nicht an die Grundidee, dass alle Welt entwicklungsbedürftig sei; dass sie so oder so - nach kapitalistischem oder sozialistischem Muster - den Anschluss an den industriellen Lebenszuschnitt gewinnen müsse. Auch sie ist Hilfe zur Entwicklung und muss zwangsläufig alle selbstgenügsamen, subsistenten Daseinsformen der Rückständigkeit überführen und ihnen den Fortschritt beibringen.

Als Entwicklungshilfe muss sie zuvor zerstören, was sie zu heilen vorgibt: die Fähigkeit einer Gemeinschaft, ihr Leben aus eigenen Kräften zu erhalten und zu gestalten. Sie ist die elegantere, moralisch weitaus besser legitimierte Form der Einmischung. Der in ihr steckende moralische Impuls findet weiterhin sein Operationsfeld in den "entwicklungsbedürftigen" Ländern und lässt die heimische Ausplünderungspolitik relativ unbehelligt ihren Lauf nehmen. Dabei bestünde die einzig hilfreiche Einmischung ja darin, den Machtzynikern und Profiteuren im eigenen Land in den Arm zu fallen. "Hilfe zur Selbsthilfe" ist deshalb eine nur halbherzige Verabschiedung der Entwicklungsidee, weil sie ausschließlich der Hilfe und nicht der Entwicklung misstraut.

Herbert Achternbusch sinniert über die Wirkungen der Entwicklungspolitik: "Welt ist ein imperialer Begriff. Auch wo ich lebe, ist inzwischen Welt. Früher ist hier Bayern gewesen. Jetzt herrscht hier die Welt. Auch Bayern ist wie der Kongo oder Kanada von der Welt unterworfen, wird von der Welt regiert. (...) Je mehr die Welt regiert, desto mehr wird die Erde vernichtet, werden wir, die dieses Stück Erde bewohnen, vernichtet. (...) Das imperiale Gesetz der Welt ist Verständnis. Jeder Punkt dieser Welt muss von jedem anderen Punkt verstanden werden. Das hat zur Folge, dass jeder Punkt auf der Welt jedem anderen Punkt gleichen muss. So wird Verständnis mit Gleichheit verwechselt und Gleichheit mit Gerechtigkeit. Aber wieso ist es ungerecht, wenn ich mich einem anderen nicht verständlich machen kann? Will sich der Unterdrückte oder Beherrschte verständlich machen? Natürlich der Unterdrückende und der Herrschende. Herrschaft muss begreifbar sein." (Achternbusch, Herbert: Der Olympiasieger, Frankfurt a. M. 1982, S. 11)

Emil M. Cioran beklagt, dass er sich auf einer Erde vorfinde, "auf der man vor lauter Heilswahn nicht mehr atmen kann. (...) Ein jeder will der Not eines jeden abhelfen. (...) Auf dem Pflaster der Welt und in den Hospitälern wimmelt es von Reformatoren. Bei jedem einzelnen wirkt das Verlangen, Ursache von Ereignissen zu sein, wie eine geistige Störung, wie ein selbstgewollter Fluch. Die Gesellschaft, eine Hölle voller Erlöser! Einen Gleichgültigen, das war es, was Diogenes mit seiner Laterne suchte." (Cioran, Emil M.: Die Lehre vom Zerfall, Stuttgart 1979, S. 9)

Und Ivan Illich nennt die Schule das entscheidende Instrument zur Verbreitung der Entwicklungsideologie: "Weiters glaube ich, dass ich diesen Jahren, den späten sechziger und den frühen siebziger Jahren, die Entwicklungswut, die in Europa und Nordamerika ausgebrochen ist, um die Menschen für die technische Zivilisation vorzubereiten, sich hauptsächlich der sogenannten, 'humanen', 'humanistischen' und 'befreienden' Schule bedient. (...) Die Schule als Einweihungsritual in die technologisch geeinte Welt und ihren Mythos erfüllt ihre Funktion durch die formelle Verhaltensstruktur, zu der sie das Individuum verpflichtet, und nicht durch die spezifischen Inhalte des Unterrichts, die sie vermittelt. Diese Verhaltensstruktur erzeugt passive Verbraucher, die auf einen selbsttätigen, immerwährend fortschreitenden Fortschritt hin ausgerichtet sind. Und die sich diesem Ideal im Prozess der Schulung unterwerfen und zwar von Stufe zu Stufe, von Klasse zu Klasse, von Fach zu Fach. Beinahe könnte man noch hinzufügen: Amen." (Illich, Ivan: Die Schule als neue Weltreligion, in: O. Schatz (Hg.), Hat die Religion Zukunft?, Vorträge und Diskussionen des Salzburger Humanismusgespräches 1970, Graz 1971, S. 208 f.)

*

Alltag
Vermutungen zum anstehenden Kultur-Bruch

von Lorenz Glatz

I.

Alltag hat für unsereinen, der gerade im Auge des Orkans lebt, noch eher den Geruch des stabilen, normalen, ausgetretenen Pfads der Reibungslosigkeit. Man könnte auch sagen: der relativ sanften Indolenz und Resignation. Die Arbeit und der Freigang, das private und das öffentliche Gewirks gehen, wie sie halt gehen müssen, und alle gehen mit, weil alle dafür sorgen, dass alle gehen. Da kann dann in der Tat (gerade noch, möchte ich hinzufügen) eine "erfolgreiche, wirksame Resignation ... wie eine ziemlich glückliche Befriedigung aussehen" (Herbert Marcuse).

Aber das Ausgeblendete, Verdrängte "draußen" macht sich bemerkbar: als Angsttraum etwa, der die "Lage der Dinge" leicht so verschiebt, dass sie für einen ganz persönlich kollidieren (siehe z.B. das folgende "2000 Zeichen abwärts"). Auch ein "spontaner Einfall" kann das tun. So ist mir nach der Fingerübung des ersten Absatzes auf einmal das Wort "footprint" "eingefallen" - und hat den ganzen Schreibplan umgestoßen. Die Spur des sogenannten "ökologischen Fußabdrucks" des Alltagslebens führt nämlich seit Jahren schon auf dem "Pfad der Reibungslosigkeit" an den Rand zum Absturz. (Dabei kommt der anlaufende anthropogene Klimawandel in diesem kurzen Text gar nicht zur Sprache.)

Im Internet sind die Daten dieser Spur mit jeder Suchmaschine umstandslos aufzufinden. Als Berechnungsgröße gibt dieser Abdruck an, "welche Fläche benötigt wird, um die Rohstoffe zur Verfügung zu stellen, die der Mensch für Ernährung, Konsum, Energiebedarf etc. verbraucht, sowie die Flächen, um Rückstände wie das Kohlendioxid aus der Verbrennung von fossiler Energie aufzunehmen und umzuwandeln". 1,4 ha pro Erdenbewohner stehen dafür zur Verfügung, wenn man noch "20 % der bioreproduktiven Flächen für die Wildnis und ihre Lebewesen reservieren" mag (was sehr an die klassischen "Indianerreservate" und ihr Schicksal erinnert). 4,9 ha jedoch verbraucht der "Durchschnittsösterreicher" (leicht mehr als der "Durchschnittseuropäer"). Sollte das der Standard aller Menschen werden, brauchten wir 3,5 Planeten, um uns auf die Dauer zu erhalten.

Ein paar Klicks weiter gelangt eins zum "Earth Overshoot Day", den "Weltüberlastungstag", auch dieser wie der "footprint" eine Initiative gelehrter, von der Fachwelt anerkannter Professoren, mit der sie der übrigen Welt anschaulich zeigen wollen, wohin die Menschheit dank ihrer, nein: unserer, ja meiner, Lebensweise geraten ist. Der Overshoot Day nimmt ein Jahr als Zeitraum für den menschlichen Konsum und die natürliche Reproduktion der verbrauchten Güter und "verrechnet" sie täglich gegeneinander. So ergibt sich, an welchem Tag jedes Jahrs der menschliche Verbrauch "an natürlichen Ressourcen die Kapazität der Erde zur Reproduktion dieser Ressourcen übersteigt". Es ist ein progressiver "Fortschritt": Von 1987 bis 2016 ist dieser Tag vom 19. Dezember auf den 8. August vorgerückt. Schon ab dem 9. August arbeiten und konsumieren wir heuer sozusagen für unseren ökologischen Untergang. "Die Folgen sind Übernutzung von Boden, Luft und Wasser ebenso wie die Zerstörung von Pflanzen- und Tierwelt." Was den Abstieg natürlich von Jahr zu Jahr beschleunigt.

Freilich: Drei Viertel der Menschheit sind an diesem mörderischen Konsum nicht beteiligt - die Armen und die Hungrigen, die vielen Arbeitslosen, Minderleister und Arbeitsunfähigen, die Kranken, die Alkoholiker und anderen Süchtigen. Und auch die mittellosen Nichtstuer "in der sozialen Hängematte", wenn es denn welche geben sollte, gehören zu jenen, die der Menschheit auf der Erde vielleicht noch eine Chance geben, weil sie den "overshoot" bei mir und uns durch den Mangel bei ihnen global doch noch deutlich drücken. Das Krebsgeschwür dieser Erde aber ist die Arbeit der "ehrlichen, fleißigen Leute" und der erfolgreichen "Leistungsträger" vor allem des globalen Nordens, die ihren angeblich "wohlverdienten" Konsum mit Zähnen und Klauen, mit Stacheldraht und Schlagstock und mit der Kürzung der Ration "der anderen" verteidigen lassen. Frieden und für alle Menschen ein alltäglich gutes Leben ist also nur mit einem Drittel der Ressourcen zu haben, die wir auf unserem Flecken Erde derzeit vergeuden. Das so auszudrücken übersteigt freilich die Grenzen des heute Sagbaren schon bei weitem. Es klingt im realen Alltag wie ein Alptraum, und ein "vernünftiger Mensch", der solche Gedanken ernsthaft von sich gäbe, sollte wohl mit den Worten schließen: "Und dann bin ich aufgewacht".

Es ist jedoch gerade umgekehrt. Die "Gesellschaft des Spektakels" (so nannte Guy Debord schon 1967 unsere kapitalistische Scheinwelt der Verdrängung und Illusion) versenkt uns in indolenten Schlaf, malt uns dort bunte Bilder, wo das Grauen schon unterwegs ist, bietet uns statt einem tätigen und müßigen Leben in Erfüllung und Befriedigung die Hingabe unserer Lebenszeit für die Jagd nach Geld und für Käufliches, für Surrogate voll Versprechungen, von denen wir uns, unerfüllt und unbefriedigt, stets weiter treiben lassen in einen Alltag von leerer Arbeit und hohlem Konsum, der - ganz nebenbei - dabei ist, die Welt für uns unbewohnbar zu machen.

Für den beiläufig-schläfrigen Blick der Gesellschaft stehen Schein-Lösungen parat: "richtiges Wahlverhalten", "richtig einkaufen" und dergleichen. Das reicht dann im Alltag dafür, bei Wahlen "das Schlimmste noch zu verhindern", auch für den Kauf von Bio-Gourmet-Gemüse und von Hybrid-Autos ist es gut genug und für die Überzeugung, dass eins "ökologisch bewusst" und gescheiter "als die Masse" ist, sowieso. Für viel mehr nicht. Der Austausch des staatlichen Personals der Verwaltung des Systems der Geldvermehrung und ein Schwenk des Wachstums auf "grün" und "biologisch" ändern grundsätzlich nichts an der alltäglichen Erschöpfung und Zerstörung unserer Biosphäre.

Die Entwicklung dieser Lebensweise, die sich jetzt als eine Todesart eines erheblichen Teils der Menschheit entpuppen könnte, wurzelt in einer Tradition von Jahrtausenden. Der Mensch geriert sich als die "Krone der Schöpfung", er macht sich "die Erde untertan". Von Europa ist schließlich die aktuelle Radikalisierung dieser Vorstellung und ihrer praktischen Umsetzung ausgegangen - wir seien "masters of the universe", befugt zur "Domestizierung" und "Ausbeutung" jedes irgendwann erreichbaren Teils des Kosmos, von unserer eigenen leiblichen Natur über unseren Nebenmenschen und den Planeten Erde "bis zu den Sternen weit". Alles wird als "Ressource" des Bedarfs dessen wahrgenommen, der stark und brutal genug ist, sich ihrer zu bemächtigen. In der gegenwärtigen Form des Wahns, also in der kapitalistischen Wertverwertung, hängt nicht nur das alltägliche Leben aller Menschen an deren Gelingen, sondern deren Gelingen auch am ewigen Wachstum des Vorgangs. Diese historische Entwicklung gilt im allgemeinen Bewusstsein als positiv besetzter "Fortschritt", der zugleich als Lösung aller von ihm verursachten Probleme halluziniert wird.

Entscheidend ist, was hier ausgeblendet wird: Der menschliche Alltag samt all seinen menschengemachten Strukturen ist bloß ein winzig kleiner Teil des - nennen wir es auch: Alltags der "mehr-als-menschlichen Welt" (David Abrams). Eines Alltags, in dem alles in der gesamten Welt "gemeinsam" mit uns da ist und "wir alle" mit allem je anderen in unendlicher, "alltäglicher" Wechselwirkung stehen. Die Welt hat keinen Mittelpunkt, der alles dominieren könnte, die Menschheit ist nicht bedeutender und wichtiger als jeder andere Teil des Kosmos auch. Die Folgen unseres Agierens sind auf längere Zeit nicht sicher absehbar, Rücksicht und Vorsicht, nicht blindes Vorwärtsstürmen sind angebracht. Nach dem Theismus ist auch der Humanismus keine Haltung, die ein gutes Leben möglich macht. Die Welt ist sich selbst ihr Meister, ihr Ablauf ist die Wirkung aller ihrer Teile auf einander, und in diesem kosmischen Moment ist absehbar, dass dieser Ablauf, was uns betrifft, entweder zur Aufgabe unserer Lebensweise oder unser selbst hinführt.

II.

Den Ausschlag wird hoffentlich noch unser kleines alltägliches Zutun geben. Mit Angst wird sich nichts ändern. Aus Angst schauen wir weg, sagen vielleicht noch: Für mich wird's schon noch reichen. Und tun weiter. Um sich auf den Weg weg vom "Pfad der Reibungslosigkeit" zu machen braucht es mehr als Ratio, Berechnung. E-motion tut not, eine Heraus- und Fortbewegung, ein leiblich-seelischer Impuls. Er kann aus der Nicht-Befriedigung unseres Begehrens nach einem "guten Leben" kommen, uns beunruhigen, zum Denken, zu Kritik uns drängen. Zum Aufbruch "zu einem guten Leben für alle" braucht es aber noch ein Stück mehr: E-motion als Zuneigung zu einander und zu der großen Mitwelt zwischen und um uns herum.

Das wäre wohl das "ozeanische Gefühl", von dem der Schriftsteller Romain Rolland an Sigmund Freud geschrieben hat. Dieser hat darin nur ein infantiles Stadium des Menschen sehen mögen - und hat doch zugleich erkannt, dass es die ausgewachsene "Kultur" ist, wie er sie kannte und verteidigte, die das "Unbehagen" der Menschen schafft, dass diese "Kultur" auf Kosten des sinnlichen Glücks geht und Aggression erzeugt zwischen den Menschen. Es liegt so fern nicht, gegen Freud weiterzudenken: Dass die Aggression sich auch verheerend gegen unsere eigene Leiblichkeit und gegen die Natur richtet, und dass zu Gunsten auch unseres Lebens ein tiefer Kultur-Bruch ansteht und zu gestalten ist. Im Fühlen, Denken und Handeln. Wenn er uns zum Weiterleben in einer friedlichen Kultur guten Lebens verhelfen soll, braucht es eine Hinwendung zu unseren Gefühlen und Praxen der Freundschaft in allen Stufen von Intensität, von einfacher Verbundenheit und Rücksichtnahme bis zu leidenschaftlicher Liebe.

Kooperation und Einverständnis sind in der herrschenden Ordnung Momente, die den Kampf und die Konkurrenz befeuern. Dieses Verhältnis gilt es umzukehren. Und nicht bloß zwischen unsresgleichen, sondern in unserer Beziehung zu allem, was heute landläufig "Welt" und "Natur" heißt, vom eigenen Leib über die Mitlebewesen bis zum Kosmos, hin zu einem Verhältnis, für das wir geläufige Worte noch nicht haben. Zu sagen und zu fühlen aber ist das unmittelbar für uns Entscheidende durchaus: Es würde das Ende sein des destruktiven Terrors unseres Ramsch-Konsums, der öden Hetze unserer Arbeit und des Kampfs aller gegen alle am Boden unseres Zusammenlebens. Umgesetzt und erlebt im Alltag.

Die E-motion vieler Einzelner raus aus dem, was heute Kultur und Zivilisation ist, wächst in aller Unklarheit. Wenn sie einander suchen, dann kann die Emotion dem, was an rationellen Überlegungen und Vorschlägen, an praktischen Versuchen schon unterwegs und greifbar ist, Gewicht und Bedeutung geben und neue, klare, viel weiter gehende gebären. Eile tut hier gut, denn "Schweiß spart Blut" (um eine Militärweisheit gegen sich selbst zu wenden). Es gilt nämlich ganz wesentlich auch der Gewalt standzuhalten, mit der jede alte Herrschaftsordnung sich verteidigt und (wie ein Zombie) alles Neue zu infizieren droht.

*

2000 Zeichen abwärts

Ungeniert privilegiert?

Mitten in der Großstadt Wien blicke ich tagtäglich aus meinem Zimmer hinaus auf einen Hofgarten, darf ihn sogar pflegen und gestalten. Ein kleiner Bambushain erfreut mich selbst im tiefsten Winter mit seinen grünen Blättern. Drei Birken habe ich vor Jahren als Winzlinge aus der Waldviertler Erde ausgegraben und hier eingesetzt, jetzt wachsen sie schon über den zweiten Stock hinaus und beleben mit ihren schlanken Stämmen, dem feinen Geäst und ab dem Frühling mit den zartgrünen Blättchen den Hof. Ihr mehr oder weniger sichtbares Schwanken lässt mich schon durchs Fenster die aktuelle Windstärke erkennen. In zwei Hochbeeten gedeiht im Sommer einiges Gemüse. Die Rosenstöcke und alle anderen liebgewordenen Pflanzen, die ich wie Mitbewohner betrachte, erfreuen meine Augen und mein Herz. Ein zufriedenes Gefühl der Dankbarkeit kommt über mich.

Da höre ich plötzlich, dass sich vor der Hoftüre etwas bewegt. Eine Amsel oder eine Maus? Ich schaue nach. Nein, was ist denn das? Da liegen ja lauter Kartons herum, auch auf den Stufen, die ich doch immer sorgfältig kehre. Wer hat denn die hierher gebracht? Das sieht ja schrecklich aus! Ich trete hinaus und pralle zurück: Unter den Kartons richtet sich ein Mann, in Lumpen gehüllt, langsam auf, da ein zweiter, ein dritter, in gebeugter Haltung, sie heben langsam die Köpfe, blicken mit traurig-zornigen Augen, ihre Bewegungen werden heftiger, sie breiten die Arme aus, sie schwanken auf mich zu, sie bedrängen mich. Ich weiche zurück in die Wohnung und ... erwache angsterfüllt.

Und doch war mir das Elend im Traum nur noch die paar Meter näher gekommen, die "meinen Garten" von der Straße trennen.

H.S.

*

Immaterial World

Kollektive Selbstverständigung

von Stefan Meretz

Klaus Holzkamp, Begründer der marxistisch fundierten Kritischen Psychologie wandte sich in seinen letzten Lebensjahren dem Alltag zu. Warum lässt sich ein Psychologe auf etwas so profanes wie den Alltag ein? Was gibt es da wissenschaftlich zu sagen? Für Holzkamp war die alltägliche Lebensführung nicht nur irgendein weiteres Thema, sondern "zentrale Gegenstandsbestimmung der Psychologie".

Ein Zugang zu Widersprüchen des Alltags gelingt über die Differenz von alltäglichem und eigentlichem Leben. Das Leben, das ich eigentlich leben will, bricht am Alltag, der durch fremde Anforderungen bestimmt ist. Damit ist nicht gesagt, dass eigentliches und alltägliches Leben notwendig in einen Widerspruch geraten müssen, aber in kapitalistischen Verhältnissen ist dies der Fall. Eine emanzipatorische Perspektive besteht darin, den Widerspruch aufzuheben - mindestens begreifend theoretisch, am liebsten aber der Tendenz nach praktisch.

Doch die Praxis stößt da an Grenzen, wo ich nicht mehr über die Bedingungen meiner Handlungen verfüge. Nun stehe ich vor der Alternative, entweder auf das, was ich eigentlich will, zu verzichten, oder mit anderen die Verfügung über die Bedingungen zu erweitern, um mehr von meinen Bedürfnissen zu realisieren. Dies geht jedoch nicht beliebig, da sich volle Bedürfnisbefriedigung nicht interpersonal für einige, sondern nur für alle auf gesellschaftlicher Ebene erreichen lässt. Das bedeutet: Ohne Aufhebung des Kapitalismus, keine gesellschaftliche Emanzipation und ohne diese keine individuelle Emanzipation - umfassend verstanden.

Die kollektive Selbstverständigung befasst sich nun mit genau jenem Verhältnis von individueller und gesellschaftlicher Emanzipation angesichts der Unmöglichkeit, beides im gegenwärtigen Alltag zu realisieren. Wie gehe ich damit um, das eigentlich gewollte Leben im "uneigentlichen" Alltag nicht (aus-)leben zu können? Welche Momente des Eigentlichen im Uneigentlichen bekomme ich dennoch zu packen? Wie ertrage ich das partiell Unerträgliche? Wie überschreite ich es ohne aktuell wirklich darüber hinwegzukommen?

Wie die Bezeichnung schon andeutet, geht es bei der kollektiven Selbstverständigung um eine Verständigung mit mir - dies jedoch mit anderen in einem gemeinsamen Prozess. Dabei gibt es zwei Ebenen der Verständigung, die intersubjektive und die metasubjektive.

Eine intersubjektive Beziehung ist eine auf Augenhöhe, in der jedes Handeln als begründet angenommen wird. Die Gründe sind dabei immer meine Gründe. Sie basieren auf meinen Prämissen, also jenen Bedeutungen, die ich aus dem mir zugewandten gesellschaftlichen Ausschnitt zu den für mich relevanten mache. Nicht nur das Handeln, sondern auch das "Gründe haben" ist ein folglich aktiver Prozess der individuellen gesellschaftlichen Vermittlung.

Die Gründe und damit auch die Prämissen, die ich ihnen zugrunde lege, sind mir nicht immer klar. Ich handele, könnte mitunter aber nicht sagen, warum so und nicht anders. Vieles erlebe ich nur als passiv erfahrenes Geschehen statt als aktive Entscheidung. Ich folge gesellschaftlichen Nahelegungen, dem, was "man" so tut, greife gar unerkannt zu regressiven Denkformen. Wie kann ich mir das bewusst machen und mir selbst auf die Schliche kommen?

Die intersubjektive Verständigung zielt zunächst darauf ab, dass alle Beteiligten die jeweilige problematische Situation von je ihrem Standort aus wahrnehmen und zur Sprache bringen. Die metasubjektive Verständigung macht diese verschiedenen Perspektiven auf das gleiche Problem ihrerseits zum Thema und versucht die unterschiedlichen Sichten durch Dezentrierung und Entpersonalisierung in einer Beschreibung, in der alle Perspektiven vorkommen, aufzuheben. Ich erkenne, dass es sich nicht um mein Privatproblem handelt, sondern um eine von vielen Möglichkeiten, mit dem Problem umzugehen.

In der Dezentrierung sehe ich von mir als Einzelindividuum ab und kehre gleichzeitig zu je mir als verallgemeinertem Individuum zurück, das sich in der gegebenen Situation befindet. Ich erkenne mich als allgemeinen Fall. Vom verallgemeinerten Standpunkt ist mir nun (potenziell leichter) auch die Selbstfeindschaft, die meinem bloß bewältigungsorientierten Handeln zugrunde liegt, zugänglich: Ich schade mir mittel- oder langfristig selbst, wenn ich kurzfristig jene Strukturen und Beziehungen reproduziere, die meine Lebensqualität beschneiden.

Quelle der Selbstfeindschaft ist die basale, in der Warenform wurzelnde Struktur der Exklusionslogik, die unsere Beziehungen durchwebt. Ich setze mich permanent auf Kosten von anderen durch so wie andere sich auf meine Kosten behaupten. Dieser Zusammenhang ist jedoch kein unmittelbar personaler, sondern ein struktureller: Auch wenn ich weiß oder ahne, dass meine Handlungen auf Kosten von anderen gehen, kann ich gar nicht anders, als mich eben so durch den Alltag zu bewegen. Die Instrumentalbeziehung, in der ich den anderen gewusst oder ungewusst zum bloßen Objekt meiner Ziele mache, ist die naheliegende und nahegelegte Beziehungsform. Die Intersubjektivität, die die Grundlage kollektiver Selbstverständigung ist, muss dagegen immer wieder bewusst errungen werden.

Die gesellschaftliche Exklusionslogik als allgemeine Handlungsmatrix lässt sich nicht interpersonal aushebeln. Dennoch ist es ein Unterschied, ob real mehr Menschen gegen die herrschende Logik inkludiert werden (etwa als Geflüchtete hier bleiben können) oder ob dies eben nicht so ist. Es ist ein Unterschied, ob wir unsere Liebesbeziehungen an unseren Bedürfnissen orientieren oder uns der Mono- und Heteronorm unterwerfen, ob wir solidarisch-kollektive Handlungsmöglichkeiten organisieren oder als Warenmonaden vereinsamen.

Dabei ist ein zentrales Prüfkriterium, ob denn die Handlungsalternativen potenziell gesellschaftlich verallgemeinerbar sind oder zur bloßen Wohltätigkeit und Gewissensentlastung verkommen. Ob sie also auf inklusionslogische Verhältnisse verweisen, in denen die Entfaltung der alltäglichen Lebensmöglichkeiten der einen die Voraussetzung für die Entfaltung aller anderen ist. Ohne commonistische Perspektive versinkt das "eigentliche Leben" schnell im Meer des alltäglichen kapitalistischen Wahnsinns.

*

Mein doppelter Alltag

von Ilse Bindseil

I.

"Der Alltag hat uns wieder": ein trister Befund, der nicht selten mit einer gewissen Zufriedenheit konstatiert wird, was auf Ambivalenz deutet. Sind wir so abgerichtet, dass wir uns eins fühlen mit dem, was uns unterdrückt?

Der Alltag hat uns. Aber seine große Stunde hat er, wenn sich Außerordentliches unser zu bemächtigen droht, Krankheit oder Tod. Da kehrt er seinen Pakt mit dem Leben, seine Zugehörigkeit zur Biologie heraus: Alltag ist Leben. In der Grenzerfahrung wird aus dem tristen Kompromiss mit dem Leben, wie es nun einmal ist, das Leben an sich.

Ich erinnere mich an den unsäglichen Rohrgeruch in der Schule, die mein Arbeitsplatz war, wie er nach finsterer Krankheit vom Inbegriff einer trüben Fremdbestimmung zum Beweisstück des Überlebens mutierte: Ich bin wieder da, nicht zu glauben, aber ich bin wieder da! Ich erinnere mich - und das ist lange, lange her -, wie ich mit einer kritischen Benachrichtigung in der Tasche zur unseligen Mittagszeit Unterricht hielt. Um die aufflammende Panik zu verbergen, ging ich nach ganz hinten bis zur letzten Reihe, wo ich mich an Philipps Stuhllehne festhielt. Auf diese Weise stabilisiert, warf ich einen Blick über die Reihen unruhiger Achtklässler und dachte: Wenn ich wieder herkommen könnte, das wäre der Himmel.

Alltag ist in nicht geringem Umfang Arbeit. Wenn die Bedrohung elementar genug ist, wird er in mythologischer Umkehrung seiner Monotonie zur Lebensgarantie. Was ständig ist, kann doch nicht aufhören, sagt man sich. Ihm fehlt ja der innere Antrieb, das Kippmoment.

Bei der Unterredung mit einem Onkologen, an der ich nur als Begleitung teilnahm, kam es zu einem Augenblick wundersamer Intimität, als der Arzt, nachdem er den ausnehmend günstigen Zwischenbefund mitgeteilt hatte, auf die dringliche Frage meiner Freundin nach Wiederaufnahme der Arbeit, Wiederherstellung des Alltags, antwortete: "Machen Sie das, wie Sie es möchten. Aber ich sage Ihnen: Der Krebs kommt wieder." Und in die Pause, als sähe er in das Innere meiner Freundin: "Auch wenn Sie arbeiten, kommt er wieder."

Klar, sagt sich der Gesunde, schließlich, was hat der Krebs mit der Arbeit zu tun? Aber von der anderen Seite sieht die Sache anders aus. Da hat der Alltag geradezu mythische Kraft: er kann das Böse abhalten.

Die Soziologie hat sich die Zerstörung dieses Mythos zum Anliegen gemacht, indem sie den Alltag als eine unvermeidliche Begleiterscheinung, womöglich die wahre Natur von allem Grenzwertigen herausarbeitet: Alltag in Auschwitz, Alltag auf der Intensivstation, im Knast, in der Wüste, in der Todeszelle und so fort; das hat meinen unangenehmen Eindruck von ihr, dass sie, indem sie sich der lebendigen Gesellschaft zuwendet, etwas Totes aus ihr macht, befestigt. Umgekehrt wirbt die abhängige Arbeit in den Anzeigen der Werbeindustrie mit dem Epitheton "abwechslungsreich", so als wäre mit der Monotonie der Arbeit auch die Monotonie der Abhängigkeit gebrochen und der Profiler, der bezahlte Söldner, der CEO gleich welcher Couleur ein Beweis, dass es auch ohne geht: ohne lästige Wiederholung und dabei immer noch unter Befehl.

Bleibt als Bauchgefühl, dass Alltag und Selbstbestimmung nicht zusammenpassen wollen. Mag noch so geschmeidig von der selbstbestimmten Gestaltung des Alltags geredet werden, etwas sträubt sich in uns, uns den Zugriff auf eine Lebensform, eine Herrschaftsform, einen Zustand einzubilden, eine Struktur, die bis in die groteske Wortbildung hinein den unauflösbaren Pakt zwischen All und Nichts, Raum und Zeit, Sinn und Blödsinn verkörpert. In seinem Bemühen, die als verrückt etikettierte Tochter sich nicht ausklinken zu lassen, schildert James Joyce, "wie besorgt er sei, dass es ihr auch in physischer Hinsicht schlecht gehen werde, 'wenn und falls sie ihren Blick endgültig von den blitzerhellten Träumereien ihrer Hellsichtigkeit abwendet und ihn auf diese zugerichtete Kutschervisage, die Welt, richtet,'" (zitiert von Carol Loeb Shloss, Lucia Joyce. Die Biographie der Tochter, München 2007, S. 446 und, wörtlich wiederholt, S. 564). So, stelle ich mir vor, mag der Alltag denen begegnen, deren Sensorium für die gleichzeitige Trivialisierung und Verrohung der Welt durch keinen Filter geschützt ist. "Diese Alltage überleben", der Titel des "Lesebuchs 1945-1981" (hrsg. von Monika Walther, Münster 1982), der mich über Jahrzehnte begleitet hat, so dass ich nicht mehr wusste, worauf, ein Buch, ein Bekenntnis oder Geständnis, er sich bezieht, ist für mich dagegen mit dem stillen Wahn der Nachkriegsepoche verschmolzen. Überleben schien mir wie die stehen gebliebene Perspektive derer, die den Krieg überlebt hatten und für die sie nur noch Tristesse bedeutete. Verführerisch daher die situationistische Rede vom Bruch mit dem Alltag, dem doch selbst ein fatales Moment von Wiederholung eignet. Immer wieder brechen: gibt es einen schnelleren Takt, eine härtere Gangart? Gleichzeitig will der Verdacht bearbeitet werden, dass Monotonie und Wiederholung nicht das Gleiche sind. Alltag und Alltag auch nicht?

II.

Gegen die "zugerichtete Kutschervisage der Welt" habe ich, ein Produkt ganz und gar der Nachkriegsmoral, die Strategie des doppelten Alltags gesetzt: "ihr" Alltag und "mein" Alltag. "Ihr Alltag", an dem ich eifrig partizipierte, enthielt Sonn- und Feiertage, Ferien, Auszeiten aller Art, kurze und längere, geschenkte und gestohlene. Die Tage, um es biblisch auszudrücken, umfassten Nacht und Tag. "Mein Alltag" enthielt nichts dergleichen. Kein Wunder, könnte man sagen, denn "mein Alltag" besetzte ja die Freiräume, die "ihr Alltag" ließ. Außerdem war er kreativ und selbstbestimmt.

Meine Hausärztin, politisch, wie das in Berlin möglich ist, durchaus eine Verfechterin des Bruchs, verzieht angewidert das Gesicht, als ich auf ihre beherzte Krankschreibung wegen nicht enden wollender Grippe dankbar äußere: Dann kann ich endlich mal in Ruhe arbeiten. Was gibt sie sich überhaupt mit mir ab! - Warum hast du nicht einfach die Klappe gehalten, warf ich mir hinterher vor, kein Mensch will benutzt werden! Aber auch ich wollte wahrgenommen werden. Tages Arbeit, abends Feste, so ging es bei mir nun einmal nicht zu.

Dass es feiertags bei mir so zuging wie bei anderen Leuten im finsteren Alltag nicht, hängt mit meiner felsenfesten Überzeugung von der Natur der Begabung zusammen: man muss sie üben. Anders ausgedrückt, man muss ihr jene kritische Masse an Fähigkeiten und Kenntnissen zur Verfügung stellen, die sie aus der Potenz herausholt und in den Stand setzt, etwas hervorzubringen, einen Ton, einen Gedanken oder die berühmte Lösung, von der Poincaré in seinem Kapitel über "Die mathematische Erfindung" spricht. "Das Auftreten dieser plötzlichen Erleuchtung ist sehr überraschend, wir sehen darin ein sicheres Zeichen für eine voraufgegangene, lange fortgesetzte unbewusste Arbeit; die Wichtigkeit solch unbewusster Arbeit für die mathematische Erfindung ist unbestreitbar (...) Man könnte sagen, die bewusste Arbeit sei deshalb fruchtbar gewesen, weil sie unterbrochen wurde und weil die Ruhe dem Geiste neue Stärke und Frische gegeben hat. Aber es ist wahrscheinlicher, dass die Zeit der Ruhe durch unbewusste Arbeit ausgefüllt wurde und dass das Resultat dieser Arbeit sich dem Mathematiker später enthüllte." (Wissenschaft und Methode, Leipzig und Berlin 1914, S. 44) Dem Gehirn wird ein Fundus zur Verfügung gestellt, aus dem es sich bedienen, es wird ihm ein Unbewusstes zugrunde gelegt, in dem es sich tummeln kann; je mehr es für sich ist, desto besser. Aber nur wenn der Wissenschaftler ihm seinen Tag geopfert hat, kann es nachts tätig sein, ab und zu mit erstaunlichem Ergebnis: "Heureka, ich hab's!" Wer schreibt, kann sich nur dann einer Art écriture automatique bedienen, wenn er sich mit seiner bewussten écriture abgeplagt hat. Es muss eben ein Es vorhanden sein, damit ein Ich daraus werden kann. Zum verschwindenden Teil ist es mein Ich, zum größten, wie wir alle wissen, das Ich der Klarinette, der Farben, der Zahlen. Das muss seinen Alltag haben wie wir unsern. Bloß dass es zwischen der selbstbestimmten Welt des freien Schaffens und mir genau die gleichen Interferenzen gibt wie zwischen mir und der Welt: beide kehren sie bei Gelegenheit die "Kutschervisage" heraus.

III.

Da ich nicht wie der Mathematiker auf die Fuchsschen Gruppen verweisen kann, will ich versuchen, mit einer Anekdote deutlich zu machen, wie mir Erleuchtung zuteil wird, nämlich ebenfalls in einer Mischung aus Trivialisierung und Verrohung.

Wie habe ich, aus einer Medizinerfamilie stammend, mich über die Paranoiker lustig gemacht, die hinter jedem Tod einen Mord wittern, Männer zumal. "Der Arzt hat meine Frau umgebracht", wenn das nicht Mythologie pur war! Plötzlich - nachdem ich monatelang mal über den Tod, mal über ganz anderes nachgedacht habe - geht mir auf: Von dem Moment an, wo wir den Tod abgeschafft haben, ist jeder Tod ein Mord, es sei denn, es stirbt niemand mehr. Das ist eine schiere Frage der Logik, und von wegen primitiv: "Der Arzt hat meine Frau umgebracht." Wenn's nicht die Natur war, dann kann es nur der Arzt gewesen sein. Die Natur darf's nicht mehr, der Arzt soll's bloß nicht sein. Dennoch ist die Frau gestorben. Wer auf der Höhe des gesellschaftlichen Bewusstseins bleiben möchte, der wird den Arzt zur Rechenschaft ziehen. Komisch, die Mythologie auf der Seite des Fortschritts: was das noch werden soll? So denke ich vor mich hin, während mein Gehirn sich in seinem Unbewussten tummelt.

Kommt hinzu - aber hier plaudere ich bereits aus dem Nähkästchen -, wenn ich mich im trüben Alltag der andern verfiltzt und eins in die Fresse gekriegt habe, mich in ein anderes Amt als mein eigenes verirrt habe oder von einem Radfahrer angefahren und dann auch noch beschimpft worden bin, dann kommt es zu einer Verwirbelung "ihres Alltags" und "meines Alltags", und wenig später fällt mir eine Entdeckung vom Kaliber des Ei des Kolumbus in den Schoß. Eine sensationelle Einsicht sucht mich heim. Bloß kann ich sie mir häufig nicht merken. Genauer, sie verliert ihren Glanz. Sie ist noch da, aber in der Wiedergabe klingt sie schal und alles andere als erleuchtet.

Alles ist immanent, denke ich kürzlich, nachdem ich fürchterlich eingesteckt habe. Aber das ist mitnichten der Wortlaut meines Gedankens, der eigentlich ein Bild, eine Szene ist. Das Neue ist niemals neu - wenn Gedanken fühlen können, so empfinde ich dies als Gedanken -, es überschreitet das Bestehende nicht. Wir sehen es lediglich mit anderen Augen, oder wir haben die Wahrnehmung ein wenig geschärft. Das Neue ist gar nicht neu, spüre ich, wir haben es nur anders zerlegt. Wir haben die Serviette bloß anders gefaltet, schon sieht sie wie eine Seerose aus.

Kurz zuvor war auch ich "zerlegt" worden. Niederlagen fördern die Wahrnehmung, den Respekt vor der Wirklichkeit; vergleiche Brecht. Sie räumen die Hindernisse, vor allem den Größenwahn beiseite. Sie wärmen das Gehirn und befördern es in den Aktionsmodus. "Boing!", heißt es im Comic, und in meiner Denkblase: Das bedeutet Zerlegen, ach so!

Es passiert auch umgekehrt, dass "mein Alltag" mit "ihrem Alltag" kollidiert. Das ist selten, da ich Beamtin bin und auf einen geregelten Ablauf vertrauen kann, wäre da nicht die Drohung im Hintergrund, dass im Moment der Krise Status und Leben des Beamten ein und dasselbe sind. Angestellt müsste man sein! Aber noch ist die Krise weit.

Gegen Ende meines Berufslebens gerate ich, die Unauffälligste unter Unauffälligen, mit dem stellvertretenden Schulleiter aneinander. Im Vertretungsplan für morgen habe ich gesehen, dass ich in den ersten beiden Stunden Vertretungsunterricht habe. Mein eigener Unterricht beginnt um zehn. Ich bin außer mir. Weiß er nicht, dass ich um diese Zeit arbeite? Dass diese zwei Stunden vor dem Unterricht die Quelle meiner Freundlichkeit, die Grundlage meiner Berufseignung, die Voraussetzung meiner Berufsausübung sind? Unglücklicherweise treffe ich vor dem Lehrerzimmer auf den stellvertretenden Schulleiter. Ich höre eine Stimme, die ich noch nie in meinem Leben gehört habe. "Das lasse ich mir nicht bieten!" Und zu meinem ungeheuren Erstaunen: "Wenn es so ist, dann muss ich mir alles ganz neu überlegen!" Letzterer Satz schließt nahtlos an die Zweifel an, die ich dreißig Jahre zuvor gegenüber dem damaligen Schulleiter geäußert hatte, ob ich mir den Job zumuten kann.

Der stellvertretende Schulleiter ist ganz bestürzt, auch überrascht, dass die alltäglichste seiner Maßnahmen soviel Ungewöhnliches heraufbeschworen hat. Um wenigstens zu verhindern, dass ich in Tränen ausbreche, entziehe ich mich seinem beruhigenden Gemurmel und verzichte "für diesmal" auf die beiden mir zustehenden Stunden Arbeit.

IV.

"Was hast du aus deinem Leben gemacht?" fragt mich der liebe Gott an der Pforte zum Himmel. "Alltag", antworte ich ihm aufrichtig, aber eine Spur naiv. "Auf ausgetretenen Pfaden gelatscht", sagt er verächtlich. "Dem alten Modell gefolgt, nicht mal der Form nach innovativ!" "Stimmt", gebe ich zu. "Wenigstens nicht immer Ich gesagt", schiebe ich hinterher. Auch ich will schließlich wahrgenommen werden. "Du würdest dich im Paradies ja gar nicht wohlfühlen", sagt er höhnisch. "Wo ist die Stechuhr", äfft er mich nach, "ich will eine Runde üben!"

Recht hat er. Der Gedanke, im Richtigen zu leben, wäre mir ein Graus. Was ist, wenn es das Falsche ist, und wo sind die Instrumente, die mir für das gewöhnliche Leben zur Verfügung stehen, so dass ich mit Joyce konstatieren kann: Du mit deiner miesen Visage! Wenn es nämlich, um das Ungewöhnliche auszusortieren, selbst ungewöhnliche Seiten aufzieht. Wenn es seine zweite Natur als aggressive Grenzbestimmung hervorkehrt und der melancholische Seufzer "Diese Alltage überleben!" zur inbrünstigen Hoffnung wird!

Aber das ist nur die eine Seite der finsteren Medaille. Die andere: was, wenn ich die einzige Falsche im Richtigen bin! Der Schriftsteller Michael Greenberg beschreibt unter der Überschrift "Meine glänzende Laufbahn" eine "ermüdende Aufeinanderfolge von Tätigkeiten ohne Aufstiegschancen, wie zum Beispiel wohlhabende Schulkinder in einer Limousine herumzuchauffieren oder im U.S. Post Office in der Nähe der Grand Central Station in Nachtschichten Postsendungen zu sortieren (...) Mein Ziel war es, den psychischen Trott zu vermeiden, der sich einstellt, wenn man 'für einen anderen arbeitet'. Mein Status war niedrig, aber man erwartete von uns keine Loyalität dem Arbeitgeber gegenüber, und so konnte ich mir die Illusion von Unabhängigkeit bewahren, die mir von allergrößter Wichtigkeit zu sein schien. Meinen Freunden erklärte ich, dass ich eine Art literarischer Lehre absolvierte, aber in Wahrheit war eine stärkere Macht am Werk: Ich konnte die Aussicht nicht ertragen, mich auf eine 'Laufbahn' festlegen zu müssen. Der Witz dabei war, dass ich gewillt war, härter als jeder andere zu arbeiten, um zu gewährleisten, dass es keinen anderen gab. Um sich wirklich auszuzeichnen, so glaubte ich, müsse man umfassend scheitern." (Betteln, Borgen, Stehlen, Hamburg 2010, S. 94)

Was nämlich, wenn der Bruch mit dem Alltag den gleichen Alltag, aber auf der untersten Ebene von Fremdbestimmung und Monotonie hervorbringt? Oder wenn wie in den klassischen Robinsonaden das Abenteuer nur die Vorstufe des Alltags, Abwechslung bloß ein Zeichen mangelnder Routine, Selbstbestimmung lediglich die Vorstufe von Abhängigkeit ist?

Ich bin die ideale Zuschauerin von "Brooklyn", dem famosen Film. Ich mag den im piefigen Irland zurückbleibenden jungen Mann noch lieber als den Italiener, der in den USA auf die Rückkehr seiner jungen Frau wartet. Der ist ein unbeschriebenes Blatt, reizend in seiner Unfertigkeit, während der andere ein Verhältnis gemessener Distanz zu seiner Umwelt pflegt, aber bis in die feinsten Verästelungen mit ihr verwoben ist. Hat Joyce mit der "zugerichteten Kutschervisage" nicht ganz konkret diese Umwelt im Auge gehabt? Pech für mich, dass ich dem irischen jungen Mann trotzdem nachtrauere, zumal seine Rolle klein ist, mein Bedauern dafür groß, aber so kommt der Verstand in Gang. Auf der grünen Wiese von, ich weiß nicht mehr genau, Long Island, hat der junge Italiener seiner künftigen Frau das auf der Karte längst in Bauland verwandelte Stückchen unberührter Natur gezeigt und die erworbenen Grundstücke verteilt: rechts Papa und Mama, daneben wir zwei, daneben die Häuser, die wir verkaufen. Werden sie nicht exakt da landen, wo der besagte irische junge Mann längst angekommen ist, der das Anwesen seiner Eltern, den Pub seines Vaters übernimmt? Ist nicht das andere bloß die Vorgeschichte des einen, die angedachte Erweiterung des kapitalistischen Kreislaufs mal abgerechnet?

Freilich, ankommen ist aufregender als da sein, bekommen weiß Gott aufregender als haben, vermehren abwechslungsreicher als behalten. Spätestens wenn die "Höhlenkinder" beim Kühlschrank angelangt sind, wird der Roman langweilig, das Geschehen zu erzählen ein mühseliges Unterfangen. Merkwürdige Umkehrung: Alltag heißt, soviel bedenken müssen!

Heißt aber auch, ohne eigenes Zutun eine Menge bewegen, Gutes wie Böses.

Ich versuche vergeblich in ein nachbarschaftliches Verhältnis zu den Flüchtlings-Kids zu treten, deren jugendlicher Lärm abends in mein Schlafzimmer dringt. Zwei extra angeschaffte Fußbälle liegen nutzlos herum. Teils scheitere ich an der Verwaltung, teils an der überbordenden Hilfsbereitschaft meiner Nachbarn, teils an meinem eigenen reglementierten Alltag, teils an meinem Anspruch auf eine persönliche Beziehung. Wehmütig denke ich an meinen Arbeitsplatz zurück, wo ich mit einem Blick 28 Kinder erreichte, kleine und große, denen ich mit einem gezielt platzierten "Au scheiße!" eine Lektion in Formverständnis erteilen konnte, das aus der Steinzeit hinaus- und mitten in "unsere Welt" hineinführt. Wo die größte Chance für Integration (und nicht nur für Flüchtlinge) eine Selbstverständlichkeit war: Montag um acht ist Schule.

*

Rezens

von Martin Brandt

Felix Bartels: Odysseus wär zu Haus geblieben.
Schutzschrift mit Anhang. Aurora Verlag Berlin 2015,
334 Seiten, ca. 20 Euro

Offenbar ist das Denken die einzige Tätigkeit, die sich fortwährend dafür entschuldigen muss, dass sie ausgeübt wird" (S. 38) - damit beschreibt Bartels sehr treffend die Ausgangsposition, von der aus er seinen nicht unstrittigen Beitrag zur Ideologietheorie und zur Reflexion des Verhältnisses von Theorie und Praxis entwickelt.

Wer sich auf seine Schrift, die aus einem Hauptteil und gesammelten Aufsätzen besteht, einlässt, findet eine Analyse und Kritik dessen, was seiner Meinung nach allen politischen Ideologien eignet, nämlich deren zu große Nähe zur politischen Praxis. Diese bzw. ihre Vorherrschaft gegenüber der Theorie sei nicht zuletzt durch Marx selbst in den Feuerbachthesen installiert worden, in denen er die politische Praxis höher einordne als die Theorie, was dazu führe, dass sowohl das faschistische Potenzial verkannt als auch regressive Ideologeme in progressiven Bewegungen geleugnet werden.

Dagegen verteidigt Bartels die bedingungslose Autonomie von praktischer und theoretischer Sphäre und besteht auf deren jeweiliger Eigenlogik: die Theorie habe dabei jedem politischen Kalkül, die Praxis jedem Anspruch auf Vereinnahmung der Theorie zu entsagen. Am überzeugendsten ist Bartels in seiner mäandernden Argumentation da, wo er den Fraktionszwang politischer Spektren und deren regressive Ideologeme herausarbeitet; am schwächsten, wo er meint, allein im von scheinbar allen Zwängen befreiten Denken das Seelenheil der Menschheit finden zu können.

*

Rückkopplungen

Pop, Kultur und Alltag

von Roger Behrens

Unser Alltag gehört zur Moderne. Nicht dass Menschen in vormodernen Zeiten nicht auch schon ihren Alltag gehabt hätten: nur war das Alltägliche weitgehend religiös gestaltet, mit reichlich Phantasie durchsetzt, die gerade half, von dem abzusehen, was heute eher als das Alltägliche erscheint - die Wiederkehr des Trotts, die Tretmühle, die Job, Beziehung, Hobby, das Treibrad von Beruf und Freizeit meint. Der Alltag war ein Fest. Unser Alltag gehört nun zur Moderne, weil das bürgerliche Zeitalter das Alltägliche modern macht: Das Fest wird in die alltäglichen Geschäfte integriert; ja, überhaupt ist der Alltag, auch und gerade der individuelle Alltag, ein einziges Geschäft. Formell ist es die protestantische Ethik, die diese merkwürdige, aber eben doch moderne Verkehrung von Alltäglichkeit und Nichtalltag prägt. Sie bedeutet ja mehr, als mit dem Etikett des homo oeconomicus beschworen wird: sie gebiert, nach dem Wort Max Webers, den Berufsmenschen. Und das ist der Mensch, der sein Wesen, nämlich auch in Hinblick auf sein notwendig falsches Bewusstsein, nein - nicht auf die Ökonomie abstellt, sondern voll und ganz auf sich, seine Individualität: weil er weiß, dass er Individualität nur verwirklichen kann, wenn er die Anpassung an die gesellschaftliche Produktionsordnung als seine Berufung glaubt. Und nur unter diesen Bedingungen wird der ganze Lebensvollzug, auch über die reine Zeit der Maloche, der Lohnarbeit hinaus, zur Profession verklärt, nämlich zur in jeder vermeintlich individuellen Haltung und Handlung sich wiedererkennenden Identität des auf die Verwertungslogik konfirmierten Berufsmenschen. Und das ist das, was den modernen Alltag in seiner Alltäglichkeit modern macht: dass er floriert in der Illusion permanenter Verkehrung, das Nichtalltägliche als Alltag zu zelebrieren, das Alltägliche selbst wie die ewige Wiederkehr des Nichtalltags zu feiern.

Und hier konvergiert der moderne Alltag mit Kultur, wird Alltagskultur, die aber, das ist bekannt, in der Regie der Kulturindustrie funktioniert. Nicht von ungefähr kommt es, dass Marx für die Charakterisierung des Warenfetischs den aus dem Theater kommenden Begriff der Phantasmagorie verwendet; und nicht von ungefähr kommt es, dass Benjamin in seinen "Passagen-Werk"-Notizen wiederum den "Begriff der Kultur als die höchste Entfaltung der Phantasmagorie" bezeichnet (GS Bd. V·2, S. 1250).

Der Abschnitt über Kulturindustrie in der "Dialektik der Aufklärung" von Adorno und Horkheimer heißt im Untertitel "Aufklärung als Massenbetrug", nicht etwa "Verdunklung als Massenbetrug" oder "Große Gefühle als Massenbetrug"; es geht um Aufklärung ganz im Sinne Kants, als "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit". Diesen "Ausgang" zeigt die Kulturindustrie, und zwar ganz ohne nötigen "Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen" (Kant), perfiderweise als Eingang, ja als Pforte ins Reich des ursprünglichen Glücks; deshalb schreiben Adorno und Horkheimer: "Kulturindustrie bietet als Paradies denselben Alltag wieder an" (GS Bd. 3, S. 164).

Die Kulturindustrie verspricht, was sich nicht hält. Glück. Der Alltag bietet nur den Abglanz davon. Und zwar kraft der rationalen Einsicht in diese Verhältnisse, der Trug ist durchschaut: das meint ja Aufklärung (die dann zur Verblendung sich überhöht).

Ohne weiteres lässt sich hier an Kafkas Türhüter-Legende denken: das Tor war immer offen; was der Mann vom Lande all die Jahre allein sah, war der Schein eines Größeren, Höheren. Er hätte jederzeit eintreten können. Dass er es hätte tun sollen, ist die Lösung, die sich nach der Logik des herrschenden Alltags ergibt. Die revolutionäre Lösung ist einfacher: Sie bedeutet, wegzugehen, abzuhauen, nicht mitzumachen, "Große Weigerung" (Marcuse).

Aber so einfach ist es doch nicht, weil auch solche Weigerung in den modernen Alltag integriert werden kann und integriert wird, und zwar aus Prinzip. Dieses Prinzip ist der Logik der Kulturindustrie, spätestens wo sie sich selbst als Pop offenbart, eingeschrieben über das, was sie gerade in Bezug auf das Alltagsleben an Modernität verspricht. Charles Baudelaire war der erste, der dieses Wort Mitte des 19. Jahrhunderts verwendet hat: "Die Modernität ist das Vorübergehende, das Entschwindende, das Zufällige, ist die Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unabänderliche ist." (Das Schöne, die Mode und das Glück, Berlin 1988, S. 21) Schon in diesem Begriff der "Modernité" ist die desolate Tendenz der Geschichte eingeschlossen, dass der Fortschritt ("im Bewusstsein der Freiheit", Hegel) entweder als Fortschritt der Humanität in die Katastrophe mündet, oder aber eben als alleralltäglichste, ewige Wiederkehr des Neuen, nämlich als Mode, verklärt wird, die sich nur noch an technischen Innovationen festmachen lässt, die Menschlichkeit auch nur noch technisch befördern.

Im mittelalterlichen Alltag war es die Not, die man hoffte, religiös lindern zu können. Wo in der Moderne allerdings Not ist, Elend und Leid, ist kein Alltag; das Problem der Moderne, wofür das Alltägliche dann als Lösung erscheint, ist vollkommen anders gelagert: der Feind gelingenden Alltagslebens ist - die Langeweile. Faktisch hat der Kapitalismus nämlich zur auch nachhaltig erfolgreichen Kaschierung seiner lebensfeindlichen Gewalt relativ wenig zu bieten; er muss sich auf Bewährtes verlassen, das sich eigentlich nur zufällig bewährt hat: weil es, obwohl als ewige Jugend verkleidet, nicht alterungsbeständig ist, sein Verfallsdatum aber nicht preisgibt.

Das ist indes die Definition des Pop, die ihm zur Strategie wurde: "Pop Art is: popular, transient, expendable, low-cost, mass-produced, young, witty, sexy, gimmicky, glamorous, and Big Business", so der Künstler Richard Hamilton 1957 an das Architektenpaar Peter und Alison Smithson. Es ist bekannt, wie schnell dieses Pop-Art-Programm auf die Musik übergreift und als Musik, Popmusik nämlich, die Kulturindustrie endgültig veralltäglicht wird, nämlich als Popkultur. In den 1970ern findet das seinen musikalischen Höhepunkt, als der Popalltag wirklich auf das All ausgedehnt wird ("Ziggy Stardust and the Spiders from Mars"). Pop als Alltag, der von seiner eigenen übermächtig gähnenden Leere verschluckt wird, bis er schließlich an der Langeweile stirbt, immer wieder.

*

Alltägliche Befangenheit

von Petra Ziegler

Veränderungen machen Angst. Allein der Gedanke daran stresst, versetzt uns in Abwehrhaltung. Haben wir uns einmal an etwas gewöhnt, bleiben wir gerne dabei - kein pausenloses Abwägen, kein ständiges Für und Wider, wir laufen bei alltäglichen Verrichtungen in einer Art Energiesparmodus. Routinen geben Sicherheit, sie entlasten uns, regeln unseren Umgang untereinander, bestimmen Abläufe, lassen die Dinge an "ihrem Platz".

Alltag ist das, was wir kennen, so wie wir es kennen. "'Alltag', das sind Wir', d.h. die, die man 'kennt', die eigentlich immer 'da' sind und 'dazugehören'; und es sind erst einmal nicht die 'Anderen', die 'Fremden' und erst recht nicht die 'Auffälligen', 'Absonderlichen' und 'Gefährlichen'." (G. Günter Voß: "Alltag. Annäherungen an eine diffuse Kategorie",
www.arbeitenundleben.de/downloads/alltag-kurz.doc)

"Alles, was ich kenne, gibt mir ein Gefühl von Vertrautheit und Sicherheit", so formuliert es die Psychotherapeutin Sara Malik, "selbst dann, wenn es mich unzufrieden oder gar unglücklich macht. Weil ich weiß, wie ich handeln muss. Und niemand kann mir garantieren, dass es anschließend besser wird. Es könnte ja noch schlechter werden." Der Wunsch nach Stabilität scheint das Bedürfnis nach Neuem bei weitem zu überwiegen. Dabei werden selbst offensichtlich negative Auswirkungen des Gegebenen individualisiert oder auf andere Weise relativiert. Weniger um die Ursachen von Belastungen kreisen die Gedanken, um das "Warum", sondern darum, wie wir uns der "Realität" stellen, wie wir ihren Anforderungen gerecht werden, uns ins "Notwendige" fügen und dabei möglichst viel für uns herausholen. "In der subjektivierenden Herangehensweise stehen nicht die gesellschaftlich abschaffbaren oder minimierbaren Zumutungen kapitalistischer Erwerbsarbeit im Vordergrund der Aufmerksamkeit, sondern die quasi sportliche Herausforderung, die eigene Tüchtigkeit, Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen." (Meinhard Creydt: "Stufen der Subjektivierung" in Streifzüge 60)

Der Psychologe Rainer Mausfeld (Universität Kiel) charakterisiert den status quo bias als "unsere natürliche Neigung, den jeweiligen Zustand der Gesellschaft, in der wir leben, als gut, gerecht, moralisch erstrebenswert usw. anzusehen". Diese Voreingenommenheit geht parallel mit einer Tendenz, den Benachteiligten die Verantwortung für ihr Scheitern und ihre missliche Lage selbst zuzuschreiben, ebenso wie mit einer Abneigung gegenüber allem und allen, die offensiv Veränderungen anstreben. In ökonomisch krisenhaften Zeiten verstärkt sich das. Wer Sorge hat, "in jedem Moment mit seinem ganzen Leben zur Disposition zu stehen" (Heinz Bude: "Gesellschaft der Angst"), fühlt sich ohnmächtig und wenig Herr seiner selbst. Im Zweifel wählen wir das bekannte Leiden.

Änderungsresistent

Zwar passen wir uns ständig an, aber eher notgedrungen, der Umstände halber. Im Rhythmus des Geldes laufen wir, so gut es eben geht. Wir laufen mit, ein wenig schneller eben, wenn die Vorgaben erhöht, irgendwelche Sollzahlen neu bestimmt werden, oder wir tun uns ein wenig hervor, gelegentlich. Die Konkurrenz schläft nicht. Wir sind MitläuferInnen, mindestens, sonst machen es andere.

Gewohnheiten abzustreifen verlangt einiges an Ausdauer und Willenskraft. Das weiß nicht nur, wer sich von irgendwelchen kleineren oder größeren Lastern verabschieden oder irgendwas Anerzogenes, nunmehr die Persönlichkeit Belastendes loswerden möchte. Dabei sind das noch leichte Übungen, verglichen mit unseren vom marktwirtschaftlichen Getriebe geprägten Handlungen, Herangehensweisen und Wertungen. Wir sind geeicht als Kauf- und Verkaufssubjekte, konkurrierend, nutzenmaximierend, kalkulierend. Selbst "Alternativen" lassen sich scheinbar nur nach monetären Maßgaben denken. Das hört sich dann zum Beispiel so an: "Wenn Menschen keine Arbeit mehr haben, brauchen sie ja dennoch ein Einkommen - erstens, damit sie überleben können, und zweitens, damit sie die Wirtschaft am Leben halten." (Martin Ford, Autor des von Forbes 2015 zum Wirtschaftsbuch des Jahres gekürten "Rise of the Robots", der sich im Interview mit derstandard.at für ein Grundeinkommen einsetzt)

Um loszuwerden, was uns längst in Fleisch und Blut übergegangen ist, müsste zuerst der Wunsch nach etwas anderem wach werden, und darüber hinaus müsste, was ist, als überhaupt veränderbar erkannt werden. Allzu selbstverständlich, "normal" eben, ganz "natürlich" erscheint uns unser Verhalten, es gehört eben dazu. Es gehört dazu, wenn eins Erfolg haben will im Beruf, im Freundeskreis mithalten will, ein bisschen was haben möchte vom Leben, Kinder hat ...

Verlustängstlich

Bevor wir uns auf fremdes Gebiet wagen, brauchen die meisten von uns erst einmal ziemlich festen Boden unter den Füßen. Davon findet sich immer weniger. Auf rutschigem Gelände, in unruhigen Zeiten, klammern wir uns eher fest. Sobald uns Erreichtes verloren gehen könnte, bleiben die Verlockungen des Neuen recht widerstehlich. Oder wir zögern aus purer Bequemlichkeit.

Wir neigen zur Vorsicht, wittern Bedrohung und sehen, was wir haben, in Gefahr, allem Gelaber von Chancen und unendlichen Möglichkeiten zum Trotz. Risikogeilheit ist was für adrenalinsüchtige Halbstarke und fürs bonifixierte Management. Beide zweifellos verzichtbare Erscheinungen der jüngeren Geschichte.

Kleine Fluchten aus dem Alltag sind freilich willkommen: Zerstreuungen, Ablenkung, Luftschlösserbauen. Vom Fliegen träumen mögen viele, vor dem wirklichen Abheben leuchtet ihnen grellrot: Absturzgefahr! Vielleicht kommen wir auch einfach nicht weg vom Sofa. Am Boden geblieben, beklagen wir dann, was uns an täglichen Verpflichtungen niederdrückt. Vom ersehnten Höhenrausch bleibt nur ein grauer Kater. Und damit der wenigstens dekorative Streifen bekommt, wenden wir uns irgendeinem normkompatibleren Zeitvertreib zu. Die einen gestalten das Wohnzimmer um und malen aus, die anderen malen nach vorgegebenen Linien (vgl. etwa "Adult Coloring: Das bunte Leben im falschen", www.zeit.de/kultur/2016-04/adult-coloring-malbuecher- trend-buntstifte), die Dritten stylen ihr Äußeres immer wieder neu oder perfektionieren das eigene "Selbst". Die "Ausarbeitung des eigenen Lebens als eines persönlichen Kunstwerks" (Michel Foucault) absorbiert Aufmerksamkeit wie Geschicklichkeit umfassend. Eine Diät vielleicht, den Lebensstil umkrempeln, damit "haben auf einmal vorher routinisierte Einkaufs-, Haushalts- und Küchentätigkeiten wieder einen tieferen Sinn, über den man sich stundenlang unterhalten kann" (Klaus Ottomeyer). Ein paar wenige betreiben auch die Kritik der Verhältnisse, so denn die Zeit dafür bleibt.

Das nagende Gefühl, (schon wieder) zu kurz zu kommen, zu verlieren oder umsonst so viel investiert zu haben - Gefühle, Geld, Geduld -, regiert auch und gerade im Zwischenmenschlichen. Selbst wo Größeres in der Luft liegt, kriegen wir es klein. Da bringen wir es in der Liebe zu wenig mehr als einem "Egoismus zu zweit" (Erich Fromm), beherrschen uns Eifersucht und Besitzdenken. Mein Heim, meine Frau, mein Kind, mein Auto, mein Gartenzwerg. Mein. Mein. Mein! Der exklusive Anspruch will verteidigt werden, machen die anderen ja auch so. Nur niemanden zu nahe rankommen lassen an den Gespons, es könnte eine Diebin sein.

Everyday Life

In kleinkrämerischen Endlosschleifen, in latent stressiger Atmosphäre ziehen die Tage dahin. Wir funktionieren so recht und schlecht, zumeist aber doch ziemlich gut - wir haben ja gute Gründe dafür. Fast wie in Trance spulen wir unsere tägliche Routine ab, manche sind buchstäblich vom frühmorgendlichen Weckerläuten bis zum Einnicken vor dem Fernseher dicht verplant. Bis über den Hals zugeschüttet könnte man es auch nennen. Ohne Bewegungsfreiheit. Da regt sich wenig Leben mitten im Leben, stattdessen herrscht Betriebsamkeit. Und Letztere darf nicht zum Stillstand kommen. Die kapitalistische Selbstzweckbewegung kennt allenfalls Leerlauf, aber kein Halten. Vor allem vor den Köpfen nicht.

Arbeit - Familie - Freizeit, die Sphären des Alltags bedingen einander maßgeblich. Gemeinsam sind sie wesentlich für den Selbsterhaltungsprozess der kapitalistischen Ökonomie. Produktion. Konsumtion. Reproduktion. "Die Lebenstätigkeit in der Konsumtionssphäre trägt zur Erhaltung und fortschreitenden Aufhäufung des Kapitals doppelt bei: einmal, indem sie die Arbeitskraft für den Fortgang der Mehrwertproduktion wiederherstellt, pflegt und repariert; zum anderen indem sie beständig die Gebrauchswerte der kapitalistisch produzierten Waren aufzehrt und somit - gesamtgesellschaftlich gesehen - die notwendigen Absatzmärkte für das Kapital sichert." (Klaus Ottomeyer: "Ökonomische Zwänge und menschliche Beziehungen. Soziales Verhalten im Kapitalismus", S. 115)

Das Dasein im Takt der Verwertung verlangt nach einem Ausgleich, die dafür nötigen Aufwendungen ketten uns alsdann erst recht an dessen Zwänge. Auf der steten Suche nach einem "gemeinsamen gegenständlichen Sinn des privaten Alltagshandelns" (ebd.) umgeben wir uns mit unzähligen "Ersatzgegenständen". Ein gemeinsames Projekt - der Traum vom Eigenheim (da kommt die Hypothek zu beider Lasten gleich noch obendrauf), die Brasilienreise will geplant werden oder auch nur das wiederkehrende Bemühen, die vorhandenen finanziellen Mittel und den verbleibenden Monatsrest einigermaßen in Übereinstimmung zu halten, ein neuer Kühlschrank steht an, der Kostenbeitrag für die Schulsportwoche - all das verbindet und lässt den Gesprächsstoff nicht ausgehen. Und erst recht die Kinder, wer braucht da noch nach dem Sinn des Lebens zu fragen.

Die eigene kleine Welt, sie hält ihre Demiurgen fortwährend beschäftigt und frisst einen Großteil der nach dem (nach Fortpflanzung zusätzlich) erforderlichen Broterwerb noch vorhandenen Energie. Was dann als Überschuss bleibt, ist verschwindend. Es kann kaum verwundern, dass der Drang, an den Zuständen zu rütteln, sich einerseits auf junge Menschen, vor dem Eintritt ins Berufsleben und Familiengründung, und auf der anderen Seite auf solche, die sich ein Quantum utopischer Hoffnung in ihre späteren Jahre gerettet haben, beschränkt. Die anderen haben schlicht "andere Sorgen".

My Little World

Familie ist so ziemlich sakrosankt. Es geht ja schließlich nicht nur ums Geld oder die Karriere im Leben. Familie haben, mindestens haben wollen, gilt geradezu als der Nachweis, dass eins nicht ausschließlich egoistische und materialistische Interessen verfolgt. Erscheint sie doch gleichsam als "ein Universum, in dem die normalen Gesetze der ökonomischen Welt aufgehoben sind" (Pierre Bourdieu: "Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns", S. 132). Und wer darauf verweisen kann, braucht auch weiter nichts zu erklären. Wer Familie hat, hat "das Privileg, zu sein, wie es sich gehört, der Norm zu entsprechen, also den symbolischen Profit aus der Normalität zu ziehen" (ebd.). Selbst in ihren heutigen Schrumpfformen ist sie ein wahres Konservierungsmittel und "eine der Hauptvoraussetzungen für die Akkumulation und Weitergabe von - ökonomischen, kulturellen, symbolischen - Privilegien. Die Familie spielt nämlich für den Erhalt der sozialen Ordnung, für die nicht nur biologische, sondern auch soziale Reproduktion, das heißt für die Reproduktion der Struktur des sozialen Raums und der gesellschaftlichen Verhältnisse, eine entscheidende Rolle. (...) Sie ist das wichtigste 'Subjekt' der Reproduktionsstrategien." (Ebd.) Mit dem Kollektiv-Subjekt Familie verfestigt sich gleichzeitig die soziale Schichtung ("die Großen haben große Familien", ebd. S. 133).

Mehrheitlich bilden sie heute geschlossene Gesellschaften im Klein(st)format, versuchen sich irgendwie durchzuwurschteln und bleiben dabei isolierter denn je. Kaum mehr als eine Art erweitertes Selbst. Dritte können bereits als Störung der privaten Sphäre wahrgenommen werden, sogar Freundschaften bleiben oft erstaunlich oberflächlich. Gelegentliche Grillabende, ein gemeinsamer Urlaub ist schon viel, echte Teilhabe selten, so sie nicht als Einmischung überhaupt zurückgewiesen wird. Eins - und seien das zwei oder drei oder fünf - bestellt den je eigenen Schrebergarten und hat damit mehr als genug zu tun. Probleme bleiben individualisiert und werden im Gespräch mit der besten Freundin psychologisch schlüssig erklärt. (Aus der Beziehung zur Mutter, vermutlich.)

Das Bedürfnis nach emotionaler Geborgenheit, Vertrautheit, Füreinanderdasein, der liebevolle Blick auf den Mitmenschen, sie sind nur innerhalb der privateigentümlich ausschließenden Beziehungen gerne gesehen. Andernfalls treffen sie auf Argwohn.

Kraft zur gesellschaftlichen Veränderung ist daraus nicht zu schöpfen. Umso mehr bleiben allesamt an den systemischen Irrsinn gefesselt. Den Kindern und den Enkelkindern wird es nicht besser gehen. Vielleicht fragen sie einmal, warum wir uns nicht irgendwann zusammengetan und uns gewehrt haben? Vielleicht fragen sie nicht einmal.

*

Minimalismus - eine individuelle Notwehrmaßnahme

von Martin Taurer

Die kolossale Palette an Produkten, welche überall dort, wo zahlungsfähige Kundschaft winkt, in Stellung gebracht wird, erscheint als eine ungeheure Herausforderung für die um Strukturierung und Einschätzung bemühten Adressaten.

Für professionalisierte Einkäufer in unternehmerischen Strukturen ist die Profitmaximierung die definierte Zielsetzung, welche auf vergleichsweise überschaubaren Märkten als Kompass dient.

Am Ende der Verarbeitungs- und Veredelungsprozesse, wenn es auf den finalen Absatz der Ware ankommt, ist betriebswirtschaftliche Kalkulation jedoch nicht mehr das entscheidende Kriterium für die Kaufentscheidung. Um einen Abnehmer zu finden und damit den Zweck der Realisierung des Gewinns erfüllen zu können, wird tief in die Trickkiste psychologischer Manipulationen gegriffen. Bedürfnisse werden erweitert oder konstruiert, Sehnsüchte werden erkannt und bedient. Mit Nuancen der Abwandlung bereits vorhandener Angebote wird versucht, eine höhere Gewinnmarge gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Falls sich fernerhin andere Anbieter positioniert haben (und keine gewaltsame Verdrängung möglich ist), muss mit kreativen und herausragenden Produktpräsentationen um Aufmerksamkeit gebuhlt werden.

Solcherart umworbene Konsument*innen werden mit einer stetig anschwellenden Unmenge an Gegenständen, Dienstleistungen und Optionen konfrontiert. Die permanente Reizung aller Sinne ist die logische Konsequenz des an Tempo und Intensität zunehmenden Kampfes um Kundschaft. Shopping ist Freizeitgestaltung und soll das verlorene Glück und die Verausgabungen während der Arbeit kompensieren. Wohnräume, Keller, Dachböden und Lagerabteile werden mit Dingen angefüllt, auf Festplatten und in Clouds sammeln sich Bücher, Musik und Filme an, Urlaube werden gebucht und Fitnessprogramme absolviert.

Manche eifrige Käufer*innen überfordern sich selbst in dieser manischen Inanspruchnahme der eigenen körperlichen und psychischen Potenzen. Dergestalt in die (oftmals eben vordergründig dem Kauf- und Konsumverhalten nachfolgende) Burnout-Falle getappt, kann die Lebenskrise existenziellen Charakter annehmen. Äußere Fülle und innere Leere sind die bezeichneten Erscheinungen der als persönliche Unzulänglichkeit empfundenen Strapazen der gesellschaftlichen Monade. Wo die Niedergeschlagenheit in der Art und Weise alltäglichen Ver- und Gebrauchs von Gütern und Leistungen verortet wird, bietet konsumkritisches Verhalten Aussicht auf Erlösung. Der frischeste Ausdruck dieser (keineswegs neuartigen) Reaktion auf die aufgedrängte Sinnstiftung als Abnehmer von Warenangeboten ist die Denkart des Minimalismus.

Ich will hier raus

Was hat es damit auf sich? Anders als bei den schon länger etablierten Formen des sogenannten kritischen Konsums (Fair Trade, Clean Clothes, biologische Landwirtschaft, regionale Produkte ...) spielen gesellschaftspolitische Ansprüche, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle. Theorie oder Kritik wird nicht benötigt, Ratgeber-Literatur ist das Mittel der Wahl. Beispielsweise "Simplify your life" oder "Die Wohnungsdiät" sind zugehörige Titel, Tipps und Tricks werden in zahlreichen Blogs im Internet ausgetauscht. In seltenen Fällen lässt sich auch eine selektive Fromm-Rezeption finden, welche sich auf sein Buch Haben oder Sein beschränkt. Minimalismus zielt auf individuelle Befreiung ab, will Ballast abwerfen, Hab und Gut reduzieren und Platz schaffen. Die ausrangierten Gegenstände können vernichtet, verkauft, getauscht oder verschenkt werden, im Vordergrund steht die Beseitigung aus dem eigenen Leben und nicht die anschließende (Nicht-)Nutzung. So kann die persönliche Entledigung von der Last der Dinge in Summe durchaus einen Mehraufwand nach sich ziehen, beispielsweise wenn das Reisegepäck an den Urlaubsort gesandt und die Bürde somit delegiert wird. Durch die Entrümpelung des Haushalts sowie Enthaltsamkeit im Konsum soll ein Lebensgefühl forciert werden, welches Leichtigkeit verspricht. Strikte Regeln beim Prozess des Ausmistens sind in aller Regel unerwünscht. In welchem Umfang und Zeitrahmen sich die Reduktion bewegt, soll der Entscheidung der einzelnen Menschen überlassen bleiben, Selbstbestimmung und Zwanglosigkeit werden betont. Nichts muss, alles kann. Wo ein Wille, da ein Weg. Wo Krise war, soll Freiheit sein.

Ich mach da nicht mehr mit

Und tatsächlich. Während gesellschaftliche Transformationsperspektiven bei Minimalist*innen für gewöhnlich noch nicht einmal in Erwägung gezogen werden (können), kann dem Symptom des Überdrusses hier konkret begegnet werden. Wenn Folgeerscheinungen der zugrunde liegenden Gesellschaftsformation vernichtende Wirkung auf den einzelnen Menschen haben, ist Symptombekämpfung plausibel. "Was brauch ich wirklich? Was will ich eigentlich?", so lauten die keineswegs selbstverständlichen Fragen, welche sich das geläuterte Subjekt nun (erstmals) stellt. Dem als private Krise erlebten Kollaps der eigenen Lebensführung soll mit einer ebenso persönlichen Neuorientierung begegnet werden. In einer mehr oder weniger rigorosen Umstrukturierung des eigenen Alltags wird die Flucht nach vorn gewagt. Der Umkehrschluss ist stets: Wenn das Glück nicht in der Ausreizung konsumtiver Expansion gefunden wurde, ist die Reduktion der Weg zum selbigen. Als Ausweg aus der Sinnkrise wird das eigene Leben zum Experimentierfeld, Möglichkeiten des Verzichts werden ausgelotet.

Hier wird der Monotonie des Kreislaufes von Kaufrausch und Frustration ein Schnippchen geschlagen, ein neues, bisher unbekanntes Abenteuer beginnt. Wo gescheiterte Konsument*innen sich der gängigen Kriterien und Präferenzen wie Preis, Stil, Label, Nützlichkeit oder Exklusivität möglicherweise unzureichend bedienten und sich also kontinuierlich im Konsumwahn erschöpften, bekommen Minimalist*innen nun gleich den ultimativen Maßstab zur Entscheidungsfindung an die Hand. Wird das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet und die Mentalität des "Weniger ist mehr" nicht ideologisch überhöht, bedeutet das Entspannung. Im Zweifelsfall grundsätzlich Verzicht zu üben, wird angesichts der Fülle an zweifelhaften Waren zum Befreiungsschlag.

Ich kann auch anders

So oder so, frischgebackene Minimalist*innen sind erst einmal mit sich selbst beschäftigt und das ist ja auch der erklärte Zweck der ganzen Veranstaltung. Es gilt, sich auf das Wesentliche zu besinnen. Was das sei, liegt im eigenen Ermessen. Der Verlauf des Reduzierens aller Besitztümer kann plötzlich, schubweise oder kontinuierlich vonstattengehen. Es kann Jahre dauern, bis sich das Gefühl einstellt, angekommen zu sein. Der Blick richtet sich intensiv auf den je eigenen Mikrokosmos, unverhältnismäßige Selbstkritik (Stichwort: innerer Schweinehund) bildet den Ersatz für Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Die Parallelen zu esoterischen Konzepten sind offensichtlich, häufig befassen sich Minimalist*innen auch mit Zen-Buddhismus, Feng Shu und Ähnlichem.

Einen weiteren großen Strang bildet die Selbstzurichtung als effizientes Konkurrenzsubjekt. Mit der Stoppuhr in der Hand werden frei gewordene Zeitressourcen bewertet und neu investiert, Ersparnisse bei Wartung, Anschaffung und Entsorgung diverser Produkte bestätigen die kalkulierenden Marktteilnehmer*innen in dem gefassten Entschluss. Der eigene Alltag wird detailliert nach Verschwendung und Überfluss durchleuchtet, mit betriebswirtschaftlichen Methoden und eiserner Disziplin sollen das qualitative Optimum und das quantitative Minimum ermittelt werden. Das beim großen Ausmisten nicht nur materieller Besitz, sondern auch Beziehungen zu anderen Menschen einer Prüfung unterzogen werden, ist hier besonders relevant. Bekanntschaften, welche zu wenig Benefit bringen, werden höflich (unter Berufung auf die konzeptuelle Lebensführung) beendigt. Diverse Coachs sowie Beratungsunternehmen haben den Trend längst erkannt und bedienen sich diverser Versatzstücke des Minimalismus. Die immer wiederkehrende Betonung des undogmatischen, selbstbestimmten Zugangs beim Entrümpeln des eigenen Lebens bietet hierbei Interpretationsspielraum für mannigfaltige Variationen entlang des Leitmotivs. Anders als beim sogenannten Downshifting, also der Verringerung der Arbeitszeit, um Bestrebungen abseits des Verwertungsdrucks zu pflegen, taugt Minimalismus auch als reines Instrumentarium zum Zwecke der Ausdehnung des eigenen Leistungspotenzials.

Ich weiß, was ich will

Des Weiteren bietet sich auch ein gerne genutztes Spielfeld für Selbstgefälligkeit und prahlerische Darbietungen. In hippen Video-Blogs werden entleerte Wohnungen zur Schau gestellt. "Weniger ist mehr (Prestige)", lautet die Losung einer typischen Room Tour durch die aufgeräumten, akzentuierten Einrichtungswelten der Minimalismus-Koryphäen. Weiß ist meist die Farbe der Wahl, demonstriert werden Stilsicherheit und konzentrierte Kongruenz. Die Authentizität, welche aus der harmonischen Einheit von Lebensführung und Habseligkeiten bezogen wird, zeugt von der Sehnsucht nach Versöhnung mit der Warenwelt. Die aus intensivem Nachsinnen resultierende Auswahl der mehr oder weniger wenigen verbliebenen Gegenstände bietet mehr Identifikationsfläche als die einstmalige Opulenz. Es wimmelt von Produktempfehlungen, Produktempfehlungen, Präsentationen, Liebhaberstücken und Rezensionen.

Ich hab das nicht mehr nötig

Dennoch. Das erklärte Ziel ist erreicht, der Ausbruchsversuch aus erdrückendem Overkill partiell geglückt, die Notbremse wurde gezogen. Im Gegensatz zur unattraktiven Wehrlosigkeit einer kritischen Theorie der Gesellschaft gegenüber der realen Macht der Institutionen bietet das Schema Minimalismus den übersättigten Teilen der Weltbevölkerung leichte Kost und simple Handlungsanleitungen mit Aussicht auf konkrete Selbstermächtigung. Wo krisenhafte Erscheinungen unterschiedlicher Art zur ständigen Begleitung der alltäglichen Wahrnehmung geworden sind und apokalyptische Szenarien ein beliebtes mediales Genre bilden, kann auf diese Weise ein Gefühl der Sicherheit generiert werden. In krasser Verkennung der sozialen Interdependenz und gesellschaftlichen Eingebundenheit bietet partieller Konsumverzicht ein Gefühl von Unabhängigkeit. Abstinenz zu lernen, erscheint dann als Vorbereitung auf kollabierende Produktionsketten und ähnliche Szenarien. Infolge dieser Überschätzung der individuellen Geltung wird der realen Ohnmacht eine Pseudomacht entgegengesetzt, hier zeigt sich eine Schnittstelle zu anderen konsumkritischen Spielarten.

Gerade weil Minimalismus die persönliche Alltagsgestaltung fokussiert und gesellschaftspolitische Visionen außen vor lässt, kann hier auf die typischen Feindbilder wie beispielsweise Großkonzerne oder personifizierte Kritik verzichtet werden. Da die Probleme auf das eigene Konsumverhalten zurückgeführt werden, gilt es also (neben der Selbstbefreiung), mit gutem Beispiel voranzugehen. Nach Produktionsverhältnissen wird kaum gefragt, Warenfetisch oder Verblendungszusammenhang sind ohnehin kein Thema.

*

Alltag. Stillhalten, Gedankenlosigkeit und Verdrängung.

Notizen aus dem Vorbewussten

von Karl Kollmann

"Du lebst. Erinnerst du dich?" - erst wenn ein Baumarkt in seiner Werbung so hinreißend formuliert, rumort es ein bisschen im Kopf, eine Art gedankliche Blähung mit werblich angestupstem, kurzem Innehalten. Von selbst kommt man da selten drauf - einfach zu viel Alltag. Marx hat zwar dichte Daten zur Entlohnung und den Arbeitszeiten in den Fabriken des neunzehnten Jahrhunderts gesammelt, sich darüber hinaus jedoch kaum für das tägliche Leben der Zeitgenossen interessiert. Das war ebenso bei den ihm nachfolgenden Linken meist ausgeblendet, sieht man einmal von Herbert Marcuse oder Erich Fromm ab. Anders bei den Bezugsgrößen der Konservativen und Rechten. Heideggers "Sein und Zeit" ist ein solches Kondensat des Denkens über den Alltag in ziemlich verschwurbelter Sprache; Freuds kulturpsychologische Schriften, Georg Simmels Arbeiten zu Geld und Großstadt, oder Berger/Luckmanns "Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" mit den alltäglichen Konversationsmaschinen sind da weitaus näher an die Lebenswelt der zeitgenössischen Menschen gerückt, ebenso war Bourdieu sehr nah am Alltag, aber links war er nicht.

Warum interessiert sich "die Linke" so wenig für alltägliche Verhältnisse, sieht man von arbeitsökonomischen Gegebenheiten (Lohn, Arbeitszeit) ab? Wer ist denn überhaupt heute noch links? Die rosagrünen LOHAS und BOBOs mit selbstgefälliger Gutmenschen-Attitüde sind es definitiv nicht - das sind modisch verbrämte Konservative. Politische Korrektheit ist ihnen ein kleines blockwartähnliches alltägliches Herrschaftsinstrument, eine Sprachpistole die bei Bedarf aus der Tasche gezogen wird: "Nazi", "Unmensch", "Kaltland, du mieses Stück Scheiße". (Twitter;@verdachtsmoment). Fangschuss! - das war es dann schon.

Die sozialdemokratischen Parteien haben bereits in den 1980er Jahren auf oligarchische Machterhaltungsstrategien umgeschwenkt und ihre alte Klientel zu Wahl-Konsumenten degradiert. Angepasst an die Logik von Marktgesellschaft und Spätkapitalismus - für Nachdenken, Machtdistanz und längerfristige Ziele nahm sich niemand mehr Zeit. Dazu kommt eine beeindruckende NGO-Industrie, statt der Stimme geht es da halt um die Spende. NGOs sind heute überall, wo mediale Aufmerksamkeit winkt, Flugkosten oder authentische Umweltfragen spielen keine Rolle. Überhaupt ist für gesellschaftlichen Fortschritt kein brauchbarer Akteur in Sicht, es gibt ihn einfach nicht, die Unzufriedenen bleiben rechten Kräften überlassen.

Verwaltete Menschen

Bürokratie, also Verwaltung des Einzelnen durch die Obrigkeit und der Handel (Wirtschaft) führten zur Entwicklung der Schrift in Mesopotamien und Ägypten. Zählen, Einteilen, Ordnen sind Unterwerfungsmechanismen innerhalb jedes sozialen Gebildes. Aber zur Bürokratie haben Linke seit jeher ein gestörtes Verhältnis, wie David Graeber beobachtet hat, oft vergötzen sie diese geradezu. Dabei sind kapitalistische Unternehmen mittlerweile exzessive Verwaltungskolosse, und staatliche Bürokratien verstehen sich betriebswirtschaftlich sowie kundenfreundlich. Und, brechen wir gleich noch ein anderes sogenanntes linkes Tabu: die Obrigkeit, also heute der Staat, verdient an der Ausbeutung eines durchschnittlichen Arbeitnehmers mehr, als das Unternehmen, bei dem dieser beschäftigt ist. Steuern - nichts anderes als der Obolus an die bürokratische Herrschaft - zahlen wir selbst dann, wenn wir mildtätig gewährte Sozialhilfe beziehen.

Überhaupt bräuchte es einen anderen Blick. Die meisten Menschen arbeiten erwerbswirtschaftlich, also gegen Geld, und ein großer Teil des Ergebnisses davon ist ein Tribut an die Institution, die uns beherrscht und wo man ab und zu die herrschenden Protagonisten auswählen darf. Früher kassierte der Fürst, heute der Nationalstaat: Umsatzsteuer, Lohnsteuer, Mineralölsteuer, Grundsteuer (zahlen auch die sog. kleinen, armen Mieter), Tabaksteuer, usw. Praktisch wenn die meisten Leute einen guten Sinn darin sehen - solche eigentümlichen Wahrnehmungsmuster hätten sich frühere Gewalthaber sehnlichst gewünscht, eine Gruppe von kreuzbraven christlichen Masochisten, die Verständigkeit für herrschaftliche Tribute haben, besser noch calvinistische Masochisten, denn da dürfen die Braven und Erfolgreichen auch ihren Luxus genießen. Staaten sind raffgierige Gebilde, wenn man die Eliten machen lässt. Eine parteiendemokratische Struktur mit fünfjährigen Wahlzyklen verhindert da nur die besonders großen Exzesse, Menschen gewöhnen sich an vieles schnell und vergessen rasch. Die Medien mit ihrer heute inhärenten Sekundärwirklichkeitsbeschleunigung, dem Aufblasen von Nuancen, der Skandalisierung, den falschen Maßstäben (sind jetzt 0,7 Prozent Inflation wenig oder viel?) sorgen dafür. Zuverlässig.

Schlafwandelnd

Wenn über Alltag gesprochen wird, sollte zuerst etwas über die platte Vertrautheit und die fehlende Fremdheit des Alltäglichen gesagt werden. Wir sind intensiv darin geschult worden, die unendlich vielen Routinen der Lebenswelt halbwach, schläfrig, wie automatisiert zu durchlaufen. Verhaltensmechanisch auf endlos scheinende Spielregeln unserer Lebenswelt zu reagieren, schlafwandelnd vom Wohnplatz durch die Straßen zum Arbeitsplatz zu gehen oder zu fahren und dort dann in dessen mühevoll erlernte Gewohnheiten einzutauchen wie schon zuvor und danach zu Hause. Nur wenn etwas völlig Ungewohntes passiert, wachen wir aus dieser Anpassung auf, dann wird es fremd, unsicher, fragil und bestürzend.

Ein Kind, das ohne Kenntnis von Geburt und Tod durch die Wirklichkeit geschleust wird und dem zugleich Kindergarten und Schule nicht als fremde, feindselige Außenwelten erscheinen dürfen, ist existentiell schon von vornherein gebrochen und zurechtgerichtet für eine schön inszenierte Verwaltungswelt, für den modernen Überwachungsstaat und seine spätkapitalistische Wirtschaft. Man darf gelegentlich Parteien auswählen, ähnlich wie die Marke des Jogurts oder des Waschmittels.

Das Produkt sind Menschen, die mit Frustrationen nur schwer umgehen können und damit wenig Chance haben, sich mit dem System der Gesellschaft kritisch auseinanderzusetzen, etwa Besseres oder gar Anderes zu wollen. Nichtsublimierbare Unzufriedenheit schafft Destruktion, soviel sollte übrigens zur Kultur bekannt sein.

Nachdenken schadet nicht, es tut auch nicht weh, heißt es manchmal. Jedoch, das stimmt nicht: Reflexion ist meist schmerzhaft. Wenn einer oder eine über die vielen vertanen Chancen auf ein gelungenes Leben in einer nicht glückenden Gesellschaft - und dass das überhaupt ganz anders sein könnte - nachdenkt, macht das depressiv und verzweifelt. Mit Reflexion verhält es sich ähnlich wie mit plötzlichen existentiellen Einschnitten: die platte Vertrautheit des Alltags implodiert und verkehrt sich in feindselige Fremdheit, man stolpert, verletzt sich, blutet. Die geschmeidige ruhige Routine zerbricht, darum lohnt sich Reflexionsvermeidung für den Funktionsapparat in uns. Die Zerstreuungsmöglichkeiten, die Reflexives abhalten oder eindämmen, sind daher unendlich mannigfaltig wie gewinnträchtig geworden.

Unrast

Ablenkung braucht es nicht nur bei großen existentiellen Brüchen. Ohne wiederkehrende Zerstreuungsformen wird "Alltag" schnell fad, langweilig, Unruhe macht sich breit. Man spult seine eintönigen Routinen dösend, und mit matter, ganz eingeschränkter Wahrnehmung lustlos ab. Nur aufs Wochenende konzentriert sich die Aufmerksamkeit, auf Events, Ereignisse, Erlebnisse, Abenteuer, Neues jenseits vom wochentäglichen Einheitsbrei. Die Alltagsseele weiß das schon - es wird schrecklich werden bis 65 und länger das alles auszuhalten, auch wenn die Arbeitsumstände und Arbeitsorte vermutlich schneller wechseln werden, als einem dann lieb ist. Irgendwie flüchtet man immer vor dem eigenen Tod. Und den Arbeitstagabenden.

Hoffnung konzentriert sich auf die drei Wochenendnächte, vorausgesetzt man hat das nötige Kleingeld fürs Feiern. Und natürlich die Urlaube. Ein großer und vier Wochenendflüge; nach ein, zwei Jahrzehnten funktioniert oft nicht einmal das mehr. Unruhe, Langeweile, Unzufriedenheit und Müdigkeit werden so zu grundsätzlichen Gemütslagen, wie schon bei Schnitzlers Großbürgern vor hundert Jahren.

Gäbe es nicht diese Vielfalt und Pseudovielfalt aus konsumierbarer Unterhaltung, Kaufgelegenheiten, Besorgungen, Arbeit, anderen Verpflichtungen, Fahrtzeiten, Wartezeiten und materiellen Erwartungen oder Hoffnungen, diese vielen fatalen Aussichten auf Neues, dann würde schnell das Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit, Zerriebenheit und Entfremdung offenbar werden. Was alsdann aber nur mit viel Alkohol oder Valium auszuhalten ist - die Banalität des Alltäglichen und Farblosen lugt ohnedies schon aus jeder Ritze hervor und macht Kopfschmerzen.

Unterschreitungen, alltäglich

Es genügt, sich einfach umzusehen: Das Wohnzimmer ist wie immer schon seit Jahren, es ist nicht so schön, wie die Fernseh-Wohnzimmer. Die Wohnung zu klein, zu billig, zu laut; das Stiegenhaus dreckig. Die Straße lärmt, die Dieselautos stinken. Die Umgebung ist abgewohnt - jeden Tag das Gleiche, alles wiederholt sich, nichts wird besser, anders, neu. Nachbarn bleiben Nachbarn und man entkommt ihnen nicht einmal durch Umzug, die Aggressivität der Autofahrer und ebenso der Radfahrer bleibt, geradeso wie die müden und ungewaschenen Benutzer der U-Bahn, die gierigen und abwechslungslüsternen Konsumenten in den Einheitsgeschäften. Dazu die tägliche Frotzelei an den Tankstellen mit ihrem stündlichen kleinen Preiswechselspielchen. Das Service der Heizungstherme steht an, die Kaffeemaschine ist defekt, man benötigt ein paar neue Hemden, da sich die alten auflösen, die Kniegelenke schmerzen. Unendlich viele Verrichtungen um den Alltag halbwegs aufrecht halten zu können. Und dazu die Plattheit der vielen Fernsehkanäle, das "Mitten im Leben" ist zur Bankenwerbung verkommen und Heimat bleibt ein Wort, das man unter rosagrünen Freunden nicht in den Mund nehmen sollte, außer man heißt van der Bellen und es ist Wahlkampf.

Am Arbeitsort wachsen zwar die Anforderungen, die farblosen Gestalten bleiben indes gleich. Cholerische Chefs, die Arroganz der vielen Wichtigtuer und die Banalität der Sätze, mit denen sie die Umgebung herumschubsen, moderne Sklaven. Und alle versichern sich wechselseitig der Achtsamkeit und des Respekts voreinander, auch die Armee der Intriganten, die es überall gibt. Zögerlich und müde bewegt man sich in diesem dunkelgrauen Kosmos der Alltagsbrühe, alles bleibt banal, abgenutzt, erschreckend, widerwärtig und hoffnungslos.

Staatliche Überwachung und schwarze Ritter

Kapitalismus, Bürokratie und das Techniksystem sind alle miteinander arrangiert und ziemlich gleich schlimm. Alle Bürger werden mittlerweile halbwegs überwacht und die Raster werden zusehends enger. Das rechtfertigt für Politik und Bürokratie der Terrorsektor des modernen Islam und da sich die Menschen vor Terror fürchten, akzeptieren sie alles, was scheinbar Schutz verspricht. Mit jedem Terroranschlag wird dieses Überwachungsnetz dichter und das kontinuierliche Versagen von Polizei und Geheimdiensten bleibt kaschiert durch heute oder künftig plausible technische Möglichkeiten. Bei der persönlichen Sicherheit, auch der des eigenen Schrebergartens, hat die Polizei - jene nationalstaatliche Bürokratie, der es erlaubt ist, die Einhaltung der Gesetze mit Gewalt bis zum Tod durchzusetzen - versagt, aufgegeben, darum investieren Menschen zwangsläufig Unsummen in Alarmanlagen, Sicherheitstüren und persönlicher Bewaffnung. Sicherheit ist nun weitgehend privatisiert, Europa wird zusehends USA.

Dennoch werden die Kriminalkommissare mehr, im Fernsehen vor allem: Massenmediale Unterhaltung zelebriert Kriminalität und bereitet die Zuseher damit auf die neuen Wirklichkeiten vor. Und immer, seit vielen Jahren schon, sind die vermummten Sonderkommandos dabei. Sie vervielfachen sich, moderne schwarze, anonyme Ritter, die mit ihren Maschinenpistolen das Verbrechen bestrafen, den Aufrührer eliminieren und das Publikum erlösen. Nahezu nahtlos geht das über in die Wirklichkeitsberichterstattung. Wirklichkeit gibt es hauptsächlich nur als Simulacrum (Jean Baudrillard), als virtuellen Nebel- und Schutzschirm.

*

2000 Zeichen abwärts

Wie reden?

Mit den meisten Menschen hab ich so meine Probleme. Ich würd sie alle gern viel lieber mögen und auf jeden zugehen und lächelnd grüßen und fragen, ob wir nicht gemeinsam was spielen oder basteln könnten oder den Kapitalismus kritisieren.

Nur, zu den meisten entwickle ich aktuell nicht viel Sympathie, und daher fehlt mir dann der Mut, ein solches Gespräch zu beginnen. Ich spüre eher Abneigung. Die wirken alle so gestresst, so ängstlich, so durchs Dasein gepeitscht, oder sie versprühen Hass und Zorn auf die "Schuldigen". Ich trau den meisten eigentlich schwer zu, sich auf Freude, Neugier und Spaß einzulassen. Und ohne das wird's schwierig, gemeinsam Kleiderkästen zu bauen oder vom guten Leben zu träumen.

Der Theoretiker in mir erklärt mir dann, die wären doch gern viel sympathischer und würden sich fürs gemeinsame Erdäpfelanbauen, Samenziehen und Ernten begeistern, oder fürs Handyzusammenbauen. Aber das Kapital macht aus ihnen diese verängstigten Hüllen, denen so was viel zu unsicher ist. Lauter Masken umgeben mich. Selber trag ich auch eine.

Der Theoretiker schlussfolgert: "Als Maske bist du ein Substanzlieferant für die Kapitalverwertung, und deswegen sollst du deine Identifizierung mit dieser überprüfen." Blöderweise kann man so aber nicht auf die Menschen zugehen. Denn auf einer anderen Ebene bedeutet der Satz: "Du kapierst gar nichts, nicht einmal, wer du selbst bist und wem du dienst. Ich aber weiß das und bin daher viel intelligenter als du." So eröffnet man keinen Dialog, sondern ein Herrschaftsverhältnis.

Zu suchen gilt es kommunikative Möglichkeiten, die es der Maske erlauben, von selbst die Identifizierung mit der Verwertung zu erkennen. Ich kann mir vorstellen, dass eine auf diese Weise gewonnene Erkenntnis ein Handlungsgrund für Veränderung ist.

Möglicherweise ist die Hebammenkunst des Sokrates ein guter Ratgeber, um in hilfsbereiter Manier die Masken zum Nachdenken zu bringen. Besser als der Besserwisser erscheint sie mir zumindest im Moment.

M.Sch.

*

Der Kapitalismus und du*
Fragmente einer Kritik des bürgerlichen Alltags

von Franz Schandl

Meistens ist man im Alltag, ansonsten wäre er nicht dieser. Alltag kann beschrieben werden als die konventionelle Fortsetzung des jeweiligen Daseins. Im Alltag geht man nicht über sich hinaus, sondern findet immer zum Gewohnten zurück. Das Gewöhnliche ist so sein zentrales Kennzeichen. Der Alltag beschreibt also das Allgemeine, nicht die Besonderheiten. In seinem Zentrum stehen das Reproduktive und Regelmäßige. Der Alltag ist das Stets, aber nicht das ununterbrochene, sondern das unterbrochene. Was im Leben gehört nicht zum Alltag? Taxativ wird einem da einiges einfallen: Die Geburt etwa, der Tod, diverse Feste, Hochzeiten, außergewöhnliche Ereignisse, Katastrophen, aber auch Lust und Liebe, wenngleich nicht alle Abgrenzungen strikt vorgenommen werden können. Indes ist das Allgemeine durchaus spezifisch. Drüber mehr im folgenden Beitrag.

Alltägliche Erschöpfungen

Der Alltag als der erscheinende Rest der das Wesentliche sinnlich überdimensionierenden objektiven Tatsächlichkeiten und subjektiven Vollzugspflichten ist die träge Aufdringlichkeit schlechthin. In seiner penetranten Art des Daseins lässt er kein Entfliehen zu. Jedem Entzug folgt die Heimholung. Alltag nennt sich die Pflichterfüllung der eigenen Existenz. Er zwingt uns zu konstruktivem Verhalten in einem destruktiven Gesamtzusammenhang. Unser Widerstand ist lächerlich gegen das, was wir durch unser tägliches Walten und Werken dazu beitragen. So gesehen ist der Begriff des Verhaltens überhaupt eine schamlose Übertreibung, setzt er doch voraus, dass dieses aus Überlegung und Entscheidung, also in Selbstbestimmung möglich ist. Das stimmt nur äußerst bedingt, bloß innerhalb der herrschenden Bezüglichkeitssysteme, nicht gegen sie.

"Es ist ein Wesenszug der Pragmatik des Alltagsdenkens, dass die Denktätigkeit nichts anderes als die gedankliche Vorbereitung dringlicher alltäglicher Handlungen bzw. die Reflexion bereits erfolgter Handlungen ist", schreibt Agnes Heller in ihrem Buch "Das Alltagsleben" (Versuch einer Erklärung der individuellen Reproduktion (1970), übersetzt von Peter Kain, Frankfurt am Main 1978, S. 259). Die Frage nach dem Warum bleibt zumeist ungestellt. Wichtig ist nicht ein Wissen, was warum ist, sondern das Wissen, wie etwas geht. Es ist nicht leicht, einen wirklich reflektierten Bezug zu seinem Alltag zu entwickeln. Im täglichen Müssen, der Praktizierung des Daseins ist das überhaupt unmöglich. Im Alltag verhält man sich opportunistisch, seine Vernunft ist jene der Gelegenheit. Es geht immer um die unmittelbare Adäquanz. Das Verhältnis ist affirmativ, nicht kritisch. Das Gedachte verlässt selten das Niveau der Erfahrung. Die individuelle Erhaltung zeitigt die individuelle Haltung.

Der Alltag ist stets eine unmittelbare Aufforderung, keine mittelbare Herausforderung. Er duldet keinen Widerstand. Mit ihm ist kein Hinauskommen möglich, sein Ziel ist nichts anderes als die Reproduktion. Der alltägliche Gebrauch führt zu den Gebräuchen des Alltags. Das Praktizierte erscheint nicht als historisch bestimmt, sondern als krude Daseinsweise. Das ihr Spezifische geht in dieser Allgemeinheit völlig unter, kann in seiner Besonderheit gar nicht mehr wahrgenommen werden. Die tägliche Erschöpfung ist wahrlich der Zustand, der uns um den Verstand bringt. Der Mensch, das ist ein Alltagsautomat, der seinen Geschicken als Diener folgt. Nicht umgekehrt!

An nichts ist man so gewöhnt wie an das Gewöhnliche. "Das Morgige, dessen das alltägliche Besorgen gewärtig bleibt, ist das 'ewig Gestrige'", sagt Heidegger (Sein und Zeit (1927), Tübingen, 16. Aufl. 1986, S. 371). So wie es ist, ist es gewesen, so wird es werden und vor allem: so soll es ja auch bleiben! Alltag meint die Ziellosigkeit des Gewöhnlichen. Die notwendige, immer wiederkehrende Einlösung ein- und derselben Abläufe. Für das einzelne Individuum ist er die zweite Natur in ihrer puren Form.

In den Niederungen der Erfahrung

Welt des Alltags ist eine der Erfahrung. Detto dessen Denken. Dieses Denken, das in den Erfahrungen des Alltags hängen bleibt, sich in seinen Maschen verfängt, nennt man positivistisch. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es sich naiv und unmittelbar zu den kapitalistisch konstituierten Vorgaben und Begriffen verhält, sie unkritisch als gegeben hinnimmt. "Dieser Alltagsverstand bewegt sich auf der Oberfläche der Alltagserfahrung, auf der Ebene des 'Tatsachen'scheins, der das Wesen und das Wesentliche verschleiert, für den Alltagsmenschen unkenntlich und unverständlich macht. Sowohl für diese Alltagshaltung wie für deren theoretische Reflexion trifft der - auf eine nicht zu leugnende, oft subtile Weise - von den theoretischen Akteuren selbst gewählte Begriff des 'Positivismus' zu. Der Alltagsmensch, erst recht der in das empiristische Räderwerk eingespannte Arbeiter, ist notwendiger- und gezwungenermaßen Positivist. Das Durchschauen des Alltagsscheins ist ihm fremd, es würde das Bestehende transzendieren und dem Menschen die Fähigkeit rauben, sich anzupassen, mitzumachen, zu funktionieren, wie es ihm die ihm angetane Funktion in einem System der Selbstreproduktion der repressiven Ordnung abverlangt. Ein auf Totalitätsdenken beruhendes Durchschauen der Verhältnisse würde die für das Funktionieren unerlässliche Bedingung der Identifikation mit wesentlichen Einrichtungen der bestehenden Ordnung unmöglich machen. Identifikation in irgendeiner Form ist in jeder Gesellschaft unvermeidlich und notwendig", schreibt Leo Kofler. (Zur Kritik der "Alternativen", Hamburg 1983, S. 41)

Erfahrung ist bloß ein passives Hinnehmen, ein In-Sich-Aufnehmen des Geschehens, ja noch mehr: ein Darin-Aufgehen. Es ist übrigens kein Zufall, dass die abgekürzte Form des Darin-Aufgehen nur das Draufgehen sein kann. Erfahrung verlässt die Form des Passivs niemals als Negation, sondern bloß als sich ständig wiederholende Positionierung des Vorgefundenen. "Die Tätigkeitsformen des Alltagslebens haben die größte Affinität zur Passivität", schreibt Agnes Heller (S. 89). Robert Musil fasste genau das unter der Formel des "aktiven Passivismus, dessen man unter Umständen fähig sein muss!" (Der Mann ohne Eigenschaften I. (1930), Reinbek bei Hamburg 1987, S. 368).

Es ist ein Kennzeichen der Erfahrung, dass sie über das Herkömmliche nicht hinauskann und hinauswill. Das gilt paradoxerweise sogar dann, wenn die Handlungen schon selbst einen anderen Charakter angenommen haben. Erfahrung ist Beschränkung des menschlichen Geistes auf das, was sich ihm täglich aufzwingt. Ihr Denken ist ein Registrieren und Speichern. Ihr Verarbeiten dient der Pflichterfüllung. Erfahrung stellt ab auf Realität. Doch Realität ist immer bloß der metaphysische Entwurf der Wirklichkeit. Etwas Abgeschnittenes, Losgelösten, Getrenntes. Jene soll akzeptiert werden in ihrem kruden Dasein, nicht als bestimmte oder bestimmbare Möglichkeit, sondern will als eherne Notwendigkeit aufgefasst sein.

Erfahrung zeitigt konservatives, weil konservierendes Wissen und Bewusstsein. Dieser Konservativismus hat meist einen einfachen Grund: Die Menschen wissen, was ist, sie wissen aber nicht, was kommt. Solange es erträglich und unausweichlich erscheint, wird Bekanntes Unbekanntem vorgezogen. "Das Bestehende, mag es sein, wie es will, wird bis zu einem gewissen Grad als natürlich empfunden und nicht gern angetastet", schreibt der große österreichische Romancier Robert Musil (S. 305). Oder Friedrich Engels: "Die Tradition ist die große hemmende Kraft, sie ist die Trägheitskraft der Geschichte." (MEW 19, S. 543) Neues kann jedenfalls kaum aus der Erfahrung heraus gedacht werden, die scheinbare Leichtigkeit ihres Zurechtfindens im Alltag schlägt um in Ignorantentum und Dummheit, begibt sie sich auf fremdes Terrain. Der Alltag ist konterrevolutionär. Er schneidet die Möglichkeiten der Menschen ab, indem sie in einem neurotischen Wiederholungseifer das Verwirklichte stets zu verwirklichen suchen. Alltag, das ist der Trott, der die menschliche Regression als Potenz birgt.

Die Aufhebung der Erfahrung ist daher eine Bedingung der Emanzipation. Denken ist mehr als Registrieren. Es ist mehr als ein Aufnehmen, es ist ein Erkennen, somit Denken über das Denken, kurzum: Reflektiertes Reflektiertes. Ein Deuten, und das "heißt primär: an Zügen sozialer Gegebenheit der Totalität gewahr werden" (Theodor W. Adorno, Einleitung in: ders. u. a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt und Neuwied, 9. Aufl. 1979, S. 42). Man kann mehr erkennen als man erfahren kann. Erkennen ist ohne die aktive Zubereitung, ohne ein Losgehen auf das Objekt unmöglich. Der Gegenstand wird im Prozess der Erkenntnis bearbeitet. Das Aufgenommene wird nicht bloß hingenommen, begreifen meint immer auch hingreifen und eingreifen. Menschen sind im Erkennen Handelnde, nicht bloß Betroffene.

Die Erkrankungen des gesunden Menschenverstands

"Dich auf Beistimmung der allgemeinen Menschenvernunft zu berufen, kann dir nicht gestattet werden; denn das ist ein Zeuge, dessen Ansehen nur auf dem öffentlichen Gerüchte beruht", schrieb Immanuel Kant 1783 in seinen "Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können" (Werkausgabe Band V, Frankfurt am Main 1988, S. 137). Dies sollte auch uns als Leitlinie dienen.

Der gesunde Menschenverstand kann durchaus als eine einzelfallgebundene Gelegenheitsvernunft beschrieben werden, als eine prinzipielle Ausnutzung der Besonderheit einer Situation oder eines Falles. Wie geht's? und Was nützt's?, sind die Fragen. Aber diese werden nicht allgemein gestellt, sondern nur spezifisch, kennen nur einen Ort und eine Zeit: hic et nunc! Wenn also jemand daherkommt und meint, das sage doch der gesunde Menschenverstand, sollten eigentlich die Alarmglocken läuten.

Dem gesunden Menschenverstand liegt die unzulässige Verallgemeinerung der Erfahrung zugrunde. Er baut auf Wahr-Scheinlichkeit und Nachahmung auf, er ist nicht kreativ, sondern reaktiv. Wie die Logik des Kapitals ist auch der gesunde Menschenverstand als ideologischer Modus des Alltags blind. Wenn auch zielsicher blind. Diese Blindheit versteckt sich nämlich hinter der tatsächlichen und meist beeindruckenden Bewältigung des Alltags, woraus dann ja auch gleich voreilig auf seine Gesundheit geschlossen wird. In ihrer anmaßenden wie verrückten Dogmatik unterstellt die Formel, dass alles von ihm abweichende Denken krankhaft sei. Denken als reflektiertes Reflektiertes wird somit überhaupt als ideologisch diskreditiert.

Umgekehrt! Es war eine Leistung der abendländischen Aufklärung, ihrer positiven Dialektik, die Kritik des gesunden Menschenverstands ins Zentrum gerückt zu haben. Gottfried Wilhelm Leibniz notierte in These 28 seiner "Monadologie": "Die Menschen handeln wie die unvernünftigen Tiere, insoweit die Verkettungen ihrer Rezeptionen lediglich nach dem Prinzip des Gedächtnisses erfolgen. So ähnlich ist es bei den empirischen Ärzten, die einfach Praxis haben, aber keine Theorie; wir alle sind bei drei Vierteln unserer Tätigkeiten nur Empiriker." (Monadologie (1714), Stuttgart 1979, S. 19)

Johann Gottlieb Fichte setzte den gesunden Menschenverstand überhaupt mit dem Nichtdenken gleich, ja denunzierte ihn seinerseits als "unheilbare Krankheit". In seinem Werk "Der geschloßne Handelsstaat" schreibt er: "Der Nichtdenker, der doch gesunde Sinne und Gedächtnis hat, fasst den vor seinen Augen liegenden wirklichen Zustand der Dinge auf, und merkt sich ihn. Er bedarf nichts weiter, da er ja nur in der wirklichen Welt zu leben, und seine Geschäfte zu treiben hat, und zu einem Nachdenken gleichsam auf Vorrat, und dessen er nicht unmittelbar zur Stelle bedürfte, sich gar nicht gereizt fühlt. Er geht mit seinen Gedanken über diesen wirklichen Zustand nie hinaus, und erdenkt nie einen andern: aber durch diese Gewohnheit nur diesen zu denken, entsteht ihm allmählich, und ohne dass er sich dessen eigentlich bewusst wird, die Voraussetzung, dass nur dieser sei, und nur dieser sein könne. Die Begriffe und Sitten seines Volkes und seines Zeitalters scheinen ihm die einzig möglichen Begriffe und Sitten aller Völker und aller Zeitalter. Dieser verwundert sich gewiss nicht, dass alles nun gerade so sei, wie es ist, weil es nach ihm gar nicht anders sein kann; er erhebt gewiss nicht die Frage, wie es so geworden, da es nach ihm ja von Anbeginn so gewesen. Nötigt sich ihm ja eine Beschreibung anderer Völker, und anderer Zeitalter auf, oder wohl gar ein philosophischer Entwurf, wie es nirgends gewesen, aber allenthalben hätte sein sollen, so trägt er immer die Bilder seiner Welt, von denen er sich nicht losreißen kann, hinein, sieht alles durch sie hindurch, und fasst nie den ganzen Sinn dessen, was ihm vorgetragen wird. Seine unheilbare Krankheit ist die, das Zufällige für notwendig zu halten." (Der geschloßne Handelsstaat. Ein philosophischer Entwurf als Anhang zur Rechtslehre, und Probe einer künftig zu liefernden Politik mit einem bisher unbekannten Manuskript Fichtes "Ueber StaatsWirthschaft" (1800), Hamburg 1979, S. 62 f.)

Für Georg Wilhelm Friedrich Hegel ist der gesunde Menschenverstand schlichtweg das "bewusstlose Urteilen" (Phänomenologie des Geistes (1807), Werke 3, Frankfurt am Main 1986, S. 241), "etwas End- und Bodenloses, das nie dazu kommen kann zu sagen, was es meint, weil es nur meint und sein Inhalt nur Gemeintes ist" (S. 242). Die Sicherheit der "sinnlichen Gewissheit" ist nicht zuletzt Folge ihrer geistigen Beschränktheit: "Die Kraft ihrer Wahrheit liegt also nun im Ich, in der Unmittelbarkeit meines Sehens, Hörens usf., das Verschwinden des einzelnen Jetzt und Hier, das wir meinen, wird dadurch aufgehalten, dass Ich sie festhalte." (S. 86) Mit Hegel sollte uns weiters klar sein "dass in der Wissenschaft ganz andere Bestimmungen vorkommen als im gewöhnlichen Bewusstsein und im sogenannten gemeinen Menschenverstand, der nicht gerade der gesunde" (Wissenschaft der Logik I. (1812/1831), Werke 5, Frankfurt am Main 1986, S. 85) ist. Auch Adorno konstatierte einen "durch seine Gesundheit erkrankte(n) Menschenverstand" (Negative Dialektik (1966), Frankfurt am Main, 7. Aufl. 1992, S. 295).

Die Welt der Ware

Der Kapitalismus, das ist kein Äußeres, das sind wir durch unsere gesellschaftliche Kommunikation. Seine Gesetzlichkeiten sind uns eingeherrscht, nicht von außen aufgeherrscht. Unsere Selbstbeherrschung ist nur die subjektive Seite dieser objektiven Verhältnisse.

Uns interessieren hier vor allem drei Zwangsbereiche des bürgerlichen Alltags, die da sind: Beschäftigung, Markt, Reproduktion. Es geht um:

Erstens: Geld verdienen, um leben zu können, d.h. Wertaneignung durch eigene oder fremde produktive Arbeit;

Zweitens: Austauschen - Kauf und Verkauf als fetischierte Formen des Wechsels von Gebrauchswerten;

Drittens: Unmittelbare und mittelbare Reproduktion (Essen, Schlafen, Kochen, Rasten, Pflegen, Putzen).

Um diese Anforderungen gibt es kein Herumkommen, außer der dritten sind sie nicht bloß historisch überformt, sondern eins und zwei sind geradezu gänzlich historisch bedingt, Ausdruck bestimmter Produktionsverhältnisse, die eben nicht generalisierbar sind, auch wenn das laufend geschieht, so getan wird, als seien Geld und Tausch anthropologische Konstanten der Menschheit, so als wäre das Dasein ohne sie gar nicht mehr vorstellbar, geschweige denn herstellbar. Wenn schon nicht für alle Vergangenheit gültig, so zumindest für alle Zukunft.

Wir leben in einer Welt der Waren. Der Autor dieses Textes sitzt in seiner Warenwelt. Die Füllfeder, die Bücher, der Computer, die Regale, der Tisch, das Bett, der Fernseher, der Kuchen. Sie alle sind durch mehrerer Tauschvorgänge (= Geldgeschäfte) hierhergekommen. Das Gemeinsame dieser Dinge ist ihr Warencharakter, was meint, diese Produkte haben Gebrauchswert und Tauschwert. (Analog gilt das auch für Dienstleistungen.) Alles transportiert sich über Wert und Geld. Das Charakteristische ist, dass uns unsere Lebensäußerungen als Waren, eben als kauf- und verkaufbare Gegenstände und Leistungen gegenübertreten. Alles soll seinen Preis haben. Unser System produziert Waren, zirkuliert Waren, konsumiert Waren.

Der unmittelbare Produzent stellt sie nicht für sich her, ja nicht einmal primär für andere, sondern in erster Linie, um an Geld zu kommen. Daher verkauft er seine Arbeitskraft gegen dieses, um sodann den erhaltenen Lohn auf dem Markt, der Zirkulationsebene zu entäußern, die für ihn notwendigen Lebensmittel zu kaufen, um als Konsument durch deren Verzehr und Vernutzung seine Arbeitskraft zu erhalten, um in der anschließenden Produktion wiederum seine Arbeitskraft verkaufen und verausgaben zu können. "Der Lohnarbeiter lebt nur vom Verkauf der Arbeitskraft. Ihre Erhaltung - seine Selbsterhaltung - erfordert tägliche Konsumtion. Seine Zahlung muss also beständig in kürzeren Terminen wiederholt werden, damit er die zu seiner Selbsterhaltung nötigen Einkäufe - den Akt A-G-W (Arbeit-Geld-Ware) oder W-G-W (Ware-Geld-Ware) wiederholen kann." (MEW 24, S. 40 f., Einf. F. S.) Das Ganze nennt sich kapitalistischer Waren- und Geldkreislauf und ist im ersten Abschnitt des Zweiten Bandes des Marxschen Kapitals ausführlich dargelegt.

Im Kapitalismus wird also nicht unmittelbar produziert um zu konsumieren, sondern produziert, um Geld zu erhalten, um kaufen zu können, um konsumieren zu können, um sich reproduzieren zu können, und um wieder von vorne beginnen zu können. Usw., usf. Die Bedürfnisse sind nicht unmittelbar ausgerichtet, sondern mittelbar, indirekt. Unmittelbar und direkt ist nur das Interesse an der Inwertsetzung, an der Verwertung. Die materiellen (und immer mehr auch die ideellen) Verwirklichungen müssen durch die Geldmaschine. Der Mensch selbst ist nur Durchlaufreaktor des Geldes. Was er erhält, gibt er aus, sei es im Konsumieren, Sparen, Anlegen etc.

Die stofflichen Prozesse werden in der kapitalistischen Warengesellschaft durch das Geld immateriell transzendiert und verdoppelt. Geld ist die allgemeine Ware, in der sich alle besonderen Waren ausdrücken. Im Geld erlischt der Unterschied aller Gebrauchswerte. Der Wert ist der Fetisch des Stoffes. Im Gegensatz etwa zu Gott, den man heute als überholte Fetischform erkennen kann oder auch nicht, ist dies beim Geld de facto nicht der Fall. Gläubige wie Ungläubige müssen nach seinem Gesetz handeln, ihm somit gehorchen, weil sie Unterworfene sind.

Fetischismus meint, dass die Menschen sich nicht direkt anerkennen, sondern eines Konstrukts bedürfen, um miteinander in Beziehung treten zu können. Die Akzeptanz der Menschen untereinander erfolgt so durch die ihnen objektiv aufoktroyierten und subjektiv realisierten Formen wie eben Geld, Vertrag, Politik, Staat, Recht etc. Das Du ist somit kein direktes Du, sondern eine gesellschaftliche Position: Käufer, Verkäufer, Vertragspartner, Arbeiter, Unternehmer etc. Dem Mantelverkäufer trete ich nicht als Mantelbedürfer gegenüber, sondern ausschließlich als Mantelkäufer. Ob ich einen benötige oder nicht, ist in diesem Tauschakt völlig egal, ebenso ob ich keinen oder schon zweiundzwanzig besitze. Ausschlaggebend ist, ob ich den Mantel bezahlen kann.

Idealtypisch ist der Tausch stets sachbezogen und unpersönlich. Aber nicht nur Verkäufer und Käufer interessieren nicht, auch der Gebrauchswert fungiert lediglich als Träger des Tauschwerts. Objektive Funktion und subjektive Intention sind im Tauschgeschäft nicht eins. Vornehmlich geht es um die Realisierung des Werts. Die Menschen treten sich als Charaktermasken ihrer Produkte und Leistungen, ihrer Dinge und Geschicklichkeiten gegenüber, auch direktere Bezüglichkeiten (etwa Liebes- und Freundschaftsverhältnisse, die zwar laufend gegen den Markt repellieren, ohne wirklich autonom sein zu können) bleiben von der Warenlogik nicht unberührt.

Vom Geld haben müssen

Was brauche ich? oder Was will ich? kann nicht Grundlage sein, sondern: Was kann ich mir leisten? Eine Grundfrage des bürgerlichen Individuums lautet: Wie komme ich zu Geld? Jeder von uns stellt sich zwangsweise die Frage, wo es denn etwas zu holen gibt. Andauernd geht es darum, Geld aufzustellen. Da mag einer grob, ein anderer vorsichtig, der dritte gemein, der vierte fahrlässig, der fünfte absolut gesetzestreu sein. Das Ziel ist vorgegeben und es ist für alle gleich.

Eines kann sich das Mitglied des kapitalistischen Systems nicht aussuchen: ob es Geld haben will oder nicht. Es will es haben müssen. Für eine Entscheidung ist hier kein Platz. Geld ist quasi-natürlich geworden, es ist eine unhinterfragte Existenzbedingung der bürgerlichen Gesellschaft. In diesem Punkt können daher die Menschen - unabhängig von allen demokratischen Freiheiten - nicht frei sein. Es gibt keine Freiheit vom Geld, vom Tauschwert, vom Wert, von abstrakter Arbeit. An dieser Kette hängt das bürgerliche Individuum, ohne sie eigentlich wahrzunehmen. Sie ist ihm Fleisch und Blut geworden, Bestandteil seiner Identität.

Der Mensch ist im Kapitalismus der personifizierte Träger der Waren, egal ob er sie verkauft oder ob er sich selbst verkauft. Aus diesem übermächtigen gesellschaftlichen Gesetz gibt es kein Entfliehen. "Die Abstraktheit des Tauschwertes ist a priori mit der Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere, der Gesellschaft über ihre Zwangsmitglieder verbündet. (...) Durch die Reduktion der Menschen auf Agenten und Träger des Warentauschs hindurch realisiert sich die Herrschaft von Menschen über Menschen. Der totale Zusammenhang hat die konkrete Gestalt, dass alle dem abstrakten Tauschgesetz sich unterwerfen müssen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen, gleichgültig, ob sie subjektiv von einem 'Profitmotiv' geleitet werden oder nicht." (Adorno, Positivismusstreit, S. 21)

Cuius regio, eius religio. Der Glaube an das Geld hat totalen Charakter. Zumindest dort, wo es sich nachdrücklich festsetzen konnte. Der Kapitalismus desavouiert schon das einfachste "Menschenrecht", indem er die menschenwürdige Existenz in materieller Hinsicht an Geld koppelt. Man denke etwa ganz profan an die öffentliche Drangsalierung jener, die aus dem Verwertungsprozess rausgefallen sind. Geld ist das soziale Apriori. Dort, wo das Fortkommen auf das Einkommen angewiesen ist, sollte man von Menschenwürde nur bedingt sprechen. Sie verbleibt, wie schon das Wort sagt, im Konjunktiv. Menschenwürde ist nur eine fragile bürgerliche Möglichkeit, nicht mehr. Notwendig ist also gerade die Aufhebung von Menschenrecht und Menschenwürde durch das Menschsein.

Auf dem Markt

Bei schlichten Geistern wie Milton Friedman liest sich das Einmaleins der Marktwirtschaft allen Ernstes wie folgt: "So ist der Verbraucher vor einem Druck durch den Verkäufer dadurch gesichert, dass es andere Verkäufer gibt, bei denen er kaufen kann. Ebenso ist der Verkäufer dadurch vor einem Zwang durch den Konsumenten geschützt, dass er mit anderen Konsumenten abschließen kann. Der Angestellte ist vor Nötigung seitens seines Arbeitgebers dadurch geschützt, dass er für andere Arbeitgeber arbeiten kann, und so weiter. All das wird auf dem Markt ohne eine zentrale Instanz erreicht." (Kapitalismus und Freiheit (1962), München 1976, S. 36.) Jeder oberflächliche Blick auf den Arbeits- und Wohnungsmarkt müsste diese euphorische Sichtweise als blanke Ideologie entlarven.

Von der stofflichen oder materiellen Seite her betrachtet, verdeutlicht die Marktwirtschaft nichts anderes als die Trennung der Menschen von ihren Produktions- und Konsumtionsmitteln. Gesellschaftliche Erzeugnisse, ob Häuser oder Paradeiser, Stemmeisen oder Gummistiefel, werden nicht gesellschaftlich verfügt und direkt angeeignet, sondern durchlaufen die Metamorphosen des Kapitals bis sie konsumiert werden können.

Tausch meint, dass Produkte und Leistungen sich in der gesellschaftlichen Kommunikation nur als ein sich wechselseitig Bedingendes erfüllen können. Nehmen bedingt Geben bedingt Nehmen etc. Unter dem Dogma des Tauschwerts können sie nur als zwei äquivalente Seiten derselben Medaille bestehen. Produktenabgabe wie Produktenentnahme sind keine einfachen Akte, sondern gestalten sich im Zwangsverhältnis des Geschäfts. Das gilt auch analog für Dienstleistungen. Nur das Konkretum kann freiwillig sein, nicht die Form in der es sich vollzieht, nicht die Positionierung, von der aus es getätigt wird. Das Geschäft ist das Sakrament bürgerlichen Kommunikation. Seine Rechtsform ist der Vertrag. Dieser verdeutlicht wiederum nichts anderes als das konstitutive Misstrauen der Menschen gegeneinander. Das objektive Defizit an allgemeiner Verlässlichkeit manifestiert sich darin. Dies alles und mehr zu hinterfragen, wird in der normierten Öffentlichkeit freilich als völliges Hirngespinst wahrgenommen. Solch Denken ist Halluzination.

Der Tausch als Imperativ des Kaufens und Verkaufens zwingt natürlich auch zur Konkurrenz, zum Kampf Jeder gegen jeden, sei es am Obst- oder am Arbeitsmarkt. Es geht darum, (sich) teuer zu verkaufen und billig einzukaufen. Unter dem Druck dieser objektiven Vorgabe, die auf ihrer subjektiven Seite die Ausschöpfung aktueller Lebensstandards bedeutet, entsteht ein Klima der allgemeinen Kälte, ein Klima, das permanent Vertrauen und Solidarität untergräbt, diese zu Sonntagsbekenntnissen degradiert. Permanent denkt das bürgerliche Individuum an das Übervorteilen, auch ohne das eigentlich zu wollen. Das Konkurrenzprinzip ist auf Ausschließung, Zurückdrängung und Vernichtung des Gegenüber programmiert. "Die Tatsache, dass 'der Kampf für sich selbst' zugleich 'ein Kampf gegen andere' ist, durchdringt den gesamten Alltag." (Agnes Heller, Das Alltagsleben, S. 35) Homo homini lupus.

"Im Kampf ums Leben gibt es keine denkerischen Sentimentalitäten, sondern nur den Wunsch, den Gegner auf dem kürzesten und tatsächlichsten Wege umzubringen, da ist jedermann Positivist; und ebenso wenig wäre es im Geschäft eine Tugend, sich etwas vormachen zu lassen, statt aufs Feste zu gehen, wobei der Gewinn letzten Endes eine psychologische und den Umständen entspringende Überwältigung des anderen bedeutet." (Musil, Der Mann ohne Eigenschaften I., S. 303) Im Geschäft liegt die konzentrierte Gewalt der Verhältnisse. Der hellsichtige Musil lässt zurecht fragen: "Aber ist das Geld nicht eine ebenso sichere Methode der Behandlung menschlicher Beziehungen wie die Gewalt und erlaubt uns, auf ihre naive Anwendung zu verzichten? Es ist vergeistigte Gewalt, eine geschmeidige, hochentwickelte und schöpferische Spezialform der Gewalt. Beruht nicht das Geschäft auf List und Zwang, auf Übervorteilung und Ausnützung, nur sind diese zivilisiert, ganz in das Innere des Menschen verlegt, ja geradezu in das Aussehen seiner Freiheit gekleidet?" (S. 508.) Wir haben Freiheiten uns in der Form des Geschäftes zu bewegen, wir haben aber auf der Ebene des gesellschaftlichen Stoffwechsels wenig Freiheit gegen die Form des Geschäfts.

Lohnkampf und Preiskampf sind obligat, immer präsent, machen die Menschen zu Klassenfeinden und Tauschgegnern. Das bürgerliche Selbstbewusstsein (inklusive des einst beschworenen proletarischen Klassenbewusstseins!) kann vor diesem Hintergrund nichts anderes sein als die immanente Selbstbehauptung in Zwangsverhältnissen. Stets geht es ums Durchsetzen. Das bürgerliche Subjekt steht unter dem Zwang, sich in Wert zu setzen, (sich) zu verkaufen, um kaufen zu können. Das bedingt natürlich auch unzählige und aufdringliche Abarten der charakterlichen Maskierung, sei es Bluff oder Fassade, Mode oder Werbung. Anbieten, Anpreisen, Anmachen sind bürgerliche Formen der Selbstverstellung. Stets geht es um Täuschung im Sinne des Tauschs.

Die Manipulation durch die Massenmedien darf daher gerade vor diesem Hintergrund nicht überschätzt werden, das sind Realisierungsmaschinen, nicht Schaffungsinstanzen der verkehrten Welt im Kopf. Die Kulturindustrie ist Folge, nicht Ursache. Für diese Art von Beeinflussung müssen die Menschen schon konstituiert und dimensioniert sein. Die Durchschnittsmenschen bewegen sich in diesem Kontinuum, sie brauchen nicht verleitet zu werden. Sie stehen auf der Leitung. Und nicht nur auf dieser, sondern auch auf diese. Und zur Zeit verkabeln sie sich immer mehr.

Freizeit oder befreite Zeit

Freizeit hat sich als Begriff analog zu dem der (geregelten) Arbeitszeit entwickelt. Ohne diese ist jene gar nicht zu denken. Freizeit ist demnach die Nichtarbeitszeit. Sie steht aber nicht außerhalb der bürgerlichen Kommunikationsformen, sondern ist ihr immanent: jede Freizeit soll produziert, zirkuliert und konsumiert werden als ein Konglomerat von Waren und Dienstleistungen; jene ist das Gebiet der Unterhaltungsindustrie, auch wenn die Kolonisierten aufmucken und sich gelegentlich wehren, ja gerade Momente außerhalb der Verdinglichung besonders genießen. Doch das gelingt selten. Da die Bedürfnisse gesellschaftlich konstituiert sind und transformiert werden, sind Begriffe wie Freizeit oder Freiraum überhaupt prekär, nicht mehr als zaghafte Annäherungen an etwas, das es nur in Spurenelementen gibt. Freizeit ist somit bloß ein Vorgeschmack von befreiter Zeit. Unter befreiter Zeit kann nur eine wirklich konsequenzlos disponible Zeit verstanden werden, in der die Möglichkeiten sich zu entscheiden, wirksam gegeben sind.

Einkaufen ist keine freie Zeit, Putzen ebensowenig. Essen ist dort, wo es primär dem stofflichen Fortkommen dient, keine freie Zeit, dort, wo es sich genießerisch veranstaltet, sehr wohl. Was freilich nicht immer säuberlich zu trennen ist. Der eingeworfene Hamburger, das aufgewärmte Gulasch erscheint als notwendige Belästigung, das Aufkochen, am Sonntag für Freunde und Bekannte hingegen als eine hohe Form gemeinsamer Lust. Aber selbst die gleiche Speise kann unter geänderten Umständen ganz anders auf uns zukommen. Die Frage der gesellschaftlichen Bestimmung des Essens ist nicht durch die Beschaffenheit desselben gelöst, auch wenn die Qualität der Mahlzeit oft ausschlaggebend für unser Wohlbefinden sein kann.

Prinzipiell ist es natürlich sinnvoll, Traktoren und Schuhe, Kopierer und Mischmaschinen in kürzerer Tätigkeitsdauer, mit weniger Verschleiß an Muskel, Nerv und Hirn herzustellen. Schonung der menschlichen und natürlichen Ressourcen ist eine Leitlinie der Emanzipation. Bloß das kann überhaupt befreite Zeiten und Räume für alle Menschen, nicht nur für bestimmte Privilegierte, hervorbringen. Es gilt zu Gegebenheiten vorzudringen, die eben nicht von Reproduktion und Produktion, Markt und Büro, kurzum vom Alltag diktiert werden.

Ein Ziel ist die Abnahme der gesellschaftlich gebundenen Zeit. Doch bisher erwuchsen aus der Überwindung natürlicher Beschränkungen nur kulturelle hintennach. Diese Gesetzlichkeit zu brechen ist eine zentrale Aufgabe. Emanzipation heißt Kampf gegen den existentiellen Kampf und schließlich dessen Überwindung, zumindest was die materielle Seite anbetrifft.

Es geht um den Schritt vom Überleben zum Leben. Um nichts weniger als um den Austritt aus der menschlichen Vorgeschichte: "Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muss, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muss es der Zivilisierte, und er muss es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich das Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann." (MEW 25, S. 828)

Aus dem Alltag ausbrechen

Man gehört zu dieser Welt, ob man will oder nicht. Gerade die Anerkennung dieser Gehörigkeit ist freilich Voraussetzung ihr nicht hörig zu sein. Der Ansatz der Befreiung liegt, so paradox es scheint, darin, das bürgerliche Gerede vom freien selbstbestimmten Subjekt zu boykottieren und zu destruieren, nicht es als ideologisches Apriori vor sich herzutragen, egal ob sich das jetzt "freier Mensch" oder "mündiger Bürger" benennt. Erst wenn man keine falschen Illusionen mehr hegt, ist es möglich, von dieser gesellschaftlichen Bestimmung ideell zu abstrahieren. Die Voraussetzung höherer Erkenntnis ist die Bewusstwerdung der Bewusstlosigkeit, was mitnichten deren sofortige Negation oder gar Aufhebung bedeutet. Notwendig ist vielmehr die bewusste Anwendung der Bewusstlosigkeit, was den Widerspruch schon in der Aussage miteinschließt. Doch genau darum geht es, um dessen Schaffung.

"Aus dem Alltag ausbrechen" ist zu einem geflügelten Wort geworden. Jawohl, der Alltag ist ein Gefängnis. Nicht bloß eines, sondern das. Leben wird als dem Alltag gegensätzlich empfunden. Dem ist so. Der Alltag, das ist die graue Existenz der Monaden, der Leibnizschen fensterlosen Wesen, die gleich Ameisen ihren Stoffwechsel erledigen. Eine wirkliche Transformation, d.h. eine, wo nicht nachher die alte Scheiße in dieser oder jener Form wieder hochkommt, ist nur möglich, wenn sie sich als eine Umwälzung gestalten lässt, die den Alltag auch wirklich aushebelt und die verschiedenen Sphären aufhebt. Denn genau das steht an: Nicht ein anderer Alltag, sondern die Aufhebung des Alltags.

* Überarbeitung aus Streifzüge 2/1997

*

2000 Zeichen abwärts

Putzen

Viel Hausarbeit macht glücklich", lässt uns die Wiener U-Bahn-Postille Heute in ihrem Artikel "Glücksfaktor Putzen" wissen: "Hausarbeit, so britische Wissenschaftler, wirke sich positiv auf die Psyche aus. Nur 20 Minuten intensives Putzen pro Woche seien äußerst wirksam gegen Depressionen. Das schweißtreibende Wirbeln durch die Wohnung soll zudem dem Alterungsprozess massiv gegensteuern und Ängste abbauen. Und sorgt nebenbei noch für einen sauberen Haushalt - und der macht alle glücklich."

Ich kann das nicht bestätigen. Daher schaut es bei uns auch immer so aus. Putzen ist das Letzte, was einem diese Gesellschaft als alltägliche Notwendigkeit aufgeherrscht hat. Auch die Wörter Runterputzen und Rausputzen sagen in ihrer sprachlichen Komposition schon alles. Wer permanent putzt, erniedrigt sich. Putzen wertet ab, es drängt einen in die Position des Subsubalternen. Putzen ist der niedrigste Dienst von allen. Wer es abgeben kann, gibt es ab. Putzen ist was für Ausländerinnen. Die meisten Putzfrauen sind auch solche.

So geht bei uns das Pflegen und das Sorgen immer vor dem Putzen. Bei uns, die wir uns sowieso keine Putzfrau leisten können, wird also nicht so viel geputzt. Den anderen fällt das schneller auf als uns, auch wenn sie nichts sagen. Nicht, dass ich das Geputzte nicht mag. Die Diskrepanz zwischen dem Putzen und dem Geputzten ist ja immens. Zufrieden ist man nicht, weil man geputzt hat, sondern weil geputzt ist. Die geputzte Badewanne ist einem lieber als das Putzen der Badewanne. Während man Badewanne putzt, lebt man nicht, lebendig wird man erst, wenn man wiederum in ihr sitzt. Reell sind Werden und Resultat zwar nur unterschiedliche Zeitströme, ideell jedoch liegen da Welten dazwischen. Der Wert des Geputzten ist jedenfalls höher als der Wert des Putzens.

F.S.

*

Emanzipatorische Romantik

von Martin Scheuringer

Wir könnten unsere Textilien, die uns im Alltag so nah am Körper sind, unsere Mauer, die uns vor Kälte, Wind und Regen schützt, oder unsere Nahrung, die uns stärkt, gestalten. Das wäre ein Einbringen unserer Ideen in die Auseinandersetzung mit dem Stoff, bei dem wir Betroffenen uns zusammensetzen. Lieber kaufen wir ein.

Wir könnten unseren Freunden, Geschwistern, Eltern, Kindern, Bekannten und Kollegen offener, achtsamer und liebevoller begegnen. Das wäre ein kümmerndes Einlassen auf die Anderen, ein Äußern und Hören unserer und ihrer Wünsche und Begehren. Lieber führen wir in konformen Masken oberflächliche Gespräche.

Wir könnten unseren Ärger, unsere Hingabe, unsere Verzweiflung, unsere Freude, unsere Geilheit, unseren Frust spüren. Das wäre eine akzeptierende Sensibilität für deren Dasein. Lieber verdrängen wir sie ins Unbewusste.

Wir könnten im Alltag Individualität sein. Lieber beherrschen wir uns. Material und Ideen formen wir gemäß den Imperativen der Arbeit, stutzen, optimieren und begradigen. Glatt, effektiv, schnörkellos soll alles laufen. Liebe, Bett und Zorn sind funktional einzusetzen für die Optimierung der Arbeitskräfte, die mit uns den Alltag teilen. Wir begradigen die Symphonie der Augenblicke zu einem nervtötenden Sinuston, der sich dynamisch ausdehnt. Er wird lauter und die noch vernehmbaren Klänge werden bald von Lärm verschluckt sein.

Als Negation unserer Individualität agiert etwas durch uns hindurch. Am Markt (und der ist schon fast überall und dauernd) wirken wir als Kalkulatoren. Dabei verlassen wir die sinnliche Welt und begeben uns in nur dem Denken zugängliche Sphären, denn unsere Entscheidungen nehmen Bezug zum Preis, der nicht im Wald wächst, auf keiner Wiese blüht und aus keinem Tier gemolken werden kann. Er ist eine Setzung des Willens und der Einbildungskraft.

Ohne Preis können wir nicht kaufen. Eine lästige Notwendigkeit der Marktwirtschaft, in der Dinge nur benutzt werden dürfen, wenn sie Privateigentum sind. Um zu laufen, erfinden wir zu den Qualitäten eines Sockens - wärmend, angenehm, belastbar, waschbar, haltbar, von Bekannten in Muße ohne Chemie hergestellt, aus nachhaltiger Wolle - noch eine hinzu. Alle die genannten Qualitäten werden relativiert zu einem absoluten Referenzpunkt hin: dem Preis. Dieser selbst ist nur dem Denken zugänglich. Er breitet nun seine Relationen auf alle Qualitäten aus, bepreist sie. Qualität 1 ist 10 Cent wert, Qualität 2 23 Cent. Dann wird die Summe gebildet und mit dem Gesamt-Preis der Ware verglichen. Die Qualitäten sind durch uns Kalkulatoren in Quantitäten verwandelt worden.

So agierend fließt unsere Individualität nicht in die Entscheidung ein, denn diese nähme die Qualitäten ernst und wandelte sie nicht in Quantitäten um. Wären wir Individualitäten, wäre der Prozess der Aneignung und Benutzung nicht über den Kauf von Privateigentum organisiert, sondern über ein Besprechen der Nutzung und Herstellung mit den Betroffenen. Oder über ein Schenken von Dingen, die man herstellen wollte, weil man grad gern mit dem Hobel oder der Maurerkelle was machen wollte.

Im Alltag wirkt über unseren Willen also die Struktur der sozialen Wirklichkeit (Eigentum und Kauf) und setzt diese fort. Die Individuen sind vom Kapital aufgesaugt. Aufgehoben sein würde ja das Beibehalten der Individualität auf höherer Stufe meinen, aber Hegel ist mir zu langatmig.

Im Alltag finden wir daher nicht die Muße uns auf das Holz einzulassen, das wir benutzen, sodass wir ein harmonisches Produkt erstellen könnten, in dem wir uns wiedererkennen. Es könnte ein schönes Basteln werden und als Resultat aus unserer Stimmung, Phantasie und seiner Beschaffenheit unseren Alltag verschönern. Allein die Qualitäten des Holzes, unsere Fähigkeiten und unsere Hingabe zum Werken sollten Kriterien für die Entscheidung seiner Gestaltung sein. So ein Stück Holz - ein Tisch oder Bett - bereichert als Vergegenständlichung unserer Individualität unsere gemeinsame Zeit. Oder als Geschenk eines Fremdem erinnert es an Kontakt zu Menschen, die man vielleicht nur einmal getroffen hat.

Im Alltag nehmen wir uns selten Momente heraus, um mit unseren Mitmenschen darüber zu reden, wie es uns miteinander geht, welche Wörter und Taten einen verletzt haben, was wir uns wünschen, welche Phantasien wir haben. Michael Lukas Möller hat darüber hervorragende Anleitungen verfasst. Wir würden uns näher sein, das Leben wäre erotischer, spannender, intensiver.

Im Alltag nehmen wir selten unsere Gefühle genau wahr und teilen diese kaum mit. Einem sich Öffnenden wird Weichheit, unnötige Störung oder Egoismus unterstellt. Hier können wir nur im Gespräch voneinander lernen, wie man in solchen Situationen gut auftritt.

Spricht man über Visionen, ist es nicht anders: einem Träumer wird Dummheit unterstellt, gar die Absicht, uns in den Ruin zu führen, oder die blanke Angst vor Chaos kommt einem mit Wucht entgegen. Diese Reaktionen sind meist durch große Emotionen der anderen begleitet. Mit diesen gut umzugehen wäre meines Erachtens etwas sehr Wichtiges für die Emanzipation. Hier gilt es viel zu lernen: Wie lasse ich der Angst, der Wut in solchen Momenten einen sinnvollen Platz, ohne selbst davon mitgerissen zu werden?

Das Beruhigende ist: die Vision des guten Lebens ist in Momenten spürbar, ahnbar. Es ist schön mit Menschen zusammen zu sein, die zeitweise ihre Masken ablegen und sich in ihrer Bandbreite zeigen. Die mich teilhaben lassen an ihrer Wut, an ihrer Freude, an ihren Sorgen und ihrer Hingerissenheit für das, was sie gerade tun. Die mich lehren mit ihnen gemeinsam ein Werk zu vollbringen, während wir scherzenderweise den Tag verbringen. Am Ende betrachten wir unsere Stoff gewordene Individualität und schlafen zufrieden ein. Die Party war den ganzen Tag über.

Diese Augenblicke sind Momente des Richtigen im Falschen. Diese Begegnungen funkeln, sie geben Kraft. Es prickelt. Die Luft knistert. Es fallen Güter dabei an. Diese Momente sollen unserer Phantasie Kraft geben für eine emanzipatorische Romantik, die das Begehren der Menschen nach einem guten Leben weckt.

*

Die Freiheit, die niemand kennt

von Johann Stefan Tschemernjak

Der Begriff Freiheit wurde im Laufe der Geschichte stets neu gefasst und bis in die heutige Leistungsgesellschaft weitergetragen. Allein, geändert hat sich unser Umgang mit ihm. Die Freiheit, zumindest als Begriff, ist seit der Aufklärung durch viel Widerstand gegangen. Wir brauchen sie nicht mehr zu erschaffen, inzwischen auch nicht mehr neu zu formen oder zu definieren; nach aktueller Lesart besitzen wir sie. Doch was bedeutet Freiheit heute für uns? Frei sein: Wovon? Frei sein: Wofür? Wir scheinen zu wissen, was diese erstrebenswerte Freiheit ist, was unter diesen Begriff fällt. Sobald uns jedoch jemand dazu aufruft, dieses Wissen explizit zu machen, geraten wir in Verlegenheit ob unserer eigenen Impotenz.

Der Wunsch nach Freiheit ist Wunsch nach Unabhängigkeit, nach Souveränität, nach Selbstständigkeit, nach Autonomie und somit nach Würde im Sinne Kants. Es wäre wohl zu kühn gesprochen, wenn man behauptete, Freiheit müsse möglich sein, bloß weil sie vorstellbar sei, lieber Anselm von Canterburry. Der Gegenspieler der Freiheit heißt Zwang innerhalb eines Regimes. In der postmodernen Leistungsgesellschaft wird die bürgerliche Freiheit durch existentielle Zwänge unterminiert. Der individuelle Mensch als Bürger muss, sobald der Obsorge der Erziehungsberechtigten entwachsen, Geld verdienen, um seine Existenz zu erhalten. Wir ordnen uns diesem Prozess der Arbeit freiwillig unter, bis wir dem System erpressbar ausgeliefert sind. Genuin aus dem Grund, weil wir von diesem System das bekommen, was wir existentiell brauchen, müssen wir uns ihm unterwerfen. Die Grenze zwischen Freiheit und Zwang liegt in dieser Gesellschaft so untrennbar knapp beieinander wie niemals zuvor.

Haben wir in unserem politischen wie im wirtschaftlichen System bloß die Freiheit, aus dem Vorhandenen zu wählen? Wir müssen uns mit dem Bestehenden und zur Auswahl Stehenden begnügen. Reale Wahlfreiheit muss aber auf einer Metaebene außerhalb dieses Systems des Vorhandenen gedacht werden; in der Empörung über die Beraubung der Potenz zur Freiheit des Individuums. Byung-Chul Han zeichnet in seinem Buch Müdigkeitsgesellschaft verschiedene Mäander nach. Er unterscheidet die positive Potenz, etwas zu tun, von der Ohnmacht, der Unfähigkeit, etwas zu tun. Diese basale Impotenz ist in diesem Kontext trivial, wichtig hingegen: die negative Potenz, etwas nicht zu tun, obwohl man es könnte. Diese negative Potenz entschwindet den Fesseln des Müssens. Für Han ist "die Negativität des nicht-zu (...) ein Wesenszug der Kontemplation". (Han, 2014, S. 46f.) Für Giorgio Agamben ist der Mensch primär ein Möglichkeitswesen. "Mit Bezug auf Aristoteles weist er darauf hin, dass zur Potenz, etwas zu tun, gleichzeitig auch immer die Potenz, etwas nicht zu Tun, gehört." (Weiß, 2014, Lassen und Tun, S. 55)

Heutzutage hat das Etwas nicht tun, trotz der Möglichkeit, wenige Anhänger. Die zur Spitze getriebene Verweigerung in Form eines Sich-nicht-Fügens und ebenso eines Nicht-Wehrens hat eine literarische Gallionsfigur: Bartleby. Die graue und leidenschaftslose Hauptfigur aus Melvilles Erzählung zieht es vor, Dinge nicht zu tun. (Melville, 2004) Im Original "I would prefer not to", in stoischer Stringenz geht dies bis zu seinem selbstverschuldeten Verhungern.

Der Zwang ging in feudalen Systemen von realen Personen aus, von Aufsehern und von Adeligen. Im 21. Jahrhundert wird diese Macht viel eleganter ausgeführt, ohne Schläge und Strafen, und dennoch sind wir ihr stärker unterworfen als jemals zuvor. Wir zwingen uns selbst dazu, in einem System bestmöglich zu funktionieren, indem wir uns vorspielen, es zu wollen. Das geflügelte Wort der Selbstverwirklichung in der Arbeit; wir fühlen uns in der Leistungsgesellschaft nicht mehr unterdrückt. Wir tun, was wir tun, weil wir es gerne tun, weil wir darin aufgehen. Wir tun genau das, was wir wollen, und laufen diese Art von Strich jubelnd und bejubelt rauf und runter. Alles unter dem trügerischen Deckmantel der Selbstverwirklichung. Von Εὐδαψονία im Sinne Aristoteles' sind wir sehr weit entfernt.

Freiheit und Zwang

Um Zwang konkret denken zu können, benötigt es ein Subjekt, welches diesen ausführt. Unterdrückung braucht einen Unterdrücker, ebenso wie Ausbeutung einen Ausbeuter braucht. Was fast unkenntlich verschwommen ist, wirkt umso alarmierender: Unsere, von der öffentlichen Meinung goutierte, Leistungsorientierung führt uns zu einem Punkt, an dem jeder selbst gleichermaßen zu seinem eigenen Ausbeuter und Knecht wird. Wir optimieren uns selbst, um uns besser anzupassen, und beuten uns dadurch aus. Dieses elegante Ausführen der Macht und des Zwanges ist mit jener der letzten Jahrhunderte schwerlich zu vergleichen; wenngleich umso gefährlicher, da sie unentdeckt unser Leben unterminiert und uns vorspiegelt, dass dieses Leben unserem eigenen Willen entspringe.

Die Arbeitsbereitschaft und die Effektivität zu erhöhen stellte in vergangenen Zeiten die Daseinsberechtigung der Fabrikaufseher dar. Die Leistungssteigerung war mit diesen Mitteln sichergestellt, jedoch nur bis zu der Grenze, an welcher sich der Widerstand der ArbeiterInnen erhob. Das darüber hinausgehende, potentielle Maximum der Ausbeutung muss demnach anders gedacht werden, vorbei an einer möglichen Revolution, vorbei am Protest der ArbeiterInnen. Dieses Maximum erreicht man erst dadurch, dass diese selbst glauben, dass sie genau das tun, was sie wollen; aus eigenen Stücken heraus und völlig ohne (äußeren) Zwang. Erst so umhüllt uns die Fremdbestimmung zu Gänze, und so verebbt jeder Widerstand. Der Zwang hat sich unkenntlich gemacht, er ist nicht mehr wahrnehmbar. Was uns zwingt, ist nicht mehr greifbar. Es fehlt an einem personalen Gegenüber, am peitschenschwingenden Repräsentanten des Regimes, einem Feindbild, dem wir unterworfen sind. Über dieses konnten wir uns empören, aufbegehren und uns dadurch unseres (äußeren) Zwanges bewusst werden. Des Aufsehers, der unsere Freiheit so offensichtlich begrenzte, gingen wir verlustig, wir benötigen ihn auch nicht mehr, um uns anzutreiben, denn wir optimieren uns selbst, weil wir es wollen, für uns, um uns selbst zu verwirklichen. Erst an dem Punkt angelangt, an dem man den Zwang, dem man unbewusst unterworfen ist, als Freiheit empfindet, trägt man die Freiheit final zu Grabe. Ohne ein Gegenüber, eine reale Person, ist kein Widerstand möglich. Der Zwang unter dem Deckmantel der (personalen) Freiheit ist das elaborierteste Mittel eines Regimes. Das Regime greift nicht genuin die Freiheit an, sondern instrumentalisiert diese.

Müssen wir uns also vor uns selbst schützen, die wir unsere eigenen Ausbeuter sind? Die moderne Leistungsgesellschaft ist eine Zwangsgesellschaft, welche wir uns selbst, mit Applaus, auferlegt haben. Sich selbst als Subjekt und Objekt zu betrachten, sich zu optimieren und möglichst angepasst einem Trampelpfad innerhalb eines Systems zu folgen, dessen Grenzen wir nicht sehen, oder nicht verstehen, birgt die Gefahr der Selbstentfremdung in sich. Der begleitende Dauerton der trügerischen Selbstbestimmung lässt uns glauben, dass dies alles unsere freien Entscheidungen sind: unser Beruf und unsere Aufopferung für denselben, unzählige Körperoptimierungsstunden in Fitnessstudios, das Belegen von marktkonformen Studiengängen. Entlang diesem Marathon bemerken wir die Grenzen, innerhalb derer wir denken, nicht und wähnen uns in grenzenloser Freiheit.

Das Paradox der Erziehung

Wenn wir auf der Suche danach sind, was wir meinen, wenn wir über den Begriff der Freiheit sprechen, welche Zustände es sind, die wir anstreben und die unter den Begriff der Freiheit zu fassen sind, so drängt sich parallel dazu die Frage nach der Natur der (internalisierten) Zwänge auf.

Haben wir uns nicht an die Existenz von Zwängen von frühester Kindheit an gewöhnt? Erziehung ist nicht nur der erste, sondern ebenso der feinmaschigste Zaun der Zwangsausübung, bemerkte schon Sigmund Freud (vgl. Freud, Das Unbehagen in der Kultur). Durch dieses System von Zwängen, welches den Kindern im Privaten ebenso wie in der Schule auferlegt wird, so die allgemeine Auffassung, führen wir sie einem formulierten Erziehungsziel entgegen. Die Erziehung soll Selbstständigkeit hervorbringen und Kinder zu mündigen und rationalen Bürgern machen. Dieses System erinnert an das alte Sprichwort: Den Teufel durch den Beelzebub austreiben. Durch die Auferlegung von Zwängen bereits im frühesten Kindheitsalter erwarten wir demnach die Entwicklung freier und mündiger junger Menschen. Dieser Widerspruch könnte auch Nährboden für Immanuel Kants Gedanke gewesen sein, als er diese Zeilen schrieb: "Eines der größten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne." (Kant, Über Pädagogik, S. 711)

Es ist wohl eher anzunehmen, dass durch diese Art des Zwanges der Gedanke der Freiheit und das Streben danach gedämpft und bis zur Unkenntlichkeit verformt werden. Schlussendlich sind wir an den Zwang gewöhnt, allein, er verlagert sich in der Zeit zwischen Kindheit und Arbeitsleben von einem äußeren zu einem verinnerlichten Zwang. Erst durch die Internalisierung der antreibenden Zwänge nehmen wir diese nicht mehr als solche wahr. (Vgl. Foucault, 1976, S. 228)

Aufschlussreich ist diese Stelle im Lehrplan der Volksschule: "(...) Sie hat die Jugend mit dem für das Leben und den künftigen Beruf erforderlichen Wissen und Können auszustatten. (...) Die jungen Menschen sollen zu gesunden, arbeitstüchtigen (...) Gliedern der Gesellschaft (...) herangebildet werden. (BGBl Nr. 368/2005, November 2005, S. 1)

Es ist also demnach Teil des Bildungsauftrags der österreichischen PädagogInnen, die Kinder auf das Arbeitssystem vorzubereiten, auf ein System, in dem sie sich den Zwängen unterwerfen müssen, die vorgegeben sind. Wir züchten unseren arbeitstüchtigen (sic!) Nachwuchs langsam heran, nach den Normen, welche uns für richtig erscheinen, um ihnen den Einstieg in das Erwachsenenleben leichter oder zumindest erträglicher zu gestalten. Wir gewöhnen die Kinder langsam an den Zwang, der sie später in Gestalt ihrer selbst erwartet. Im Rahmen der Erziehung gliedern wir sie in eine Disziplinargesellschaft ein, die von der Negativität des Verbots bestimmt ist. Sie lernen die beiden Modalverben nicht dürfen und sollen, denen beiden die Negativität des Zwangs anhaftet, zu akzeptieren. Im Laufe ihrer Entwicklung zu arbeitstüchtigen Leistungssubjekten verabschieden sie sich von dieser Negativität und wechseln zu dem (scheinbar) positiven Modalverb: können. (Vgl. Han, 2014, Müdigkeitsgesellschaft, S. 20)

Die digitale Bohème

In der Leistungsgesellschaft entfernen wir uns von Verboten und Geboten und erklimmen die nach Freiheit klingenden Worte: Projekt, Initiative und Motivation. Die Negativität der grauen Vorzeit erzeugte Verrückte und Verbrecher. (Ebd., S. 21, und auch Foucault) Der Paradigmenwechsel jedoch erzeugt statt Freiheit die Depression der Versager, jener, die nicht mehr können, jener, die dafür selbst verantwortlich sind. Die Verantwortung liegt innerhalb der neoliberalen Zwangsjacke beim Leistungssubjekt selbst. Alles fällt unter seine eigene Verantwortung. Es ist frei von einem äußeren Zwang und Souverän seiner selbst. Zur Erfüllung des amerikanischen Traums wurde ihm der Weg geebnet, ihm alles Rüstzeug zur Verfügung gestellt. Wer es dann nicht schafft, ist selbst daran schuld.

Der Wegfall der äußeren Herrschaftsinstanz Dritter führt jedoch nicht zur Freiheit, sondern nur zur Verschmelzung von Freiheit und Zwang (ebd., S. 24); zu deren Ununterscheidbarkeit. Selbstausbeutung ist die viel effizientere Methode als Fremdausbeutung. Das ausgehöhlte, erfolgreiche Individuum hat sich seinen Selbstwert selbst abtrainiert. Als stabile Persönlichkeit würde es im Zeitalter des Narzissmus nicht erfolgreich bestehen können. Die gezüchtete und durchaus akzeptierte Persönlichkeitsstörung des Narzissten ist Steigbügelhalter der Karriere und schützendes Kettenhemd zugleich. Hingegen: Das (Selbst-)Scheitern, das Nicht-mehr-Können, führt zur Isolation und Depression darüber, dass man selbst es ist, der für den Misserfolg verantwortlich ist. Diese psychischen Erkrankungen spiegeln die paradoxe Freiheit innerhalb der Leistungsgesellschaft wider.

Es scheint, als müsste es uns gelingen, allen Umständen trotzend, uns von dieser selbstverschuldeten Kasteiung zu befreien. Gelingt dies mittels der Flucht aus der Lohnarbeit in die neue Selbstständigkeit? Wenn dies tatsächlich eine Flucht (nach vorne) ist, wovor flüchten wir? Vor einer Festanstellung: Ja. Aus einem System: Nein, wie auch? Der kreative Drang, sich selbst zu entfalten, als Teil einer neu gearteten und an die New Economy angelehnten, digitalen Bohème, führt zu keinen anderen Ergebnissen und noch weniger in einen Zustand, welchen man unter dem Begriff der Freiheit fassen könnte. Die Selbst-Ständigkeit birgt Freiheiten und Zwänge gleichermaßen; gewiss ist nur: die Arbeit holt einen ebenso schnell wieder ein, wie dies in einer Festanstellung der Fall ist. Jene Arbeit, die ursprünglich wohl als Befreiung und als Mittel zur Autonomie gedacht war, jene Arbeit, die den Übergang zwischen Arbeit und Freizeit schaffen sollte, oder zumindest zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit, verwandelte sich von einer Hoffnung zu einer Fessel.

Der angepasste Imperativ der digitalen Bohème könnte also wie folgt lauten: Werde selbstständig mittels einer digital angebotenen Dienstleistung oder eines Produkts, welches deiner Kreativität entspringt. Suche dir parallel dazu einen Brotjob, von der studentischen Aushilfskraft bis zur Gastronomie kann das alles sein, was Geld einbringt, um Platz und Zeit zu schaffen, das eigene Lebensprojekt Freiheit zu verfolgen.

Sind Befürworter dieses Imperativs, nicht nur jene aus dem Bereich der Kreativität, die Paradeopfer der Selbstausbeutung? Dies alles geschieht unter dem Deckmantel der Förderung des tausendfach widerlegten Glaubens an die sich hoffentlich demnächst einstellende eigene Freiheit und Autonomie.

Aber nicht nur die neuen Selbstständigen sind innerhalb dieses Systems weiterhin gefangen. Wie steht es um die MitarbeiterInnen der in den letzten Jahren aufgekommenen Unternehmen der New Economy? Mit all ihren placebo-liberalen Führungsstilen, ihren in den Gängen platzierten Tischfußballtischen, ihrer von oben verordneten Per Du-Kultur und ihrer gefeierten Gleitarbeitszeit, seit deren Einführung nachts noch länger das Licht in den einzelnen Büros brennt? Es könnte das fertig gedachte Modell der Verschleierung des Zwanges par excellence sein. Die glücklichen MitarbeiterInnen haben den Übergang geschafft: Vom Gehorsamkeitssubjekt der Disziplinargesellschaft zum sich freiwillig und ohne Fremdzwänge ausbeutenden Leistungssubjekt der Leistungsgesellschaft. Ein Büro voller Phagozythen (sogenannte Fresszellen: Sie beseitigen Erreger, indem sie diese in sich aufnehmen und abbauen).

Der internalisierte Zwang der Selbstermahnung, es effizienter und besser zu machen, etwas zu erreichen und erfolgreich zu sein, ist die Last der Selbstevaluation. Eine ermutigende neue Definition von Autonomie und Freiheit ist innerhalb dieser Gruppe jedoch auszumachen. Das zum größten Teil im notwendigen Brotjob verdiente Geld wird nicht gewinnbringend investiert. Es wird umgetauscht in die neue (Glücks-)Währung: Zeit. Zeit zur persönlichen Entwicklung, zum Aufbau und zur Pflege sozialer Beziehungen in der realen Welt ebenso wie in sozialen Netzwerken. Das neue Statussymbol ist die Akzeptanz und die Aufgehobenheit in einem System aus Freunden, Gleichgesinnten und der gesellschaftlichen Community der entsprechenden Branche. Strahlender erscheinen fünf Dutzend Gratulanten zum Geburtstag als die hochpolierte Rolex-Uhr. Was am Markt angeschafft wird, sind keine materiellen Statussymbole mehr. Gekauft und hochgehalten dagegen werden verdinglichte Erfahrungen. Der Konsum von Kultur, das Teilhaben an einem Lebensstil, das Leben im öffentlichen Raum der Restaurants und Bars kommunizierend zu genießen rückt als zu erstrebendes Ziel in den Mittelpunkt.

Das Individuum der digitalen Bohème verwandelt, um Foucaults Worte zu verwenden, das eigene Selbst in ein Kunstwerk. (Vgl. Foucault, 1987, Zur Genealogie der Ethik, S. 273). Soziale Netzwerke werden ebenso wie öffentliche Orte zur Bühne der eigenen optimierten und nach bestem Wissen und Gewissen konstruierten öffentlichen Identität.

Jede Selbstaufopferung kommt nicht umhin, ihre eigenen, zuletzt physischen Grenzen anzuerkennen. Der Zusammenbruch, das Nicht-mehr-weiter-Können, steht heute in einem ganz different konnotierten Kontext. Wer innerhalb des neuen Systems der Leistung und Selbstoptimierung ermüdet, wer scheitert, ist, in erster Linie für sich selbst, nicht mehr Opfer, sondern Schuldiger. Durchgefallen. Als nicht gut genug befunden und ausgeschieden. Wir sind vom feudalistischen müssen zum postindustriellen können gelangt; allein, wir müssen die Endlichkeit der Möglichkeiten des Könnens in Betracht ziehen.

Ist Freiheit erstrebenswert?

Beginnend mit der Erörterung von Freiheit und Zwang in der industriellen Disziplinargesellschaft habe ich die Überleitung zur heutigen postmodernen Disziplinargesellschaft nachgezeichnet. In dieser haben wir die Zwänge internalisiert, wir wurden zu Knecht und Ausbeuter unserer selbst. Durch diesen versteckten Zusammenfall in uns selbst treiben wir uns zu Höchstleistungen in allen Bereichen unseres Lebens an. Es ist das Rüstzeug des ausgehöhlten Narzissten und zugleich sein Sprungbrett. Die große Gefahr dieses internalisierten Systems der Selbstoptimierung manifestiert sich bei all jenen, welche am Können scheitern. Jene, die versagen, sehen sich nicht mehr in der Opferrolle, denn sie sind dafür selbst verantwortlich, sie sind Täter. Die neoliberale Zwangsjacke, in welcher wir uns frei bewegen dürfen, gab ihnen alle Möglichkeiten zur Selbstoptimierung und der vermeintlichen Selbstentfaltung mit, wer es dann nicht schafft, ist nicht gut genug und vor allem: selber schuld.

Die Selbstausbeutung findet sich aber nicht nur in der Welt der Lohnarbeit. Ebenso, wenn nicht sogar deutlicher, bei den neuen Selbstständigen: bei den kunstschaffenden und (teilweise) selbstständig erwerbstätigen Mitgliedern der digitalen Bohème ebenso wie in allen anderen Bereichen der freien Wirtschaft. Ihr an den Mythos des Sisyphos (vgl. Camus, 1942, Le mythe de Sisyphe) erinnernder Versuch des Ausbruchs aus dem Zwang entpuppt sich, bei genauerer Betrachtung, als schlechte Kopie desselben. Ebenso die gekünstelte neue Arbeitsatmosphäre in den Büros der Firmen der New Economy, bei welchen hinter der Fassade der perfide alte Zopf der Leistungsoptimierung wartet. All diese Figuren sind, bei genauerer Betrachtung, keine Hinwendung zu Freiheit, keine (Be-)freiung, sondern nahezu das Gegenteil dessen.

Halten wir das genuine Dolcefarniente gar nicht mehr durch? Selbst wenn wir es könnten, so müssen wir doch eingestehen, dass die Figur des Müßiggängers keine ist, welche unter den Begriff der Freiheit fällt, ja noch nicht einmal eine erstrebenswerte Figur ist. Ich erinnere an den selbstverschuldeten Tod des Müßiggängers Bartleby. Wenn Müßiggang eine von der Mehrheit der Bevölkerung angestrebte Art des Lebens wäre, so wäre der Schrei nach der Bedingung der Möglichkeit dieses Lebensstils, etwa ein bedingungsloses Grundeinkommen, lauter und weiter verbreitet. Kann es Genuss, unter der Doktrin der Leistung, nur noch in Ergebnisse gehüllt geben; also außerhalb der Arbeit maximal noch im messbaren Sport? Das Ziel der Arbeit, könnte man annehmen, ist doch die darauf folgende, also ihr geschuldete Unabhängigkeit; allmählich reicht wohl auch ein repräsentatives Burn-out. Arbeit aus Zwang führt zur Erschöpfung. Arbeit aus Freude an der eigenen Effektivität hingegen zur Selbstoptimierung, wenngleich, im Falle des Scheiterns, zur Depression über das selbstverschuldete Nicht-gut-genug-Sein in der Diagnose Erschöpfungsdepression.

Es bleibt die Hauptfrage dieses Aufsatzes stehen. Was fällt unter den erstrebenswerten Begriff Freiheit? Und ist der Begriff bzw. seine Verwirklichung erstrebenswert?

In dem bisher Gesagten habe ich versucht verschiedene Figuren zu skizzieren und darzustellen, was ihnen allen gemeinsam ist. Jede für sich ist ein vermeintlicher Repräsentant dieser Freiheit. Bei genauerer Betrachtung jedoch, bei dem Versuch, diese Beispiele zu explizieren, wird klar, dass die Freiheit weder in Form des Müßiggangs, der Kontemplation, noch in der negativen Potentialität eines Bartlebys zu finden ist. All diese Varianten können unter einen Begriff der positiven Potentialität wie Freiheit nicht gefasst werden. Ihnen fehlt für diesen Begriff zu viel an Glanz, und vor allem fehlt es ihnen an Attraktivität.

Erzählungen von glücklichen Müßiggängern gibt es wenige, und wenn man diese liest, so habe ich den Eindruck, dass sie mehr Legenden schaffen als Wahrheiten beschreiben. Auf den Boden der Tatsachen gebracht, führt uns dieser Gedanke noch einmal zurück zu Melvilles Bartleby. Dieser erweitert den Umfang dessen, was er lieber nicht tun möchte, stetig. Zuerst entzieht er sich zusätzlichen aufgetragenen Arbeiten, bis er schließlich mit der berühmten Phrase I would prefer not to es auch vorzieht, dies nicht mehr zu tun und ebenso darüber keine Auskunft mehr zu geben, warum er es nicht tut. Bartleby zieht es auch vor, das Büro, in dem er nicht mehr arbeitet, nicht mehr zu verlassen, bis er schließlich von der Polizei abgeführt wird und im Gefängnis landet. Dagegen wehrt er sich ebenso stringent nicht, er zieht es jetzt auch vor, nicht mehr zu essen. Das Ende kommt, wie es kommen musste, Bartleby stirbt, begleitet von den Worten seines ehemaligen Arbeitgebers: "Oh, Bartleby! Oh, Menschheit!" Abschließend muss ich gestehen, dass ich nicht mehr über den Begriff der Freiheit sagen kann, als dass dieser ein Statthalter-Term ist für eine attraktive und glänzende positive Potentialität. Zumindest das, was nicht unter den Freiheitsbegriff zu fassen ist, dies aber auf den ersten Blick vorgibt, wird bei eingehender Betrachtung schnell sichtbar. Was bleibt, ist eine Sehnsucht nach Freiheit, zumindest nach etwas, das wir nicht genau kennen.


Literatur

Agamben, Giorgio, (2002), Das Offene. Der Mensch und das Tier, Suhrkamp, Frankfurt a.M.

Foucault, Michel, (1987), Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über laufende Forschungsarbeiten, übers. von Claus Rath und Ulrich Raulff, in: Dreyfus, Hubert L.; Rabinow, Paul: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a.M.: Athenäum.

Foucault, Michael, (1976), Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Suhrkamp, Frankfurt a.M.

Han, Byung-Chul, (2014), Müdigkeitsgesellschaft, Matthes & Seitz, Berlin.

Kant, Immanuel, (2007), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Suhrkamp, Frankfurt a.M.

Kant, Immanuel (1964), "Über Pädagogik", in ders. Werke in zehn Bänden, Bd. VI, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Wiesbaden.

Melville, Hermann, (2004), Bartleby, der Schreiber, Insel, Frankfurt a.M.

Weiß, Martin, (2014), Müßiger Widerstand, in: Hobus, Steffi; Tams, Nicola, (2014), Lassen und Tun, Transcript, Bielefeld.

Wolf, Ursula, (2006), Aristoteles' Nikomachische Ethik, Rowohlt, Hamburg.

*

Dead Men Working

Alltagsblau

von Maria Wölflingseder

So vieles ist in den letzten 100 Jahren erfunden und für alle erschwinglich geworden, das uns den Alltag erleichtert und angenehmer gemacht hat. Jammerschade nur, dass gar manches davon im allgemeinen Immer-schneller-weiter-höher-und-noch-innovativer-Getümmel übers Ziel hinausschießt.

Die alles revolutionierende Digitalisierung hat zwar viel Segen gebracht, aber wollen wir wirklich bald alle mit der Virtual-Reality-Brille herumlaufen, die die I-Phones über kurz oder lang ablösen werden? Wollen wir uns das Leben wirklich von Apps diktieren lassen? Wollen wir wirklich digitalen Sex via Teledildonics? Auch der mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Sexroboter Roxxxy, in beiderlei Geschlecht erhältlich, ist nicht nur heiß auf Kopulation, sondern auch auf Konversation und Evolution, um ein Mensch zu werden. Und das interaktive Stofftier, eine Roboter-Robbe, dient in Wiener Pflegewohnhäusern bereits dazu, alte Menschen bei Laune und in Kontakt zu halten.

Oder die epochalen Fortschritte in der Medizin. Sie haben unzählige Leben gerettet und vielen Krankheiten ihren Schrecken genommen. Aber wie sieht der heutige Kranken(haus)alltag aus? Warum werden wir buchstäblich zu Tode therapiert? "Zwei Drittel der in Mitteleuropa verschriebenen Arzneien sind sinnlos und schaden mehr, als sie nutzen. Fakt ist auch: Falsche Medikamente gehören zu den häufigsten Todesursachen." Das diagnostiziert der Wiener Neurologe Fahmy Aboulenein, der kürzlich das Buch "Die Pharmafalle" vorgelegt hat. Ganz zu Schweigen von den Unmengen an unnötig verabreichten Antibiotika gegen leichte Erkältungen oder - völlig nutzlos - gegen virale Erkrankungen sowie ihr leichtsinniger Einsatz in der Tierzucht. Ihre zunehmende Unwirksamkeit sowie die Resistenz von Krankenhauskeimen, an denen immer mehr Menschen sterben, sind die Folgen.

Auch was die Ernährung betrifft, ist das Angebot dank Hybridweizen, Turbokühen und Gigatonnen von zweifelhaften Zusätzen in der Produktion und im Endprodukt so groß wie noch nie, jedoch weitgehend unbekömmlich geworden.

Diese Maßlosigkeit korrespondiert mit dem Sog, alles zur Ware machen zu müssen, um Geld zu lukrieren. Nicht nur der Konzerne bzw. der Aktionäre wegen, auch ist jeder Einzelne gezwungen, seine Arbeitskraft zu verhökern, um Wohnung, Nahrung, Kleidung, Fortbewegung, Bildung, Kultur usw. kaufen zu können. Die Folge dieses auf Profit basierenden Wirtschaftssystems ist Konkurrenz. Und Konkurrenz führt unweigerlich zu Misstrauen, Neid, Stress und Entfremdung. Entfremdung von uns selber, Entfremdung zwischen den Menschen und Entfremdung von der Natur. Das macht krank und unglücklich. - Die Menschen wirken in ihrer nervösen Hektik so leblos, so eintönig im Lärm, so steril in aller Buntheit, so reizlos im Tohuwabohu; sie ähneln zunehmend Maschinen: vorprogrammiert, berechenbar und berechnend. Menschliches gibt es in unserem Alltag immer weniger. Das Wesentliche wird ständig vom Bedeutungslosen überschwemmt und ausgehöhlt.

All dem möchte ich als Inspiration ein paar Szenen und Aussagen gegenüberstellen. Um mit dem Lukullischen zu beginnen: Unlängst las ich über die Verwunderung, dass "Mahlzeit" nicht nur beim Essen gewünscht wird, sondern im Büroalltag um die Mittagszeit stets als Gruß verwendet wird: sei es beim Kopierer, in der Garage oder am Klo. Und das, obwohl die meisten gar nicht essen gehen. Das "Mahlzeit" ersetzt vielfach die Mahlzeit. Ganz anderes berichtet Brunhild Seeler-Herzog im Buch "Fiesta im Schnee der Mandelblüten" über die anhaltende Tradition auf Mallorca: Wie die Hirten in einem alten Lied, so machen es heute noch die Bauarbeiter: "Wo gibt es das schon noch: dass fum, fum, fum (sehr viel Rauch) - gegen zehn Uhr in aller Seelenruhe erst mal botifarra oder botifarró, eine mit Pinienkernen und Anis gewürzte Blutwurst, am Straßenrand gebrutzelt wird? Merke: 'Si no tens temps per menjar, bé, per què trebales?' (Wenn Du keine Zeit hast, um zu essen, wofür arbeitest du dann?)"

Ein anderes Land, in dem die Tradition des Mittagessens auch gegenwärtig noch hochgehalten wird, ist Frankreich. Joseph Roth - dessen umfangreiches Feuilleton von höchster Empfindsamkeit zeugt - schreibt in der Frankfurter Zeitung vom 26.10.1925 über das Lyon der 1920er Jahre: Die Menschen "eilen in die Mittagspause wie in ein großes Glück". "Man hört auch das Tuten der Automobile, das Klappern der Geschirre und das Rasseln der Rollbalken vor den Läden, und eine Stunde lang bereitet man diesen großen, erhabenen Feiertag vor, der in den weißen Städten Südfrankreichs 'Essen' heißt. Und dann ist der Feiertag da: die Mittagspause."

Jegliche Sinnesfreude jenseits von Konsum oder reiner Pose droht auszusterben. Um welche zu empfinden und bei anderen auslösen zu können, braucht es Menschen, die im Dasein fest verankert sind. Die Schriftstellerin Marie Cardinal vergleicht ihr Lebensgefühl in Algerien, wo sie aufwuchs, mit jenem in Frankreich, wohin sie später zog: "Anderswo leben als dort hat für mich den Sinn des Wortes Leben verändert. Anderswo leben ist gleichbedeutend geworden mit: mein Leben fristen, mein Leben organisieren, mein Leben strukturieren, mein Leben planen. ... Seit ich nicht mehr in Algerien lebe, gibt es für mich nur Mühsal, Ferien, Kämpfe. Es gibt keine Augenblicke mehr, in denen ich ohne Einschränkung in vollkommener Harmonie mit der Welt bin." (Die Reise nach Algerien)

Auch Albert Camus hinterlässt uns viele Beschreibungen seiner Eindrücke in Algerien. Er ist erstaunt über "die reiche Sinnlichkeit dieser Menschen", die "mit dem äußersten Elend zusammentrifft". (Hochzeit des Lichts) In Griechenland überraschen ihn die "Dorfbewohner und ihre liebenswürdige Vertraulichkeit. Frei in Auftreten und den Bewegungen, obschon es hier keine politische Freiheit gibt." (Tagebuch 1951-1959)

Kaum ein Philosoph hat solch eine sinnliche Präsenz hinterlassen wie Camus. Er zieht den Körper der "unsterblichen Seele" vor. In "Hochzeit des Lichts" schreibt er: "Alles hier lässt mich gelten, wie ich bin; ich gebe nichts von mir auf und brauche keine Maske. ... was ist das Glück anderes als jener einfache Einklang eines Geschöpfes mit seiner Existenz. ... Ich lerne, dass es kein übermenschliches Glück gibt und keine Ewigkeit außer dem Dahinfließen der Tage". Ein kleines Gedicht von mir lautet: "Glück // Ein Meer / voll / blauer Tage."

*

Die geltende Vernunft bekämpft nicht Macht, sondern nur deren »Entarten« zu Herrschaft

Teil II des Beitrags - "Warum Bildung bei der Überwindung der Machtverhältnisse nicht hilft"

von Erich Ribolits

Als Konsequenz der bisherigen Ausführungen gilt es die Hoffnung zu begraben, dass Bildung kraft des ihr immanenten Appells, »sich seines Verstandes ohne die Anleitung durch andere zu bedienen«, Grundlage dafür sein kann, die in den gesellschaftlichen Umständen zum Ausdruck kommende Macht tatsächlich in Frage zu stellen und sich von ihr zu emanzipieren. Dem Vertrauen auf die Möglichkeit einer Selbstbefreiung durch Bildung liegt die Vorstellung eines Subjekts zugrunde, das »von allem Anfang an« gegeben ist und dem Individuum grundsätzliche Handlungsmacht verleiht, die sich in Eigenschaften wie Wille, Freiheit und Intentionalität zeigt. Dieser Prämisse gemäß nimmt das Subjekt quasi die Position ein, die unter den Verhältnissen der vormodernen Metaphysik Gott zugestanden worden war (vgl.: Klein 2005: 5). Nur wenn von einem derartigen a priori gegebenen Subjekt ausgegangen wird, kann angenommen werden, dass dieses sich mit jedwedem Inhalt, der sich ihm darbietet, »kritisch« auseinandersetzen kann und es somit ein potenzieller Gegenspieler der Macht ist. Und nur diese Annahme begründet somit auch die Hoffnung, dass eine »Stärkung« des Subjekts - mittels der Hilfe zu einem vollkommeneren Gebrauch seines Verstandes - seine Souveränität gegenüber der Macht zu steigern imstande ist. Das Subjekt kann dann zwar durch die aktuell jeweils herrschende Vernunft zu falschen Schlüssen verführt werden, es ist aber in der Lage, sich selbst auf die Schliche zu kommen und eine derartige Fehlleitung zu erkennen. Nur wenn das Subjekt solcherart als eine Größe interpretiert wird, die im Kern unabhängig von den gesellschaftlichen Umständen gegeben ist, kann davon ausgegangen werden, dass das Subjekt in letzter Konsequenz der Macht gegenüber stets souverän bleibt. Es kann dann zwar Opfer von Zugriffen der Macht werden, da allerdings seine Fähigkeit, die seine Souveränität untergrabenden Wirkungen der Macht zu erkennen, niemals völlig außer Kraft gesetzt werden kann, kann es per Vernunftappell animiert werden, sich aus den Fallstricken der Macht (wieder) zu befreien.

Tatsächlich hat die Vorstellung des per se gegebenen, autonomen Subjekts, das sich dem Status quo per Verstand kritisch gegenüberstellen kann, allerdings schon mit Sigmund Freud und seiner Erkenntnis nachhaltig an Glaubwürdigkeit verloren, dass »[d]as Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus« (Freud 1970: 7) und sowohl Wahrnehmung als auch Verhalten von Faktoren beeinflusst werden, die dem Verstand nur äußerst bedingt zugänglich sind. Endgültig aufgegeben werden muss die Annahme des von vornherein gegebenen Subjekts, das durch Sozialisationsprozesse zwar mehr oder weniger deformiert werden kann, die ihm innewohnende Fähigkeit zur Emanzipation dabei aber niemals vollständig verliert, jedoch im Gefolge der Forschungen von Michel Foucault. Dessen Forschungen kulminieren in der Erkenntnis, dass es »kein souveränes und konstitutives Subjekt gibt, keine universelle Form des Subjekts, die man überall wiederfinden könnte« (Foucault 1994: 137), sondern eine Abfolge unterschiedlicher, mit den jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen korrelierender Subjektformen. In diesem Sinn müssen wir Bedingungen korrelierender Subjektformen. In diesem Sinn müssen wir das Subjekt nicht als ein autarkes Gegenüber der Macht, sondern - ganz im Gegenteil - als ein Korrelat derselben begreifen. »Macht arbeitet durch, nicht gegen Subjektivität« (Rose 2000: 9), oder, mit anderen Worten: Das Subjekt ist nichts anderes als der individuelle Ausdruck der Macht. Und - wie Butler in Weiterentwicklung der Erkenntnisse von Foucault postuliert - es entsteht erst, indem ein Individuum zu diskursiven Prozessen fähig wird und diese sein Unterwerfen unter die herrschende Vernunft erforderlich machen. Somit lassen sich die gegebenen Machtverhältnisse aber durch ein »Vernünftiger-Werden« von Menschen nicht aushebeln. Die instrumentelle Vernunft muss als genau jenes abstrakte Handlungsprinzip identifiziert werden, dem sich Individuen unterwerfen müssen, um die Subjektform anzunehmen, die ihr Überleben unter den gegebenen Machtverhältnissen möglich macht.

Das Mittel, um Individuen in machtgemäße Subjekte zu verwandeln, ist die Sprache. Indem es für Menschen als soziale Wesen unabdingbar ist, mit anderen Menschen zu interagieren, sind sie gezwungen zu kommunizieren - »die Sprache entsteht, wie das Bewusstsein, erst aus dem Bedürfnis, der Notdurft des Verkehrs mit anderen Menschen« (Marx/Engels 1990: 27). Das heißt, Menschen müssen sich sprachlicher Strukturen und Begriffe bedienen, die als vernünftig gelten. Aussagen können nur als sinnvoll interpretiert werden, wenn sie »intelligibel« sind, sich also innerhalb jenes Raumes bewegen, der durch die herrschende Vernunft abgesteckt ist. »Die Macht bringt vermittels ihres Mediums, der Sprache, das Feld der Intelligibilität hervor und beherrscht es, indem sie den Diskurs in bestimmten, genau regulierten Schranken hält. [...] Das, was uns verständlich, begreifbar, nachvollziehbar erscheint; was sich nach den Maßstäben der abendländischen ratio richtet, d.h. in einem binären Rahmen eingeordnet werden kann und eine eindeutige Identität aufweist; was den Kategorien der Logik, den Regeln der Grammatik gehorcht - all das fällt in das Gebiet des Intelligiblen [...].« (Ludewig 2002: 189) Die Sprache (inklusive ihrer nonverbalen Anteile und Substitutionen) schafft Intelligibilität - die Möglichkeit, Zusammenhänge unabhängig von sinnlicher Wahrnehmung intellektuell zu erfassen. Das heißt zugleich auch, dass sie produziert, was in einer bestimmten historisch-gesellschaftlichen Situation und der ihr entsprechenden Vernunft überhaupt verstanden werden kann. Was nicht oder nur eingeschränkt (aus-)gesagt werden kann, ist nicht intelligibel und verfällt der Bedeutungslosigkeit. In diesem Sinn sind Vernunft und Wahrheit als Instrumente des Infragestellens der Macht ungeeignet, tatsächlich stellen sie, als die Basis jedes als sinnvoll akzeptierten Diskurses, genau das Medium dar, mittels dessen sich die Machtverhältnisse zum Ausdruck bringen.

Nur wer dem geltenden Fetisch huldigt, indem er sich den Machtverhältnissen in Form vernünftiger Diskurse unterwirft, erringt einen Platz am Spieltisch der Macht - nur ihm wird der Status eines souveränen Subjekts zugestanden. Sobald ein Heranwachsender jene Frühphase menschlicher Entwicklung hinter sich lässt, in der er noch nicht zwischen sich selbst und seiner Umgebung, zwischen leblosen Objekten und lebendigen Menschen differenziert, und er das Bewusstsein ausbildet, ein eigenständiges Ich zu sein, ergibt sich für ihn die Notwendigkeit, in die diskursive Welt einzutreten und zu anderen Menschen Beziehungen aufzunehmen. Er ist gezwungen, sich an der allgemein verständlichen, der herrschenden Vernunft unterworfenen Kommunikation zu beteiligen, was nichts anderes bedeutet, als dass er sich der Machtverhältnisse »bedienen« muss. Durch seinen Eintritt in die Welt des vernünftigen Diskurses unterwirft sich das Individuum den herrschenden Regeln der »Machtspiele« und konstituiert sich damit als Subjekt - als den gesellschaftlichen Machtverhältnissen unterworfen. »Das Erwachen des Subjekts wird erkauft durch die Anerkennung der Macht als des Prinzips aller Beziehungen.« (Adorno/Horkheimer 2000: 21) Wenn das unmittelbar sinnliche Erleben des Eins-Seins mit der Welt verblasst und die Notwendigkeit diskursiv herzustellender Verhältnisse an seine Stelle tritt, hat der Prozess der Subjektivierung begonnen. Das Subjekt kommt zur Geltung, indem alles »was ihm äußerlich ist«, zum Objekt degradiert wird. »'Ich bin ich' heißt, dass der Rest der Wirklichkeit als 'Nicht-ich' bestimmt ist. Er befindet sich irgendwo da 'draußen', jenseits von mir, er ist nichts, das mir und meiner Individualität zugehören würde, sondern etwas, zu dem ich [kraft meiner, zum »freien Willen« mythologisierten Verhaftung mit der instrumentellen Vernunft - E.R.] erst noch hingelangen muss [...].« (Klein 2005: 14) Die als »freier Wille« verklärte Identifikation des bürgerlichen Subjekts mit Vernunft ist jenes Konstrukt, das es von der unmittelbar-sinnlichen Verbindung mit der Welt abschneidet und ihm an Stelle dessen ein instrumentelles Verhältnis zu dieser auferlegt. Ein souveränes Subjekt zu sein meint somit konkret, alle und alles als Objekte der Handhabung wahrzunehmen. In diesem Sinn bedeutet zu interagieren, sich als Subjekt durch Teilnahme an den gegenseitig ausgeübten Manipulationsversuchen zu beweisen - auf diese Art werden die Machtverhältnisse kontinuierlich per vernünftiger Interaktion tradiert. In diesem Sinn gilt: »Macht ist [...] nichts, was man identifizieren könnte, nicht etwas, das von außen dem Objekt der Macht auferlegt würde, sondern sie realisiert sich in der Subjektivität selbst.« (Messerschmidt 2012: 289) Sowie: »In einer Gesellschaft leben heißt jedenfalls so leben, dass man gegenseitig auf sein Handeln einwirken kann. Eine Gesellschaft 'ohne Machtverhältnisse' kann nur eine Abstraktion sein.« (Foucault in Dreyfus/Rabinow 1994: 257) »Zwischen jedem Punkt eines gesellschaftlichen Körpers, zwischen einem Mann und einer Frau, in einer Familie, zwischen einem Lehrer und seinem Schüler, zwischen dem, der weiß, und dem, der nicht weiß, verlaufen Machtbeziehungen [...], sie sind der bewegliche und konkrete Boden, in dem sich die Macht verankert hat, die Bedingungen der Möglichkeit, damit sie funktionieren kann.« (Foucault 1978: 110)

Der Bildungsbemühungen stets innewohnende Appell, sich seines Verstandes (selbständig) zu bedienen und in anwachsendem Maß »zur Vernunft zu kommen«, stellt somit nichts anderes als die Aufforderung dar, in die Sphäre gemeinsamer, intersubjektiver Verständigung einzutreten und auf diese Art jene Subjektform auszubilden, der unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen Anerkennung zukommt. Nur was kommuniziert werden kann, kann in den Dimensionen der Vernunft begriffen werden - »die Sprache selbst ist das Vehikel des Denkens« (Wittgenstein 2003: 164). Das intelligible Feld, in dem es sich zu bewegen gilt, um als Subjekt (an)erkannt zu werden, ist ein abgeschlossener Bereich, ein durch die Regeln des Diskurses definierter endlicher Raum des Verständlichen. Die diskursiv produzierte Intelligibilität vermittelt gesellschaftliche Bedeutsamkeit, wodurch das sinnvoll Sprechbare zum Denk- und Lebbaren wird sowie die Regeln des Sprachspiels zur Ordnung des realen Lebens werden (vgl. Ludewig 2002: 190). Die Grenze wird durch die sprachlich vermittelte Intelligibilität gezogen - oder, wie es Wittgenstein (1963: 111) formuliert hat: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt«. Die per Vernunft gezogenen Grenzen der Sprache stellen die Grenzen des Subjekts dar. Der Status eines (vollwertigen) Subjekts der bürgerlichen Gesellschaft wird nur innerhalb des intelligiblen Bereichs verliehen, außerhalb herrscht bloße Kreatürlichkeit. Die Sprache zieht innerhalb der Gesamtheit menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten eine Grenze; diese trennt allerdings nicht gleichartige Bereiche, ähnlich einer Grenze zwischen benachbarten Ländern, sondern grundverschiedene Sphären, die miteinander nichts gemeinsam haben. Die durch die Sprache repräsentierte Welt ist in sich geschlossen und lückenlos, die außerhalb liegende Sphäre ist der sprachlich verhafteten Vernunft nicht zugänglich - nichts, worüber man reden kann, liegt außerhalb (vgl. Bierwisch 2008: 19); Intelligibilität existiert nur innerhalb empirisch erfassbarer Verhältnisse. »Sprache ist [somit] kein neutrales Werkzeug, das Individuen nur benutzen, um sich auszudrücken und zu verständigen. Vielmehr kann Sprache auch als eine soziale Voraussetzung für das individuelle Wahrnehmen, Denken und Kommunizieren charakterisiert werden. Soziales Handeln ist so betrachtet ein Handeln mit den Mitteln, [die] eine jeweilige Sprache zu Verfügung stellt [...].« (Kotthoff 2006: 164)

Die herrschende Vernunft schafft zum einen überhaupt erst ein spezifisches Verständnis davon, was ein Subjekt ist, und bringt es damit in einer bestimmten Ausprägung zur Geltung, und zum anderen tradieren die Subjekte kraft ihres Bewusstseins, »autonome Vernunftwesen« zu sein, die gegebenen Machtstrukturen. Die Identifizierung des Subjekts mit Vernunft bedeutet, dass Menschen ihrer eigenen Sinnlichkeit fremd gegenüberstehen, auch sie ist ihnen nur mehr als Objekt des instrumentellen Gebrauchs begreifbar. Im Subjekt konkretisiert sich die Verschränkung von Macht und (dem Vernunftpostulat entsprechendem) Wissen - jenseits des »Macht-Wissen-Dispositivs« (Foucault) existiert so etwas wie ein Subjekt überhaupt nicht. Indem das Subjekt über »Selbstreflexivität« - im Sinne eines permanenten Hinterfragens der je eigenen Gedanken, Sehnsüchte, Ängste, Wünsche und des eigenen Verhaltens im Namen der geltenden Vernunft - definiert wird, stellt es letztendlich nur ein Synonym für das Selbstanlegen jener »Fesseln« dar, die verhindern, dass die Prämissen der Macht unterlaufen werden (vgl. Ribolits 213: 123 f). Das von der (emanzipatorischen) Pädagogik idealisierte, autonome, selbstreflexive und vernünftige Subjekt muss tatsächlich als »Durchgangspunkt von Machtbeziehungen« (Masschelein 2003: 126) begriffen werden und ganz und gar nicht als ein unbeeinflusst von diesen agierendes Gegenüber. Es ist somit absolut unangebracht, das emanzipierte Subjekt als jene souveräne Instanz zu idealisieren, die kraft kritisch-rationaler Reflexion die Macht in ihrem Bestand zu gefährden imstande ist.

Indem das Subjekt kein kritisches Gegenüber, sondern - im Gegenteil - konkreter Ausdruck der Machtverhältnisse ist, ist es logischerweise außerstande, diese in Frage zu stellen. Daraus folgt, dass die der Gesellschaft inhärente und sich per herrschender Vernunft zum Ausdruck bringende Macht weitgehend unentdeckt wirken kann - als Problem wird sie in der Regel erst wahrgenommen, wenn sie sich zu Herrschaft verdichtet. Im Sinne von Foucault handelt es sich dabei quasi um eine Blockade der wechselweise von allen ausgeübten Einflussnahmen auf das Verhalten anderer. Diese Vielheit der Machtspiele wird gestört, indem sich die Macht an einer Stelle des Gesellschaftskörpers festsetzt, sie quasi aus einer flottierenden in eine feste Form übergeht. Herrschaft operiert mit den jeweils gegebenen Machtverhältnissen, verschafft sich aber die Möglichkeit, diese mehr als andere einzusetzen - sie stellt gewissermaßen ein Aus-dem-Ruder-Laufen der zwischen den Gesellschaftsmitgliedern ablaufenden Machtspiele dar. Während Macht eine im Sinne der zwischenmenschlichen Dynamik durchaus produktive Größe darstellt und letztendlich nichts anderes als die Form ist, wie sich Subjekte zur Geltung bringen, wird Herrschaft nur von wenigen ausgeübt und stellt ein Synonym für (über längere Zeit gegebene) Repression dar. Herrschaft entsteht, indem einzelne Subjekte oder Subjektgruppen die Regeln der Machtspiele optimal für sich ausnützen, sie sich quasi als besonders intelligibel erweisen und es ihnen gelingt, ihre Interessen als gesellschaftliche Allgemeininteressen festzuschreiben und auf diese Art langfristig abzusichern. Dies wird von den der Herrschaft Ausgelieferten in der Regel als »ungerecht« empfunden und es wird ein (Wieder-)Herstellen der symmetrischen Möglichkeiten gefordert, die je eigenen Interessen per Macht durchsetzen zu können. Nicht die Machtverhältnisse als solche werden in Frage gestellt, sondern bloß die Tatsache, dass nicht für alle gleiche Möglichkeiten der Machtausübung gegeben sind.

Solange allerdings bloß Herrschaft - die quasi geronnene Macht - bekämpft wird, ist es letztendlich gar nicht möglich, die in den Machtverhältnissen gegebene Voraussetzung derselben wahrzunehmen. Das Subjekt kann seinen Kampf um Befreiung ja nur mit »Waffen« führen, die innerhalb des intelligiblen Kosmos sinnvoll sind, und es kann auch nur Ziele anstreben, die in dieser Sphäre Sinn machen. Sowohl die Vorstellung, was Freiheit konkret bedeutet, als auch der Weg zur Freiheit sind durch die Machtverhältnisse in Gestalt der aktuell waltenden Vernunft begrenzt. Das Subjekt, als die konkrete Verwirklichungsform der Macht, wäre zu einem Transzendieren der Machtverhältnisse ja nur in der Lage, wenn es sich selbst negieren könnte. Per (instrumenteller) Vernunft kann die (instrumentelle) Vernunft aber nicht ausgehebelt werden - das Subjekt ist der Machtkritik nicht fähig. Wann immer mit den dem Subjekt zur Verfügung stehenden Mitteln der geltenden Vernunft eine Kritik der Machtverhältnisse angegangen wird, verkürzt sich diese umgehend zu bloßer Herrschaftskritik. Jeder Kampf gegen Herrschaft ist somit immer nur ein Kampf innerhalb der gegebenen Machtverhältnisse und keiner, der sich gegen diese selbst richtet. Letztendlich ist ein derartiger Kampf zu nichts anderem in der Lage, als zu bewirken, dass sich die Macht an einer anderen Stelle des Gesellschaftskörpers verfestigt - also bloß ein modifiziertes System der Herrschaft entsteht. Indem ihm nur die Vernunft als Instrument der Suche zur Verfügung steht, ist dem Subjekt das Finden eines Weges zu Ansätzen eines richtigen Lebens im falschen (vgl.: Adorno 1951: 18) tatsächlich verbaut - selbst Theorie- und Wissenschaftsansätze, die an Befreiung, Solidarität und Emanzipation orientierte sind, müssen sich in diesem Sinn in letzter Konsequenz als durch die gegebenen Machtverhältnisse korrumpiert erweisen. Der Kampf gegen Herrschaft tastet die Machtverhältnisse nicht nur nicht an, sondern festigt sie in ihrem Bestand letztendlich sogar noch.

Tatsächliche Emanzipation von der Macht durch Bildung?

Seiner am Anfang dieses Textes skizzierten Entstehungsgeschichte entsprechend, wohnt dem Bildungsbegriff seit seinem Entstehen das Versprechen einer »Selbstbefreiung« des Menschen inne. Bildung verspricht die Befähigung, durch die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Zwängen, Normen und Werten fähig zu werden, ein eigenverantwortliches, an einem selbst erkannten Sinn ausgerichtetes Leben führen zu können. Entstanden als Konsequenz des Unvermögens, die feudalen gesellschaftlichen Verhältnisse auf revolutionärem Weg zu überwinden, wurde Bildung als Kraft der Befreiung idealisiert, allerdings nicht mit politisch-revolutionärer Stoßrichtung, sondern im Sinne bloßer Geisteskultur. Ihre emanzipatorische Potenz wurde außergesellschaftlich verortet und Freiheit in die Dimension eines Privatbesitzes gerückt. Selbstbefreiung wurde zu einer von der gesellschaftlichen Realität und den spezifischen Existenzbedingungen von Subjekten unabhängig gegebenen Möglichkeit erklärt. »Bildung sollte sein, was dem freien, im eigenen Bewusstsein gründenden, aber in der Gesellschaft fortwirkenden und seine Triebe sublimierenden Individuum rein als dessen eigener Geist zukäme. Sie galt stillschweigend als Bedingung einer autonomen Gesellschaft; je heller die Einzelnen, desto heller das Ganze.« (Adorno 1959: 97) Seit damals bestimmt die Idee, eine Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch eine »bildungsmäßige Veredelung« der Menschen erreichen zu können, hartnäckig den Vorstellungshorizont deutschsprachiger Intellektueller. Der Grundgedanke der Bildungsidee lautet, dass Menschen durch Wissenserwerb und die Auseinandersetzung mit Wissen nicht bloß befähigt werden, im Rahmen jeweils gegebener Daseinsbedingungen mehr oder weniger gut zu über-leben. Die Förderung der intellektuellen Potenz von Menschen gilt darüber hinaus als die wesentliche Grundlage des Heranwachsens von Autonomie und Mündigkeit; dafür also, dass Menschen die Fähigkeit und den Mut entwickeln, sich den »Zumutungen der Macht« entgegenzustellen.

Wie zu zeigen versucht wurde, kann Macht jedoch durch eine Stärkung der Subjekte auf dem Weg, sie per Wissen und Wahrheit enger an die (herrschende) Vernunft zu binden, in ihrem Bestand nicht gefährdet werden; tatsächlich Vernunft zu binden, in ihrem Bestand nicht gefährdet werden; tatsächlich bedarf es dafür einer Schwächung der Subjekte. Wenn - im Sinne der klassischen emanzipatorischen Emphase - das Subjekt sein eigenes Werden und seine Verquickung mit den Machverhältnissen durch logisches Hinterfragen tatsächlich durchschauen könnte, wäre die Konsequenz auch gar nicht die »Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit«, sondern das Implodieren seines Subjektstatus. Um Macht tatsächlich zu transzendieren, müsste das Subjekt die Sphäre der instrumentellen Vernunft verlassen, sich damit aber selbst den Boden unter den Füßen wegziehen. Da das Subjekt durch den Eintritt in die Sphäre der Intelligibilität entsteht, ist es in seinem Fortbestand von dieser Sphäre existenziell abhängig. Die gegebenen Machtverhältnisse durch das Anwenden einer instrumentell nicht kastrierten »Antivernunft« infrage zu stellen und die innerhalb der gegebenen Machtverhältnisse idealisierte Kritikfähigkeit konsequent auf diese selbst anzuwenden, kommt einem illegalen Grenzübertritt in Richtung Nicht-Intelligibilität gleich. Dafür bedarf es in der Tat Mutes - allerdings nicht jenes, »sich seines Verstandes ohne Anleitung durch andere zu bedienen«, sich also jenes Denkkorsett autonom anzulegen, das qua Instrumentalisierung der Vernunft in den letzten Jahrhunderten zur Standardausstattung des Subjekts geworden ist. Um die auf Grundlage des sich selbst per instrumenteller Vernunft definierenden und disziplinierenden Subjekts beruhenden Machtverhältnisse zu überwinden, ist der Mut gefordert, den durch die herrschende Vernunft in das Prokrustesbett der Macht gezwungenen Verstand über Bord zu werfen - sich also gewissermaßen selbst aufzugeben. Gefordert ist jener Mut, den Wittgenstein (1963: 111) am Ende seines Tractatus logico-philosophicus anspricht: die Leiter [der Vernunft - E.R.] wegzuwerfen, nachdem man auf ihr hinaufgestiegen ist.

Erst wenn das Subjekt sich quasi selbst loslässt und insofern zu einem anderen wird, als es (in Teilbereichen) den Anruf negiert, sich zu sich selbst, zu anderen und zur Natur so zu verhalten, wie es einem als »vernünftig geltenden Subjekt« zukommt, beginnt eine Reise zu Ufern jenseits der aktuellen Machtverhältnisse. In diesem Sinn folgert Foucault, dass (tatsächliche) Kritik am System erst dann gegeben ist, wenn diese sich nicht bloß darin erschöpft, eine Überprüfung unter dem Anspruch der Vernunft vorzunehmen, sondern sich in Form einer praktischen Verweigerung einer bestimmten Subjektivitätsform äußert (vgl.: Masschelein 2004: 95). Kritik ist für ihn deshalb nicht als rationaler Akt zu fassen, sondern als »Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin« (Foucault 1992: 15). Wie Masschelein (2003: 139) schreibt, wird Mündigkeit »in dieser Linie nicht als rationale Autonomie und Projekt rationaler Kritik gesehen, sondern als eine praktische Haltung, in der man sich der Interpellation, sich auf diese bestimmte Weise zu sich selbst und anderen zu verhalten, entzieht«. »Ein solches Unternehmen« - so Foucault - »ist das einer Ent-Subjektivierung«, eine Aktion, in der sich »das Subjekt von sich selbst losreißt« und daran hindert, weiterhin »derselbe zu sein« (Foucault 1996: 27).

Ein Heranwachsender konstituiert sich als eine den aktuell gegebenen Machtverhältnissen entsprechende Subjektivität durch die existenzielle Erfahrung, nur dann als vollwertiges Mitglied der menschlichen (Interaktions-)Gemeinschaft anerkannt zu werden, wenn sein »sich auf andere Beziehen« in Form von Strukturen und Begriffen zur Geltung kommt, die sich innerhalb der Grenzen des intelligiblen Raumes befinden. Die Erfahrung der Anerkennung bringt Menschen dazu, sich als ein mit den Machtverhältnissen konformes Subjekt zu kreieren und diese Subjektivitätsform fortlaufend auszubauen. Foucault formuliert dazu: »Der Mensch ist ein Erfahrungstier: Er tritt ständig in einen Prozess ein, der ihn als Objekt konstituiert und ihn dabei gleichzeitig verschiebt, verformt, verwandelt - und ihn als Subjekt umgestaltet.« (Ebd.: 85) Der Anspruch, die eigene machtgemäße Subjektivitätsform zu relativieren, setzt demgemäß voraus, die Grenzen des »normalen« Erfahrungsraumes zu überschreiten, sich Erfahrungen auszusetzen, die im Rahmen der gegebenen Machtverhältnisse nicht vorgesehen sind, und dadurch eine Veränderung seiner selbst - die seine (weitere) Anerkennbarkeit gefährdet - zu riskieren. Unter Bezugnahme auf Nietzsche, Blanchot und Bataille weist Foucault darauf hin, dass sich das Subjekt, indem es sich auf derartige (Grenz-)Erfahrungen einlässt, selbst dazu bringen kann, Dinge »mit anderen Augen wahrzunehmen« (ebd.: 32) und »nicht mehr dasselbe zu denken wie zuvor« (ebd.: 24). Aber auch wenn Foucault in diesem Zusammenhang von »Ent-Subjektivierung« oder »Auflösung« des Subjekts spricht, geht es dabei nicht um das empirische Verschwinden des Subjekts. Denn tatsächlich »haben Menschen im Laufe ihrer Geschichte niemals aufgehört [...] sich selbst zu konstruieren [...]. Die Serie von Subjektivitäten wird niemals zu einem Ende kommen und uns niemals vor etwas stellen, das 'der Mensch' wäre.« (Ebd.: 85) Ziel kann somit nicht der endgültige Abschied vom Subjekt oder das Freisetzen beziehungsweise Wiedergewinnen einer vorausgesetzten »wahren Natur« des Menschen sein. Anzustreben ist keine wie immer definierte Vollkommenheit, sondern »bloß« ein sich »nicht derart« mit sich selbst Identifizieren - es geht um eine »Erschütterung der [...] Seins- und Selbstgewissheit« (Lüders 2007, 142) und der mit dieser korrelierenden Wahrheiten. In Anlehnung an eine häufig zitierte Formulierung Foucaults zum Ziel von Kritik (1992: 12) geht es darum, existenziell zu erfahren, nicht ein solches Subjekt und nicht dieser Macht in derartiger Form unterworfen sein zu müssen.

Indem »[d]ie gesellschaftliche Konstitution von Subjektivität bedingt, dass die Linien des gesellschaftlichen Konflikts um Emanzipation nicht einfach zwischen einzelnen Menschen oder Menschengruppen verlaufen, sondern auch mitten durch die je Einzelnen hindurch« (Bierwirth 2013: 33), setzt tatsächliche (und nicht bloß als Bewusstwerden und Verfolgen der je eigenen Interessen verstandene) Emanzipation das Transzendieren der durch die aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen geforderten Subjektivitätsform voraus - allerdings nicht (bloß) in Form rationaler Auseinandersetzung, sondern »in der Tat«. »Die Transformation der Verhältnisse ist keine Angelegenheit des Geistes, sondern eine der Praxis, die durch die Ungewissheit ihres Ausgangs gekennzeichnet ist. Die Innerlichkeit des vom Christentum initiierten und von Kant weitergeführten moralischen Denkens wird damit aufgebrochen und existenziell wie experimentell nach Außen gewendet. Durch einen Übertritt gelangt man nicht in einen Raum frei von Macht, sondern erreicht nur Veränderungen in den je aktuellen Macht-Wissen-Konstellationen.« (Riefling 2012: 160) Eine derartige konkrete, »veränderte Erprobung seiner selber« stellt nach Foucault als praktische »Kritik dessen, was wir sind, zugleich die historische Analyse der uns gegebenen Grenzen [...] und ein Experiment der Möglichkeit ihrer Überschreitung« (Foucault 1990: 53) dar. Konkret bedeutet die »veränderte Erprobung seiner selbst« nichts anderes als ein Sich-Einlassen auf Erfahrungen, die über den Erfahrungshorizont hinausweisen, den das »vernünftige System« üblicherweise bereitstellt, und die dazu animieren, das Verhältnis zu sich selbst und zur Welt unmittelbar anders zu begreifen. Das Subjekt kann sich von den es bestimmenden, habitualisierten Machtverhältnissen nur emanzipieren, indem es sich »aussetzt« und in Erfahrungen »stürzt«, mittels derer es sich selbst der Basis seiner Existenz beraubt. Der »normale« Erfahrungsraum, in dem sich Menschen im Rahmen des gegebenen gesellschaftlichen Systems bewegen, ist durch Verwertung und Konkurrenz definiert. Erfahrungen dieser Art stellen - im durchaus wörtlichen Sinn - den »Nährboden« der herrschenden Vernunft und der aus ihr gespeisten Subjektivitätsform dar, der gemäß es schlichtweg verrückt ist, Mitmenschen nicht als Konkurrenten und die Welt (einschließlich seiner selbst) nicht als Ausbeutungsobjekt wahrzunehmen und zu behandeln.

Eine Bildungstheorie, der Ent-Subjektivierung im Sinne Foucaults ein Anliegen wäre, müsste somit derartige Prozesse des Überschreitens des durch die Machtverhältnisse limitierten Erfahrungsraumes in das Zentrum ihrer Bemühungen stellen. Das Subjekt wäre für sie nur insofern Ansprechpartner, als es darum ginge, es in seiner Selbstgewissheit zu irritieren und zum (zeitweiligen) Schweigen zu bringen. Bedingung der Möglichkeit von Bildung wäre nicht das aus seinem Wissen Selbstsicherheit schöpfende Subjekt, sondern die Absenz des mit sich identischen Selbst. Das Ziel von Bildungsbemühungen bestünde im Versuch, Subjekte zu ermutigen, die Grenzen ihrer Anerkennbarkeit aufs Spiel zu setzen und Sehnsüchten Platz zu machen, die aus der vor- und außerdiskursiven Sphäre hervordrängen, den Kriterien der herrschenden Vernunft entsprechend aber keinen Sinn ergeben und dem Subjekt deshalb als irrational, naiv und »kindisch« erscheinen (müssen). Es ginge darum, jenen Anteil des Menschen zu stärken, der in der Psychotherapie verschiedentlich allegorisch als »inneres Kind« apostrophiert wird. Wenn im Zentrum der Bildungstheorie nicht die Emanzipation des Subjekts, sondern die Emanzipation vom Subjekt steht, gilt es das Individuum mit ihm innewohnenden Momenten zu versöhnen, die nicht oder zumindest nicht völlig dem diskursiven Raum eingemeindet sind. Eine derartige Bildungstheorie müsste somit ernst nehmen, was von Deleuze/Guattari (1992) in Anlehnung an Spinozas Affekttheorie als »Begehren« bezeichnet wurde, mit dem sie aber nicht einfach Triebe, Gefühle oder Emotionen ansprechen, sondern Affektionen des Körpers, die aus einer prä-subjektiven Sphäre in die subjektive Existenz des Individuums hinüberstrahlen. Und sie müsste Menschen Mut machen, ihr (irrationales) Begehren zum Anlass zu nehmen, die Grenzen der durch die gegebenen Machtverhältnisse limitierten Formen der Bezugnahme auf sich selbst, andere Menschen und die Natur experimentell zu überschreiten. Derartige Selbstrelativierungserfahrungen lassen sich allerdings weder didaktisieren noch reflektierend »bearbeiten« - sie können sprachlich nicht repräsentiert werden und entziehen sich dem vernünftigen Zugang. Wie Thompson unter Bezugnahme auf die Ausführungen Foucaults in dessen »Vorrede zur Überschreitung« betont, bewegen sich derartige Erfahrungen »in der 'Ohnmacht ihrer Sprache'. Die Beteiligten sind nicht in der Lage, das zu thematisieren, was so verstörend und deplatzierend gewesen ist. Mit anderen Worten: Dieser Erfahrungsprozess existiert nicht als Realität, sondern lediglich als Bezug zur Auflösung des Subjekts als in Machtstrukturen konstituiertes.« (Thompson 2009: 194) »Der existenziell zu vollziehende Akt der Überschreitung ist, ebenso wie die ihn möglich machende Kritik, singulär und lokal« und »erschöpft sich in der Gelegenheit, die ihn auslöst.« (Riefling 2012: 164).

Eine Bildungstheorie, die zur Kenntnis nimmt, dass Kritik an den und Widerstand gegen die Machtverhältnisse nur durch ein auf Basis individueller Erfahrungen ausgelöstes Relativieren des an die herrschende Vernunft geketteten Subjekts möglich wird, müsste bis dato sakrosankte bildungstheoretische Prämissen aufgeben. Vor allem müsste sie sich von der optimistischen Annahme der in den gesellschaftlichen Prozess eingespannten formalisierten Vernunft als den Gegenspieler der Macht und damit einhergehend von der Vorstellung verabschieden, dass Emanzipation von den Machtverhältnissen als Akt der Vernunft begriffen und unter Bezugnahme auf diese angeregt werden kann. Stattdessen müsste sie anerkennen, dass eine Sphäre jenseits der diskursiv konstruierten Intelligibilität existiert, eine Sphäre, die jenen Impulsen der Menschlichkeit Asyl bietet, die den Standards der herrschenden Vernunft nicht untergeordnet sind und durch die Machtverhältnisse nicht kanalisiert werden - und sie müsste schließlich genau diese Sphäre zu ihrer Domäne erklären. Nur ein derartiger »Abschied vom Subjekt« böte einen Ansatz für das Aufbrechen der gegebenen Komplizenschaft von Bildung und Macht, die sich darin zeigt, dass die Bildungsidee - obzwar sie mit emanzipatorischem Pathos in die Welt gesetzt wurde und an ihrem machtkritischen Nimbus bis heute krampfhaft festhält - seit ihrem Entstehen die Legitimation für die Selbststeuerung der Subjekte im Sinne der Machtverhältnisse abgibt.


Literatur

ADORNO, Theodor W. (1951): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

ders. (1959): Theorie der Halbbildung. In: ders.: Gesammelte Schriften Band 8. Soziologische Schriften I (hg. von R. Tiedemann), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 93 ff.

ADORNO Theodor W.; Horkheimer Max (2000): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag.

BIERWIRTH, Julian (2013): Gegenständlicher Schein. Zur Gesellschaftlichkeit von Zweckrationalität und Ich-Identität. In: Krisis 3/2013.

BIERWISCH, Manfred (2008): Bedeuten die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt? In: Kämper, Heidrun; Eichinger, Ludwig M. (Hg.): Sprache - Kognition - Kultur. Sprache zwischen mentaler Struktur und kultureller Prägung. (Jahrbuch 2007 des Instituts für Deutsche Sprache), S. 323 ff., Berlin: Walter de Gruyter.

DELEUZE, Gilles; Guattari, Felix (1992): Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin: Merve Verlag.

FOUCAULT, Michel (1978): Wahrheit und Macht. Interview mit A. Fontana u. P. Pasquino. In: ders., Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve Verlag, S. 21 ff.

ders. (1990): Was ist Aufklärung? In: Erdmann, Eva; Forst, Rainer; Honneth, Axel (Hg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Frankfurt a.M. und New York: Campus, S. 35 ff.

ders. (1992): Was ist Kritik? Berlin: Merve Verlag.

ders. (1994): Von der Freundschaft als Lebensweise. Gespräch mit René de Ceccatty, Jean Danet und Jean le Bitoux, in: ders. Von der Freundschaft als Lebensweise. Michel Foucault im Gespräch. Berlin: Merve Verlag, S. 85 ff.

ders. (1994): Warum ich Macht untersuche: Die Frage des Subjekts, in: Dreyfus, Hubert; Rabinow, Paul: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, 2. Aufl., Weinheim: Beltz Athenäum Verlag, S. 243 ff.

ders. (1996): Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.

FREUD, Sigmund (1917): Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse. In: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, Bd. V, S. 1 ff.

KLEIN, Peter (2005): Die Schizophrenie des modernen Individuums, in: Krisis 29, Kritik der Warengesellschaft.

KOTTHOFF, Helga (2006): Sprache und Sprechen. In: Scherr, Albert (Hg.): Soziologische Basics. Eine Einführung für Pädagogen und Pädagoginnen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 164 ff.

LUDEWIG, Karin (2002): Die Wiederkehr der Lust. Körperpolitik nach Foucault und Butler. Frankfurt a.M., New York: Campus Verlag.

LÜDERS, Jenny (2007): Ambivalente Selbstpraktiken. Eine Foucault'sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs. Bielefeld: Transcript Verlag.

MARX, Karl; Engels, Friedrich (1990): Die deutsche Ideologie, in: dies.: Werke, Band 3, Berlin: Dietz.

MASSCHELEIN, Jan (2003): Trivialisierung von Kritik. Kritische Erziehungswissenschaft weiterdenken, in: Benner et al. (Hg.): Kritik in der Pädagogik. Versuche über das Kritische in Erziehung und Erziehungswissenschaft. Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 46. Weinheim, Basel, Berlin: Beltz Verlag, S. 124 ff.

ders. (2004): 'Je viens de voir, je viens d'entendre'. Erfahrungen im Niemandsland, in: Ricken, Norbert; Rieger-Ladich, Markus (Hg.): Michel Foucault: Pädagogische Lektüren. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 95 ff.

MESSERSCHMIDT, Astrid (2012): Michel Foucault (1926-1984), in: Dollinger, Bernd (Hg.): Klassiker der Pädagogik. Die Bildung der modernen Gesellschaft. Wiesbaden: VS, S. 298 ff.

RIBOLITS, Erich (2011): Bildung - Kampfbegriff oder Pathosformel. Über die revolutionären Wurzeln und die bürgerliche Geschichte des Bildungsbegriffs. Wien: Löcker.

RIEFLING, Markus (2012): Die Kultivierung der Freiheit bei der Macht. Eine pädagogische Betrachtung von Grenzziehung und Grenzüberschreitung. Wiesbaden: Springer VS.

ROSE, Nikolas (2000): Das Regieren von unternehmerischen Individuen. In: Kurswechsel 2/2000, S. 8 ff.

THOMPSON, Christiane (2009): Bildung und die Grenzen der Erfahrung. Randgänge der Bildungsphilosophie. Paderborn: Ferdinand Schöningh.

WITTGENSTEIN, Ludwig (1963): Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

ders. (2003): Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

*

Rezens

Verena Zeltner:
Kornblumenkinder.
Klak-Verlag, Berlin 2015,
217 Seiten, ca. 14,90 Euro

Jule, Teenager, freut sich auf die bevorstehende Amerikareise mit den Großeltern. Unerwartet muss ihr Großvater ins Krankenhaus. Unzählige Stunden verbringt sie an seinem Krankenbett. Der sympathische Praktikant Andri aus dem Kosovo, der sich humorvoll um seine Patienten kümmert, geht ihr nicht mehr aus dem Kopf. Die Sommerlaune gerät aus den Fugen, als Jule plötzlich das Tagebuch ihres Großvaters findet.

Sie liest darin und taucht" ein in eine ihr unbekannte Welt. Von der Zeit des Kalten Krieges, in der ihr Opa aufwuchs, erfährt aus den Aufzeichnungen, vom Bau der Berliner Mauer 1961 und der Zwangsumsiedlung seiner Familie, aus dem grenznahen Thüringen ins entfernte Leipzig. Und vom Misstrauen, denen er damals ausgesetzt war, in der Schule und im Wohnort. Der Großvater, heute ein berühmter Opernsänger, vertraut sich nach vielen Jahren seiner Enkelin an. Jule, Symbolfigur einer neuen Generation, rebelliert gegen die fremdenfeindlichen Äußerungen des Vaters und durchbricht das Schweigen der Großelterngeneration.

Verena Zeltner hat das Thema Zwangsumsiedelung 1961 in der DDR, ein weitgehend unbekanntes Stück Zeitgeschichte, aufgearbeitet. Sie verbindet gekonnt Zeitgeschichte und spannende Unterhaltung. Die Autorin erhielt zwischen 2009 und 2015 Stipendien des Thüringer Kultusministeriums und der Kulturstiftung Thüringen.

C.S.

*

Irratio capitalis
Über die Idiotie des bürgerlichen Systems

von Emmerich Nyikos

"Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils."
(Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung)


1. Was eigentlich ist ratio, ein Konzept, das seit geraumer Zeit von allen Seiten angeschwärzt wird - wobei sich die Post-Modernen besonders hervortun -, angeschwärzt, genauer gesagt, seit den Bemühungen des kritischen Duos - postmodern avant la lettre -, das sich "Adorno und Horkheimer" nennt?

Offensichtlich hat ratio mit dem Denken zu tun, das der Praxis vorausgeht und ihr eine Richtung verleiht: damit, dass man überprüft, ob die Methoden, die man anzuwenden gedenkt, auch tatsächlich mit dem, was man anstrebt, korrespondieren. Vernünftig ist in diesem Sinne, was sich als zweckgerichtet, als zielführend, mithin als verhältnismäßig erweist.

2. So gesehen ist es nicht unangebracht, das Tun der Bourgeoisie als rational einzustufen: Denn die Methoden, die das Kapital appliziert, um Profite zu machen, sind diesem Projekt stets angemessen.

Abwässer werden ungeklärt in Seen, ins Meer, in die Flüsse geleitet? Abgase ungefiltert in die Luft? Giftiger Müll wird wie gewöhnlicher Abfall entsorgt? Was könnte rationaler vom Standpunkt des Kapitalsubjekts sein? Denn alle Maßnahmen, die dazu dienen, den Profit nicht zu schmälern, sind der raison d'être des Kapitals adäquat.

Geplante Obsoleszenz, dergestalt, dass ein Gerät nach vorgegebener Zeit durch einen eingebauten Defekt unbrauchbar wird? Mode? Rascher Wechsel von einem Modell hin zum nächsten? Alles rational, da es den Absatz und damit auch die Profite erhöht.

Anstelle von Nahrungsmitteln baut man Pflanzen zur Gewinnung von Treibstoffen an oder nutzt, tout court, Nahrungsmittel als Treibstoff? Warum denn auch nicht, wo dies doch gewiss lukrativ ist?

Man destabilisiert ganze Weltregionen und stürzt sie ins Chaos? Das ist durchaus vernünftig, steigert es doch in letzter Instanz den Absatz von Waffen und damit den Profit der respektiven Konzerne.

Vernünftig ist, was die "Rendite" erhöht - und genau darum und um nichts anderes geht es, sei es in diesem oder in jenem Bereich, sei es hier oder dort, sei es gestern, sei es heute oder auch morgen.

3. Wasserverseuchung, Luftverpestung, Vergiftung der Umwelt, Ressourcenverschwendung, Ressourcenvernichtung Steuerevasion, Destabilisierung und Chaos - das also ist das rationale Verhalten vom Standpunkt der Akteure des bürgerlichen Systems. Vom Standpunkt der Gesellschaft als solcher hingegen stellt sich genau dasselbe Verhalten als völlig vernunftbefreit dar.

In der Tat, es kommt immer auf den Blickpunkt an, von dem aus man die Dinge betrachtet, wenn es darum zu tun ist, eine Praxis als rational oder irrational einzustufen. Was nämlich aus der Mikroperspektive des Privaten als rational, als völlig vernünftig erscheint, ist es aus der Makroperspektive der Gesellschaft mitnichten.

Überhaupt ist es so - das sei nur nebenbei bemerkt -, dass Idioten in ihrer Borniertheit, was das bornierte Verhalten betrifft, durchaus rational operieren, so dass sie oftmals den Eindruck vermitteln, eben keine Idioten zu sein, obgleich sie es zweifellos sind, wenn man Maßstäbe anlegt, die nicht ihrem bornierten Gesichtskreis entstammen.

4. Vernunft wird zur Unvernunft, je nach dem Blickpunkt. Oder anders gesagt: Ist der Gesichtskreis borniert, so ist die Vernunft limitiert, und limitierte Vernunft (die Beschränktheit schlechthin), ist, von einer höheren Sichtwarte aus - aus einem Blickwinkel, der es erlaubt, die Zusammenhänge zu sehen -, Unvernunft auf höchstem Niveau.

Ist der Profit, die Maximierung des Tauschwerts, die raison d'être der Praxis, dann ist alles vernünftig, was diesem Zweck dient; geht es dagegen um den Gebrauchswert, um den Stoffwechsel mit der Natur, um die Gesellschaft, telle quelle, dann allerdings erweist sich die kapitalistische Praxis als Ausbund irrationalen Verhaltens, weil bar jeden Gedankens, der über den Kirchturmhorizont der Profitmaximierung, mithin über das Ego des ewigen Präsens der kapitalistischen Praxis hinausweist.

Dass der Standpunkt der Geschichte (der Vor-, Mit- und der Nachwelt) und nicht der des Privaten, des Hier und des jetzt, der adäquate ist, das allerdings kann nur insofern begründet werden, als die bornierte Praxis Resultate hervorbringt, die, à la longue wenigstens, der Intention der Akteure konträr sind und, schlimmer noch, das, was unmittelbar erreicht worden ist, meistens am Ende zu allem Überfluss noch konterkarieren.

Die bürgerliche Praxis von heute, um beim Thema zu bleiben, führt genau dadurch sich selbst ad absurdum, dass sie die Lebensgrundlagen der Gesellschaft als solcher in ihrer Substanz untergräbt und deswegen, was sich von selber Versteht, auf lange Sicht auch die Basis, auf welcher jedwedes private Verhalten und damit auch die kapitalistische Praxis beruht.

5. Es ist ein Glücksumstand für das bürgerliche System, dass es im Mikrobereich rational operiert. Denn insofern dies so ist, fällt es nicht schwer, sich darin zu täuschen, dass dies auch im Makrobereich nicht anders sein kann, womit dann auch jeder Gedanke, das System abzulösen, schlicht undenkbar wird.

Schlimmer aber noch ist: Insofern nämlich das irrationale Verhalten, das die Praxis der Bourgeoisie im Makrobereich zweifelsfrei ist, sich dem "kritischen Geist" als rational präsentiert und dieser daher nicht verfehlt, die Rationalität höchstselbst anzugreifen, wird zugleich das Instrument denunziert, welches allein der Absurdität des Systems ein Ende zu setzen vermöchte - die rationale Überlegung, deren Blickpunkt der der Geschichte ist: des Gesamtzusammenhangs in allen seinen Dimensionen, synchron und diachron, strukturell und historisch.

So erweist sich, dass, wer die Vernunft attackiert, genau denen Vorschub leistet, die darauf angewiesen sind, dass das System eben nicht adäquat hinterfragt wird - dass man es nicht schonungslos demaskiert. Dazu ist, wie so oft, nur zu sagen: Gut gemeint vielleicht, fatal jedoch in seinen Konsequenzen.

*

Die Wanderratten
Gedicht für gestern und heute

von Hermann Engster

Die Wanderratten

von Heinrich Heine

Es gibt zwei Sorten Ratten:
Die hungrigen und satten.
Die satten bleiben vergnügt zu Haus,
Die hungrigen aber wandern aus.

Sie wandern viel tausend Meilen,
Ganz ohne Rasten und Weilen,
Gradaus in ihrem grimmigen Lauf,
Nicht Wind noch Wetter hält sie auf.

Sie klimmen wohl über die Höhen,
Sie schwimmen wohl durch die Seen;
Gar manche ersäuft oder bricht das Genick,
Die Lebenden lassen die Toten zurück.

Es haben diese Käuze
Gar fürchterliche Schnäuze;
Sie tragen die Köpfe geschoren egal,
Ganz radikal, ganz rattenkahl.

Die radikale Rotte
Weiß nichts von einem Gotte.
Sie lassen nicht taufen ihre Brut,
Die Weiber sind Gemeindegut.

Der sinnliche Rattenhaufen,
Er will nur fressen und saufen,
Er denkt nicht, während er säuft und frisst,
Dass unsre Seele unsterblich ist.

So eine wilde Ratze,
Die fürchtet nicht Hölle, nicht Katze;
Sie hat kein Gut, sie hat kein Geld
Und wünscht aufs neue zu teilen die Welt.

Die Wanderratten, o wehe!
Sie sind schon in der Nähe.
Sie rücken heran, ich höre schon
Ihr Pfeifen - die Zahl ist Legion.

O wehe! wir sind verloren,
Sie sind schon vor den Toren!
Der Bürgermeister und Senat,
Sie schütteln die Köpfe, und keiner weiß Rat.

Die Bürgerschaft greift zu den Waffen,
Die Glocken läuten die Pfaffen.
Gefährdet ist das Palladium
Des sittlichen Staats, das Eigentum.

Nicht Glockengeläute, nicht Pfaffengebete,
Nicht hohlwohlweise Senatsdekrete,
Auch nicht Kanonen, viel Hundertpfünder,
Sie helfen Euch heute, Ihr lieben Kinder!

Heut helfen Euch nicht die Wortgespinste
Der abgelebten Redekünste.
Man fängt nicht Ratten mit Syllogismen,
Sie springen über die feinsten Sophismen.

Im hungrigen Magen Eingang finden
Nur Suppenlogik mit Knödelgründen,
Nur Argumente von Rinderbraten,
Begleitet mit Göttinger Wurst-Zitaten.

Ein schweigender Stockfisch, in Butter gesotten,
Behaget den radikalen Rotten
Viel besser als ein Mirabeau
Und alle Redner seit Cicero.


Ratten haben ein schlechtes Image. Das war nicht immer so. Im Mittelalter war es besser, da galten sie als intelligent, geschickt und sozial hochorganisiert. In fernöstlichen Kulturkreisen ist ihr Ansehen bis heute unverändert gut. In Europa erlitt es einen Niedergang, als Ratten als Überträger der Pest erkannt wurden. Doch ist im kollektiven Unbewussten die alte positive Bewertung nie ganz geschwunden, wie z.B. unlängst der französische Film Ratatouille zeigte, in dem eine kulinarisch hochtalentierte Ratte einem jungen Mann zu einer Karriere als Spitzenkoch verhilft. Das Image der Ratte ist also durchaus ambivalent, und das spiegelt sich auch in Heines Gedicht.

Die Ratten sind eine Nagetiergattung, von denen die Zoologie 65 Arten kennt. Heine konzentriert sich auf zwei von ihnen (und kennt wohl auch nicht mehr), die er nicht nach zoologischen Kriterien, sondern nach dem Grad bestimmter elementarer körperlicher Empfindungen klassifiziert: Die hungrigen und die satten. Letztere sind offenbar die Hausratten (Rattus rattus): diese, so Heine, bleiben vergnügt zu Haus; jene, die hungrigen, sind die Wanderratten (Rattus norvegicus): Die aber wandern aus.

Sie werden detailliert und plastisch beschrieben: in ihrem Aussehen, Charakter und Handeln. Sie sind wahrlich keine Schönheiten, denn harte Entbehrungen haben sie gezeichnet, und sie sind zudem von äußerst fragwürdiger Wesensart und Gesinnung: Sie sind sinnlich und verfressen, disziplinlos, sexuell promisk, radikal, gottlos, lassen ihre Nachkommen nicht taufen, pfeifen auf die Unsterblichkeit ihrer Seele, Geld und Gut haben sie sowieso nicht, wünschen aber trotzdem - und vielleicht auch gerade deswegen - aufs neue zu teilen die Welt. Und womöglich nicht einmal teilen, denn so wie sie drauf sind, wollen sie nicht nur ihr Stück am Kuchen oder besser: Käse, sondern die ganze Bäckerei resp. Molkerei. Und das ist nicht nur Maulheldentum, sondern wirklich gefährlich. Denn der Hunger hat sie aggressiv gemacht, sie wandern viele tausend Meilen / ganz ohne Rasten und Weilen, sie fürchten nicht Hölle, nicht Katze, in ihrem grimmigen Lauf hält sie nichts auf, weder Gebirge noch Seen, mögen manche dabei sich das Genick brechen oder ersaufen - egal, die Lebenden lassen die Toten zurück. Verluste spielen keine Rolle, denn ihre Zahl ist Legion, und hier bemüht Heine, um die schreckenerregende Dämonie zu veranschaulichen, eine Geschichte aus der Bibel, in der Jesus aus einem Besessenen einen bösen Geist austreibt, diesen nach dem Namen fragt, und der zur Antwort gibt: Legion heiße ich, denn wir sind unser viele. (Markus, 5,9; "Legion" bezieht sich dabei auf die römische Heereseinheit, die 3000 bis 6000 Soldaten umfasste.)

Die Hausratten sind ob der Gefahr ratlos, Panik greift um sich, man greift zu den Waffen, / die Glocken läuten die Pfaffen. Die Gefahr ist immens, denn gefährdet ist das Palladium. Das Palladium, griech. Palladion, war im antiken Troja das Bildnis der Pallas Athene, der Schutzherrin der Stadt; hier ist es das Allerheiligste des sittlichen Staats, also - und da ist eine Anspielung auf Hegel versteckt - des nach ethischen Prinzipien eingerichteten bürgerlichen Staats, und dieses Heiligtum ist keine Göttin wie weiland in Troja, sondern ein wichtiges Gut. Dieses ist nicht Leben oder Freiheit oder was sonst die Menschenwürde ausmacht, sondern es ist das für den Staat der Hausratten oberste aller Güter: das Eigentum. Und es ist sinnreich, dass beide Begriffe, Palladium und Eigentum, ein Reimpaar bilden, ebenso wie die Waffen sich auf Pfaffen reimen, die jene nach gutem Brauch zuvor gesegnet haben. Denn eine Hand wäscht die andere, und wenn dies mit Weihwasser geschieht, dann kann Gottes Segen nicht ausbleiben.

Doch nichts mehr hilft. Da hat sich die Hausrattengesellschaft ein Strafgesetzbuch geschaffen, das mit vier Fünfteln seiner Paragraphen dem Schutz ihres Eigentums dient, doch schert das die Wanderratten nicht im Geringsten. Für die abgedroschenen Appelle an Wohlverhalten, gesellschaftlichen Konsens, Sozialpartnerschaft zeigen sie nur Verachtung. Nicht einmal Militär mit schwerer Artillerie imponiert ihnen. Die Werte, die ihnen die Hausrattengesellschaft zu bieten hat, verschmähen sie, es interessieren sie nur solche, welche die Gestalt von Suppen, Braten, Würsten, Knödeln und in Butter gesottenen Fischen annehmen, so, als kämen sie in einer Art Zeitsprung just aus Brechts Dreigroschenoper: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.

Who is who?

Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, ist natürlich aufgegangen, dass es sich um eine Fabel handelt, also um eine Erzählung, in der zwar Tiere auftreten, die aber von Menschen handelt. Und die unterhaltsam über etwas belehren will: Fabula docet et delectat. Klar ist, dass es sich bei den Hausratten um die braven Bürger handelt, die es zu Wohlstand und vielleicht auch mehr gebracht haben, die sich zu dessen Sicherung (und gegen die Verlierer in ihrer Gesellschaft) einen administrativen, repressiven und ideologischen Apparat geschaffen haben und nun das mehr oder minder schwer (eher letzteres) Erworbene gefährdet sehen.

Heine starb 1857 im Pariser Exil. Die Wanderratten sind eins seiner letzten Gedichte; wie der offene Schluss nahelegt, ist es wohl unvollendet geblieben. Wen die furchteinflößende Metapher von den Wanderratten meint, darauf haben einige Jahre zuvor zwei Autoren mit einer ähnlichen Schreckensmetapher einen Hinweis gegeben: Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet. Es ist der Beginn des Manifests der Kommunistischen Partei von Marx und Engels aus dem Jahr 1848.

Wie steht Heine zum Kommunismus? Heine beginnt seine literarische Karriere als Romantiker, er verkehrt in Berlin in den intellektuellen Salons der Rahel Varnhagen und anderer emanzipierter Frauen. Bald aber erkennt er, wie fragwürdig die Romantik mit ihrer Fixierung auf das Innerseelische ist, und dass sie die Augen vor der Realität verschließt. Als Jude selbst früh von Diskriminierungen gedemütigt und mit scharfem Blick für alles Unrecht ausgestattet, erkennt er die Realität der politischen Unterdrückung der bleiernen Zeit der Metternich'schen Ära und des zum Himmel schreienden sozialen Elends der Arbeiterschaft. Er wendet sich von der Romantik ab, bezeichnet sich spöttisch einmal selbst als "entlaufenen Romantiker" und sucht den Kontakt zu kritischen Intellektuellen, lernt Marx, Engels, Lassalle, den Kreis der Frühsozialisten um Saint-Simon kennen, arbeitet an Marx' Zeitschriften Vorwärts! und den Deutsch-Französischen Jahrbüchern mit. Aus Anlass des Aufstands der schlesischen Weber dichtet er sein zornentbranntes Weberlied, das Marx in 50.000 Exemplaren in den Aufstandsgebieten verteilen lässt und das unverzüglich von der preußischen Regierung verboten wird. (Sieh dazu meinen Aufsatz Heine und die Menschenware in Streifzüge 66.)

Um der Verfolgung zu entgehen, begibt er sich nach Paris ins Exil. Als er nach zwölf Jahren 1844 nach Deutschland zurückkehrt, hat er, als er die Grenze überquert, ein Erlebnis, das er in seinem Versepos Deutschland. Ein Wintermärchen beschreibt: Ein Mädchen singt mit wahrem Gefühle und falscher Stimme eine fromme Weise, und er stellt fest: Sie sang das alte Entsagungslied, / Das Eiapopeia vom Himmel, / Womit man einlullt, wenn es greint, / Das Volk, den großen Lümmel. Die Weise, stellt er sarkastisch fest, sei ihm allzu bekannt, und hält dagegen: Ein besseres Lied / O Freunde, will ich euch dichten, / Wir wollen hier auf Erden schon / Das Himmelreich errichten. Denn der Reichtum der Erde ist ungerecht verteilt, weil eine herrschende Klasse ihn auf Kosten der unteren Klassen sich aneignet: Es wächst hienieden Brot genug / Für alle Menschenkinder, / Auch Rosen und Myrten, / Schönheit und Lust, / Und Zuckererbsen nicht minder. / Ja, Zuckererbsen für jedermann, / Sobald die Schoten platzen! / Den Himmel überlassen wir / Den Engeln und den Spatzen.

Man mag seine Vision naiv nennen, weil sie unpolitisch ist. Aber am Beginn jeder Revolution steht eine Utopie, und poetischer kann man die kommunistische Idee einer von Not und Unterdrückung befreiten Gesellschaft einander gleicher Menschen nicht ausmalen.

Doch vor der befreiten Gesellschaft steht die Revolution. Als Heine bei einem Aufenthalt auf Helgoland im Sommer 1830, da war er 33 Jahre alt, vom Beginn der Juli-Revolution in Paris erfährt, begrüßt er sie enthusiastisch. In seinen Briefen aus Helgoland, die er zehn Jahre später als zweites Buch seiner Denkschrift für Ludwig Börne veröffentlicht, schreibt er unter dem Datum vom 10.8.1830:

Ich bin der Sohn der Revolution und greife wieder zu den gefeiten Waffen, worüber meine Mutter ihren Zaubersegen ausgesprochen ... Blumen! Blumen! Ich will mein Haupt bekränzen zum Todeskampf. Und auch die Leier, reicht mir die Leier, damit ich ein Schlachtlied singe ... Worte gleich flammenden Sternen, die aus der Höhe herabschießen und die Paläste verbrennen und die Hütten erleuchten ...
(DHA, Bd. 11, S. 50)

(Ein vordergründig zufälliges, historisch aber symbolisches Zusammentreffen ist zu konstatieren: Friede den Hütten, Krieg den Palästen - mit diesem Fanal beschließt Georg Büchner 1834 die Vorrede zu seiner aufrührerischen Denkschrift Der Hessische Landbote, unabhängig von Heine, dessen Brief Büchner noch nicht hat kennen können.)

Heines Begeisterung für die Revolution ist die eines Schwärmers. Doch bleibt er es nicht; dafür ist sein politischer Blick zu scharf und hellsichtig. Zwei Jahrzehnte später ahnt er sehr wohl, was eine kommunistische Umwälzung der Gesellschaft mit ihrer Radikalität und ihrer materialistischen Ausrichtung sowohl für die von ihm geliebte europäische Kultur im Allgemeinen als auch für ihn selbst im Besonderen bedeuten könnte. Welchen Preis würde er selbst dafür zahlen müssen? So schwankt er zwischen der Anerkennung der objektiven gesellschaftlichen Notwendigkeit und dem Hinnehmen der unvorhersehbaren Folgen für seine persönliche schriftstellerische Existenz.

Rattus communisticus horribilis

Er beschreibt seine Furcht im Jahr 1855, dem Jahr vor seinem Tod, im Entwurf seiner Vorrede zur französischen Ausgabe der Lutetia; (es handelt sich um Berichte, die er ab 1854 für die Augsburger Allgemeine Zeitung über Politik und Kultur in Frankreich schreibt):

Dieses Geständnis, dass den Kommunisten die Zukunft gehört, machte ich im Tone der größten Angst und Besorgnis, und ach! diese Tonart war keineswegs eine Maske! In der Tat, nur mit Grauen und Schrecken denke ich an die Zeit, wo jene dunklen Iconoklasten (i.e. Bilderstürmer) zur Herrschaft gelangen werden: mit ihren rohen Fäusten zerschlagen sie alsdann alle Marmorbilder meiner geliebten Kunstwelt, sie zertrümmern alle jene phantastischen Schnurrpfeifereien (i.e. ausgelassenen Spielereien), die dem Poeten so lieb waren; sie hacken mir meine Lorbeerwälder um und pflanzen darauf Kartoffeln. (...) Und ach! mein "Buch der Lieder" wird der Krautkrämer zu Tüten verwenden, um Kaffee oder Schnupftabak darin zu schütten. (...) Ach! das sehe ich alles voraus, und eine unsägliche Betrübnis ergreift mich, wenn ich an den Untergang denke, womit meine Gedichte und die ganze alte Weltordnung von dem Kommunismus bedroht ist. Und dennoch, ich gestehe es freimütig, übt derselbe auf mein Gemüt einen Zauber, dessen ich mich nicht erwehren kann. In meiner Brust sprechen zwei Stimmen zu seinen Gunsten, die sich nicht zum Schweigen bringen lassen. (...) Denn die erste dieser Stimmen ist die der Logik. (...) Und kann ich der Prämisse nicht widersprechen: "Dass alle Menschen das Recht haben zu essen", so muss ich mich auch allen Folgerungen fügen. (...). Die zweite der beiden zwingenden Stimmen, von welchen ich rede, ist noch gewaltiger als die erste; denn sie ist die des Hasses, des Hasses, den ich jenem gemeinsamen Feinde widme, der den bestimmtesten Gegensatz zu dem Kommunismus bildet und der sich dem zürnenden Riesen schon bei seinem ersten Auftreten entgegenstellen wird - ich rede von der Partei der sogenannten Vertreter der Nationalität in Deutschland, von jenen falschen Patrioten, deren Vaterlandsliebe nur in einem blödsinnigen Widerwillen gegen das Ausland und die Nachbarvölker besteht und die namentlich gegen Frankreich täglich ihre Galle ausgießen.
(DHA, Bd. 13/1, S. 294 f.)

Fausts zwei Seelen - Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust! - werden zerrissen zwischen Irdisch-Sinnlichem und Transzendent-Geistigem. Es sind die Qualen einer Kunstfigur, die, vermittelt, wohl auch die des Autors Goethe selbst widerspiegeln. Hier spricht Heine unmittelbar von sich selbst; und selten hat ein Dichter so schonungslos sein Herz offenbart: so wahrhaftig, so ergreifend. Und so politisch.

Rattus rattus triumphans

Den Wanderratten gelingt es, in einem Teil der Welt die Macht zu erringen und eine Gesellschaft nach ihren Prinzipien aufzubauen. Die bricht allerdings nach nicht einmal einem Jahrhundert zusammen: durch innere Widersprüche, äußeren Druck, eigene Fehler.

Dagegen war das System der Hausratten erfolgreicher. Mit scheinbar friedlichen Mitteln, meist mit Betrug und verdecktem Zwang, wenn es aber nottat, auch mit Gewalt, haben sie die halbe Welt sich unterworfen: Sie haben die Länder der anderen Rattenvölker unter sich aufgeteilt, durch willkürliche Grenzziehungen die angestammten Siedlungsgebiete zersplittert und so die Sprengsätze für künftige ethnische Konflikte gelegt; sie haben sie millionenfach versklavt, haben deren Bodenschätze geplündert, die Meere leergefischt, die traditionelle Wirtschaftsweise zerstört und sie zur Produktion zugunsten der Bedürfnisse der eigenen Rattenart gezwungen. Damit haben sie ihren eigenen Wohlstand auf eine früher kaum vorstellbare Weise vermehrt und sind stolz auf ihre Werte - die ökonomischen, politischen, moralischen - die sie den andern Rattenarten so überlegen gemacht haben. Sie haben dafür den Begriff Globalisierung erfunden und damit versprochen, an ihrem Glück die gesamte Rattenheit teilhaftig werden zu lassen. Und in der Tat, sie werden beneidet, denn sie leben gleich den von den alten griechischen Göttern geliebten Heroen im Elysium: auf einer Insel der Seligen. Doch an ihren Küsten regt sich etwas Unerwartetes, Angstmachendes.

Rattus migrans ante portas!

Durch ökonomisch-genetische Mutation ist eine neue Art von Wanderratten entstanden. Die politische Zoologie hat für sie den Terminus Rattus migrans geprägt. Was zu Heines Zeiten im nationalen Maßstab drohte, kehrt nun in internationaler Dimension wieder.

Diese Ratten sind die Verlierer des von den Hausratten erschaffenen globalen Systems. Sie sind ähnlich unansehnlich wie jene Wanderratten von damals. Nicht nur sind ihre Gesichter von Not, Verfolgung, Krieg und Armut gezeichnet, nicht nur sind sie Habenichtse, hungrige, zerlumpte Elendsgestalten - sie sind auch von dunklem Aussehen, und das macht sie in besonderer Weise fremd und bedrohlich. Und wie die alten wünschen auch die neuen Wanderratten aufs neue zu teilen die Welt - zumindest einen Anteil des auf ihre Kosten erworbenen Wohlstands sich zurückzuholen. Und darum wandern (sie) viel tausend Meilen / ganz ohne Rasten und Weilen (...) sie schwimmen durch die Seen - wobei es sich nun nicht mehr um Binnengewässer, sondern um ein veritables Meer, das Mittelmeer, handelt - und auch wenn gar manche (Ratte) ersäuft oder bricht das Genick, die nackte Not treibt sie weiter: Die Lebenden lassen die Toten zurück.

Apocalypse now

Es gibt zwei Sorten Ratten:
Die hungrigen und satten.
Die satten bleiben vergnügt zu Haus,
Die hungrigen aber wandern aus.

Mit dem Vergnügen der Satten hat es ein Ende:

Die Wanderratten, o wehe!
Sie sind schon in der Nähe. (...)
O wehe! Wir sind verloren,
Sie sind schon vor den Toren.


Was tun? Die Hausratten schließen in Panik den Brenner. Doch wird das nichts helfen. Denn wenn zahlreiche Exemplare der schwerfälligen Spezies Loxodanta africana (vulgo: Elefant), obendrein mit Hannibal und dessen gewaltigem Heer im Gefolge, die Alpen über eisige Pässe zu überqueren vermochten, so wird das für Rattus migrans ein Leichtes sein.


(Textausgabe: Das Gedicht und die weiteren Texte werden zitiert nach der Düsseldorfer Heine-Ausgabe (DHA), hsgg. von Manfred Windfuhr in Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut, 15 Bände, Hamburg 1975 ff.; das Gedicht in Bd. 3/1, S. 334 ff. Die Schreibung des Gedichts wie der folgenden Texte erfolgt der leichteren Lesbarkeit halber nach heutiger Rechtschreibung und Interpunktion.)

*

2000 Zeichen abwärts

S-Bahn Nr. 8. 2001

Müde nach der Arbeit. S-Bahn. Ich fahre zur Pseudo-Ruhe. Deutschland-Gesichter zwischen 17 und 88, drücken die Ärsche fest auf die Sitzplätze. Das Volk sitzt einig. Der Zug hält in Neuss. Eine junge kugelrunde Mutter steigt ein. Im Arm einen Säugling. Die Frau hat lustige Augen, müde Hände und Füße. Hinter ihr drängt ein Mann, leicht angeheitert, in die Bahn. Sofort erkennt das durch RTL-SAT-ZDF-ARD aufgestachelte Volk: Ausländer! Der lange bunte Rock; der Schnurrbart des Mannes. "Jawoll!"

Der im Takt des Zuges mitschwingende Mann fragt die vor ihm sitzenden Deutschen höflich, ob sie nicht einer Mutter mit Kleinkind auf dem Arm einen Sitzplatz gönnen könnten. Das Volk glotzt, schweigt zunächst vorsichtshalber. Gemeinheiten müssen erst im Hinterkopf gesammelt werden. Doch dann geht es los: "Widerlich." "Wir arbeiten den ganzen Tag. Da sitzen wir hier soviel herum, wie wir wollen!" "Was suchen diese Leute hier?" "Geht doch dorthin, wo ihr hergekommen seid!"

Der Zug mit der Arbeiterklasse und den Rentner/innen hält in Büttgen. Im Waggon wird ein Sitzplatz frei. Der Zug fährt an, die Frau mit dem Kind will den Sitzplatz erreichen. Muss an einer jungen Frau mit Brille vorbei. Die junge Frau schiebt den Fuß in den Gang, streckt die Ellbogen nach außen. Die junge Mutter, das Kind auf dem Arm, stolpert und muss sich anhören: "Pass doch auf. Kuck doch, bevor du losgehst. Versau mir nicht meine Lederjacke. Sau du."

50 Menschen im S-Bahnwaggon hören und sehen die gleiche Unverschämtheit. Ich leide, wäge ab, fühl mich feige und schwach, dann stark, merke das Wasser in den Augen. Sag dann doch, hinein in diese Ach-bald-gibt's-RTL-Programm-Gesichter: "Früher wär dies eine deutsche Mutter und ein deutsches Kind gewesen. Ganz Deutschland hätte ihr, judenfrei natürlich, einen Sitzplatz angeboten."

Schaffner-her-Geschrei! Unverschämtheits-Proteste. Wir mussten kämpfen, nicht aus der S-Bahn entfernt zu werden. Die Lichterketten-Gesichter, die hätten helfen können - aber die waren wohl alle mit dem PKW unterwegs!

D.B.

*

Zitterndes Glück

Kurd Adler. Zum 100. Todestag eines Vergessenen

von Franz Schandl

Kurd Adler schildert nicht vornehmlich die Welt der Schützengräben, sondern erzählt von einem Fühlen, einem tiefen poetischen Empfinden wider diese Welt. Stets schreibt er dabei nicht nur ums Überleben, sondern wirklich ums Leben. "Zitterndes Glück ahnt sich vorbei", heißt es im Gedicht Verheißung. Das ist die Botschaft. Er, dem Untergang wohl immer nahe und dann auch von ihm verschlungen, er wollte nicht untergehen. Aber er lag an der Front und er kam schließlich dort auch um. Genaueres weiß man nicht. Selbst die Suchmaschinen sind ratlos, entsprechende Forschungen über Leben und Werk stehen nicht zur Verfügung und somit noch aus.

Lust und Schrecken

Leben, das ist auch etwas, das als Vorahnung und Vorstellung, als Vorspiel und Vorlauf schon da ist, wenn auch bloß im Ansatz und nicht als Fülle. Der Traum, den Adler träumte, war kein Albtraum. "Lebe gestorben", schrieb etwa der im September 1915 gefallene August Stramm an Nell und Herwarth Walden. "Lebe lebendig", hätte Adler wohl antworten müssen. Beides ehrt beide.

Adler gab sich dem Schrecken nicht hin, sondern wollte aus dem Schrecken raus, rein in die Welt der gefüllten Badewannen und geöffneten Ventile. Seine Lust rührte nicht aus dem Schrecken, sie war wider ihn, nicht aus ihm. Da war nicht die Spur einer Todessucht, sondern vielmehr Lebensfreude. Der Krieg diente als Kontrast zu dem, was Leben hätte sein können. Und der Poet hatte diverse Imaginationen davon. Doch er, der sich soeben aktivierende Dichter war an der Front, dem denkbar ungeeignetsten Ort praktizierender Sinnlichkeit.

Was er schreibt und wo er schreibt, das sind verschiedene Dinge. Der Krieg ist nur eine Folie im Raum und wann immer er diese abziehen kann, zieht er sie ab. Der Lyriker im Krieg war kein Kriegslyriker. Selbstverständlich war da auch Melancholie, aber seine Grundstimmung oder besser sein Grundwollen war geprägt von einer vitalen Sendung. Dieser hatte er sich hingegeben. Leben wollte er, gut leben, nicht sterben. Was ihn beseelte, das war ein schierer Lebensdrang, und dieser glänzt da in geschliffenen Versen: Nicht amorph, nicht diffus, nicht morbid.

Natürlich könnte man über Interpunktionen und Zeilenumbrüche und einige unnötige Klammern diskutieren, indes war wohl wenig Zeit zu redigieren und Rücksprache zu halten. Es mag also kleine Schwächen geben, aber es gibt keine Spur einer Peinlichkeit. Dunkel ist dieser Dichter nicht, vielmehr hell in allen Schlüssen, "hochzeitshell" wie es bei ihm selbst heißt. Adler affirmiert nicht einfach das Leben, er bejaht des Lebens Möglichkeiten. Da möchte er zugreifen und zugegen sein. Nicht Angst prägte, sondern Lust.

Der Reim, obwohl in manchen Fällen noch existent, gestaltet nicht mehr die Gedichte. Er kann überlesen oder überhört werden. Er ist nämlich aus seiner Starre befreit, nur zufällig scheint er noch da zu sein, und verflüchtigt sich in den meisten Strophen ohnehin. Seine Gedichte sind nicht narrativ, aber sie sind auch nicht minimalistisch wie jene von August Stramm. Anders als bei Stramm, wo ein unermüdlicher Rhythmus die Zeilen diktiert, ist es bei Adler die Melodie, reich an Adjektiven, die nur selten ins Ornamentale kippen. Wird bei Stramm alles Überflüssige ausgesondert, so wird bei Adler das Flüssige noch flüssiger, Wortschätze werden oft geradezu hymnisch gehoben. Dieser Autor scheint (ähnlich Büchner) früh gereift zu sein, zumindest legt die innere Geschlossenheit seiner Poesie das nahe.

Adlers Lyrik ist weniger ambivalent vielsagend als dezidiert aussagend. Was er wollte und nicht hatte, das wusste er. So verzeichnen die lyrischen Würfe auch weniger die Bitterkeit des Krieges als die Liebe zum Leben. Dort, also da ist die große Alternative. Im Dasein. Ganz nahe und doch so fern. Der junge Mann ist ein Meister einer energetischen Umpolung. Schnell ist die Rede von Himmel und Pracht, von Süße und Paradies, von Wollust und Grenzenlosigkeit. In einem Gedicht namens Ausblick heißt es:


Es mengen Gedanken sich. Der Berg ist steigender Wall,
hinter uns leben Tiere, Frauen, und Fahnen
Ahnung von fernen Flüssen und Eisenbahnen
und keine Grenze. Vor uns brennender Schall
des Kriegs. Von Grauen durchklungene Nacht,
Lauern, Härte, gestorbener Häuser Klagen,
Knall, Krachen, Wut. An vielen Tagen
muss ich mich umsehen nach lange verlorener Pracht.

Eine ungemeines Verlangen mächtigt in dieser Poesie. Das Leben, es wird vorweggenommen als ein profanes Gebet:

Fast ist es seltsam, dass wir Menschen waren
denen das Leben wie Gebete schien,
die sich in Lüsten, Liedern offenbaren
und alle Sehnsucht schrie, in Melodien
und Räuschen wunderbarer Art zu leben.

Der Tod, der ist zwar da, aber nirgendwo bestimmend. Der Schrecken verschwindet nicht, aber er schwindet in diesen mächtigen Willensäußerungen eines jungen Soldaten an der Front. Das Feld, also auch das Schlachtfeld, wird ihnen nicht überlassen. Die Intention stößt die Realität vom Podest. Böse geendet hat die Geschichte trotzdem. "Kurd Adler wurde in den ersten Julitagen 1916 als dienstpflichtiger Soldat im Westen geto Er ist der Aktion ein wertvoller Mitkar gegen diese Zeit gewesen", schrieb Franz Pfemfert, der Herausgeber der Zeitschrift Die Aktion. Der Dichter ist also nur 24 Jahre alt geworden. Sein Leben, es war ihm nicht vergönnt. Viel Gegenzeit hatte er nicht. Soweit bekannt, sprechen wir hier von einem Oeuvre von ungefähr 30 Seiten.

Unsäglich säglich

"Trakls Tote sind nie wirklich tot, wie seine Lebenden nie wirklich lebendig sind", schreibt Katharina Maier im Vorwort zu einer Ausgabe der Traklschen Gedichte. Die Scheidung zwischen Tod und Leben war bei Trakl aufgehoben, bei Adler hingegen galt sie als fixe Schranke. Unser Autor legt nahe: Der Tod, was geht er mich an? So lange er mich nicht hat, ist er nichtig, und wenn er mich hat, bin ich nichtig. Adlers Eros kränkelte nicht am Thanatos. Dem Leben wollte er kein Ende setzen, sondern einen Anfang. Sein Leben wollte er setzen. Seine Gedichte legen ein deutliches Zeugnis ab, seine Zeilen sind zu lesen als ein großes Vorhaben, ja Programm.

Bei Georg Trakl geht es tatsächlich um die poetische Offenbarung eines Untergangs, den eigenen inbegriffen. Da geht einer wirklich und im wahrsten Sinne des Wortes zu Grunde und hilft dabei auch noch mit. Seine Lyrik ist geprägt von einer kategorischen Bitterkeit, er sieht eine "dämmernde Totenkammer", das Menschengeschlecht hält er für "kalt und böse", es bereitet uns eine "dunkle Zukunft" heißt es in dem Gedicht Der Abend aus dem Jahr 1914. Er nennt jenes abwechselnd ein "verwesendes", "entartetes", "verfluchtes", "entsetztes". Georg Trakl war auf jeden Fall der moderndste deutschsprachige Dichter des 20. Jahrhunderts. Was übrigens eine Auszeichnung ist, ist doch dieses Jahrhundert als fortschreitendes Modern gut erfasst. Niemand brachte das so aufs Tapet wie Trakl. Darin liegen Größe und Tragik.

"Ich verfalle oft in unsägliche Traurigkeit", schrieb Georg Trakl an seinen Freund Ludwig von Ficker im Oktober 1914. Wir wissen nicht, was Adler seinen Freunden geschrieben hat, aber es müsste etwas ganz anderes gewesen sein, denn Adler verfällt im Gegensatz zu seiner Lage geradezu permanent in Zuversicht und Begehren. Der hatte Appetit, auch wenn es erzwungenermaßen nur ein appetitus in prospectu sein sollte. Er sprach lieber vom Himmel als von der Hölle. Adler wollte in keiner Weise untergehen. Aufgehen wollte er vielmehr. Und aufgehen sollte auch das geliebte und gelobte Leben, das er wünschte und das er so temperamentvoll ausmalte.

Der Schützengraben wird nicht überhöht, er wird unterhöhlt. Die Worte unterspülen ihn, lassen ihn nicht gelten. Selbst das "breitgeflügelte Elend", die "schwere Finsternis" verstand er grandios zu wenden, ohne Elend und Finsternis zu verdrängen. Man lese Der Triumph - dieses Stück wider seinen Titel, in dem es etwa heißt:

Über den schweren Füßen hatte mein Hirn silberne Flügel
Flog - Flog und sang ein Triumphlied;
und bewundernd und köstlich reich warf ich es weg
in den aufspritzenden Schlamm.
Und jubelte in meinem Himmel, als ich sah,
dass Hunderte achtlos und keuchend vorübermarschierten.

Hoffnungslosigkeit, Aussichtslosigkeit, Erbarmungslosigkeit, das alles findet in seiner Lyrik kaum Eingang. Die Traurigkeit, die sich in ihr doch findet, ist die des Dichters, der an seinem Leben gehindert wird, der seine Möglichkeiten versäumt, seine Absichten nicht umsetzen kann. Aber das macht diese und jene nur umso stärker. Er verzweifelt nicht. Leiden ist sein Metier nicht. Da strahlt einer in säglichem Frohsinn. Und dieser Frohsinn ist keiner der Beschränktheit, sondern einer der perspektivischen Prosperität.

Kontrafaktische Konsequenzen demonstrieren, dass da einer weder in Kriegsbegeisterung noch in Depression verfällt. Laufend wird das Geschehen hintergangen. Kurd Adler wollte sich weder übergeben, d.h. mitmachen, noch aufgeben, d.h. kapitulieren. Adler wollte sich bewegen und zeigen, jenseits von Held und Opfer. Dass er letzterem nicht entging, ist tragisch. Hier wurde eine literarische Potenz sondergleichen zerstört und auch das schmale Werk - sieht man von einigen Anthologien ab - faktisch genichtet, so als hätte es dieses Vermögen nie gegeben. Adler, das ist (um eine Traklsche Formulierung zu entwenden) der "ungeborne Dichter". Noch.

Morgen und Entnachtung

Georg Trakl, der dunkle Poet der "Umnachtung" lag mit seinen Vorahnungen zweifellos besser als der liebestrunkene Poet des "Hochzeitshellen". Und doch oder gerade deswegen ist alles dafür zu tun, und zwar immer, dass Trakl unrecht behalte und die Adlerschen Visionen Wirklichkeit werden. Kurd Adler ist nämlich ein Dichter der Entnachtung. Auch wenn es finster geworden ist, hätte es nicht so werden müssen. Geschweige dass es so bleiben muss. Das Licht geht bei Adler nie aus. Diese Literatur ist absolut exoterisch. Weniger differenziert als konzentriert, insbesondere aber diesseitig. Da ist kein Gott in der Nähe, auch kein abgedankter oder abgehalfteter. Das lyrische Ich zieht sich nicht zurück, es entrückt sich keineswegs, es entzückt sich vielmehr. Dauernd möchte es zu sich kommen.

Diese Lyrik, obwohl keineswegs schlicht, erschließt sich bei gutem Willen und sorgfältiger Lektüre auch ohne professionelle Hilfe. Das Hermetische hält sich in Grenzen und das Kryptische ebenso. Es ist keine chiffrierende Literatur. Adler ist ein Autor des Begreiflichen. Es ist die inhaltliche Sequenz, die fesselt. Sie ist auch kaum meditativ. Adler überfordert seine Leser nicht, er fordert, er möchte, ja er möchte und das Morgen ist ihm nicht Drohung und Unheil, Zukunft will er haben! Jetzt!, oder zumindest Dann! Im Gegensatz zu Trakl ist Adler ein Dichter des frühen Morgens, einer Stunde, wo der Tag noch alles Wünschen erlaubt. "Damals war alles Hoffen städtegroß", sollte er an einer Stelle schreiben. Doch die Morgendämmerung, die hat dieser Poet nicht überlebt. So stand Adler nur am Anfang, und nichts mehr folgte. Über die Schützengräben kam er nicht hinaus. Später, da war er schon tot.

"Kurd Adler, was wäre aus ihm geworden? Ein zweiter Gottfried Benn?", fragt Florian Voß, der im Mai 2014 eine ausgesprochen lesenswerte Anthologie mit dem Titel "Weltkrieg! Gefallene Dichter 1914-1918" herausgegeben hat. Möglicherweise mehr, denn Benns Geschichte nach 1918 ist eine Abstiegsgeschichte, künstlerisch, politisch, menschlich, die ihn schließlich in den Nationalsozialismus führte. Aber wissen können wir nicht, was Ahnung nahe legt.

Der andere Tag

Adler verfremdet nicht, er präzisiert und pointiert, er sprengt keinen Kosmos, er filtriert sich vielmehr sein Universum. Zaubert richtiges Leben aus falschem. "Keine Trompeten, kein Schnarchen, kein Schlamm, keine müden Glieder." Und weiter in diesem wohl letzten Gedicht aus dem Juni 1916 mit dem bezeichnenden Titel Wiederkehr:

Ein traumsilberner Flieger will ich den Lenz überfliegen,
die schweren Bäume in ihren Kronen fassen
und in freudig geneigter Demut wieder und wieder
die Liebe durch tausend Ventile ausströmen lassen.

Wiederkehr steht an, zweifellos. Diese Verse, werden von mal zu mal reicher und klarer, gewinnen von Lesung zu Lesung. Wahre Schätze können gehoben werden. Verse beginnen zu leuchten, Verstecke werden erspäht, Wörter tanzen und die Sätze laufen auf uns zu, insofern wir nicht achtlos an ihnen vorbeigehen. Aber warum sollten wir? Die Flaschenpost ist angekommen. "Und keiner fand das Wort, das irgendwo an steilen Bergen hing", lesen wir in Der andere Tag. Oh doch!

*

Die Rückkehr

Früher war meine Liebe grenzenlos
und keiner war, der sie bescheiden bände,
der in der Wirrnis über dem Gelände
der Füße Andacht mir nur einmal wies.
Ganz taumelnd schaut ich um das Paradies,
das ich hinter der bangen Wüste fände.
Damals war alles Hoffen städtegroß.

Da fand ich feil und offen eine Lende
einer geschmückten Frau, und Feuerbrände
loht ich in sie; und alle Süße ließ
ich in sie strömen, und so pries
ich tagehin nur Seele, Mund und Hände.
Aus trübem Wissen wuchs ein quälend Ende.
Ich sah und sank, nun steh ich nackt und bloß.


Betrachten

Ganz lauernd stehen wir auf hohem Berg
Und sehen Deutschland links und Frankreich rechts;
und überall ist großes stilles Land
mit weichen Wäldern und verblinkten Dörfern.
Tief eingegraben sind wir wie die Tiere,
die Beute bergen. Der Geschütze
blauschwarze Mäuler glotzen stumpf und stier.
So ahnungslos ist aller Dinge Schein,
dass erst der runde, dumpfe Schall von drüben
uns bitter denken lässt, dass wir Zerstörer sind.
Hoch hebt sich ein Gefühl
von jener Liebe zu dem stillen Lied,
dem Sonntagmorgen und Sebastian Bach.
Ein Augenblick! Und schon ist alles grau.
Fünf Männer rennen wild um ein Geschütz,
Ich denke lächelnd der Begeisterung
der Morgenblätter, die wir nicht mehr lesen.


Ruhe an der Front

Manchmal nur surren verirrte Geschosse.
Knarrende Wagen auf fernen Chausseen.
Krähende Hähne in einem Dorfe. Zwei Rosse
klappern irgendwo. Lüfte wehen
weich, violett, seltsam wie unserer Mütter Hände,
die oft in unseren Träumen erscheinen.
Fremde Ruhe sinkt um uns her. Es fände
keiner den Ton der zerrenden Wildheit.
Und käme der Tod wie ein Wunder an, dass er den Blick
staunend und schreiend lodernd lasse. Scheiden seh ich das Leid
dieser Welt. Und Liebe strahl ich zurück.
Fast vergess ich die wilde Zeit. Eine Ewigkeit
dünkt mich dies grause Spiel schon vorbei.
Der Frühling tastet mich an wie ein vertrautes Gedicht:
Sommertage, ein winkendes Tuch und ein liebender Schrei.
Die junge Sonne wandert über mein Angesicht.


Verheißung

Tage springen auf
mit lichtendem Glanz,
von Verheißungen schwer.
Meine Hände betasten
gierig das Große
und gleiten hinab
und ahnen Geschick
flutender, rauschender Gebärden.
Und greifend spielend
den schweren Ball
aufsteigender Sonnen.
Zitterndes Glück
ahnt sich vorbei.
Farben zerfließen,
werden zum Rahmen
zersinkender Dinge,
verklingender Köpfe,
zerrinnender Wünsche.
Auf breitem Feld
schleicht schweren Schritts
mit brechendem Rücken
müdgraue, fressende
gestaltenlose Einsamkeit.
Ein bitteres Schreien
tief hinten im Hals
zerbricht den Tag,
der weise und lächelnd
sich selbst begräbt.


Der Triumph

Seltsamer, seltsamer Triumph!
In dieser eklen, peitschenden Nacht,
da der Regen sich wie ein unendliches Gewand um uns legte
und der Dreck uns bis zu den Ohren sprang,
die dunklen Sumpffelder wuchsen in den Himmel
und die kahle Schwarze stach uns - stach uns.
In dieser Nacht klangen heisere, verwünschende Worte -
breitgeflügeltes Elend ... patsch- patsch-
patsch sang die schwere Finsternis.
Augen, in denen Wasser tropfte, brannten nach Schlaf.
Flüche - Gekeuch - im zähen Brei stapften
Schritte von Störchen.
"Verflucht- die Sauerei!"
Patsch- patsch- patsch sang die schwere Finsternis.
Ein unerbittlicher Leichenzug.
Oho! Hochzeitshell triumphierte in dieser Nacht
mein Leben wie nie zuvor.
In toller Wollust warf ich weiße Astern in diese Schwärze.
Die Hände meiner schönsten Freundin steckte ich
wie Grabkreuze in die Sümpfe.
Straßen mit Beeten und Bäumen zog sich am Himmel.
Eine unendlich einsame Leuchtkugel - - oh,
dieses ausersehene Restaurant,
in dem Kellner auf roten Teppichen um kleine Tische frackten.
Tausend Verse Rilkes schrieb ich in den rinnenden Regen.
Über den schweren Füßen hatte mein Hirn silberne Flügel
Flog - Flog und sang ein Triumphlied;
und bewundernd und köstlich reich warf ich es weg
in den aufspritzenden Schlamm.
Und jubelte in meinem Himmel, als ich sah,
dass Hunderte achtlos und keuchend vorübermarschierten.


Wiederkehr

Seltsam - wird alle Bitternis in schließendem Schlund versank:
die zerrissene Luft, der Schrei, der Pulvergestank
die Enge und das schleichende, müde Leid.
Wieder lodert das Leben auf in verzückten Flammen,
Berge erblühn und Straßen lagern sehr breit
sich hin. Schon rücken Gespräche zusammen.
Und eine dünne Brücke - fast nur ein Seil,
tänzelt leicht über die trennenden Tage.
Verschwommene Gesichte - lang schon außer Bewusstsein -
steigen aus glühem Krater
wie Freunde auf. Das ist der Strom, der Turm,
die Straßenbahn, das Theater,
geliebtete Frauen, Glanz aus vernarbten Wunden,
rhythmisch Gejage.
Weiße, große Betten ... wie ein Irrer bin ich,
wie ein Neger oder ein Inder.
Ich möchte nach allen bunten Dingen verlangend greifen,
durch Abende wehn, über hundert Münde streifen
oder lange in kristallenem Bade liegen.
(Keine Trompeten, kein Schnarchen, kein Schlamm,
keine müden Glieder.)
Ein traumsilberner Flieger will ich den Lenz überfliegen,
die schweren Bäume in ihren Kronen fassen
und in freudig geneigter Demut wieder und wieder
die Liebe durch tausend Ventile ausströmen lassen.

Kurd Adler,
geb. 1892, gefallen am 6. Juli 1916


Literatur

Kurd Adler, Gedichte, Edition Grillenfänger, Potsdam 2011.

August Stramm, Gedichte. Dramen. Prosa. Briefe, Reclam, Stuttgart 1997.

Georg Trakl, In den Nachmittag geflüstert. Gedichte 1909-1914. Mit einer Einleitung von Katharina Maier, Marix Verlag, Wiesbaden 2009.

Georg Trakl, Fünfzig Gedichte, Reclam Verlag, Stuttgart 2001.

Florian Voß (Hg.) "Weltkrieg! Gefallene Dichter 1914-1918", Lyrik Edition 2000, Allitera Verlag, München 2014.

*

Auslauf

Hausbau

von Martin Scheuringer

Hausbau ist für die Menschen, die sich das leisten können, eine enorm stressige Zeit. Dass ein Großteil der Menschen davon generell ausgeschlossen ist und in Mietwohnungen wohnt, ist die große Frechheit, deren Behebung zu organisieren ist.

Derzeit wird beim Hausbau die Scheidungsrate erhöht, die Frustration vermehrt und die Ungewissheit über die Zukunft verstärkt. 40 Stunden Beruf, am Bau werken bis zum Umfallen, die Prozesse koordinieren, den Gemeinden in den Arsch kriechen, die Kinder vernachlässigen und vom Mitmachen aussperren; schließlich die zu Abstrichen zwingende Kostenexplosion managen; all das zusammen führt am Ende dazu, in ein Haus einzuziehen, das die Erbauer an eine beschissene Zeit in ihrem Leben erinnert, das sich nicht behaglich anfühlt und das man nicht gern sein eigenes nennen mag.

Von giftigen Mauern und Putzen umgeben verbringt die Mittelschicht ihren häuslichen Alltag in zu großen Palästen, deren Planung und Ausführung Unbekannte zwecks Geldvermehrung übernommen haben. Und so fühlt es sich auch an. Kalt, glatt, funktional, weiß. Ausgenutzt und unfähig, selber etwas am Gebäude zu reparieren, da seine Errichtung durch den Industriellen-Bau-Komplex dem Laien ein Buch mit sieben Siegeln geworden ist, sitzen die Eigentümer frustriert auf der Couch und surfen sinnlos im Online-Store nach Produkten, um doch noch Behaglichkeit in den Bau zu bringen. Know-how ist vielleicht in winzigen Details vorhanden, doch verrückt sind die, die versuchen die Produktion und Teile der Produktionsmittel selbst in die Hand zu nehmen.

Oder auch nicht: Das Haus muss ja nicht so kompliziert sein, wie von Baumeistern empfohlen. Was sind die Bedürfnisse für das Wohnen, wer macht diese Bedürfnisse nach den großen Flächen, vielen Zimmern, der Elektronik, der riesen Küche? Wie viel Wohnraum steht die meiste Zeit leer? Hobbykeller? Kinderzimmer? Wellness-Oase? Teile des Wohnzimmers? Muss das alles weiß gestrichener Beton sein, der für 80 Jahre ausgelegt ist und nach 30 Jahren von den Kindern umgerissen wird, weil die andere Vorstellungen haben? Müssen wir Häuser als Kernfamilie bewohnen?

Was ist eigentlich mit dem menschlichen Drang, gestalterisch tätig zu sein? Gerade unser Heim gestalten wir nicht individuell, sondern lassen es serienmäßig produzieren. Unsere Kreativität wird auf die Auswahl aus dem Möbelkatalog eingeschränkt. Passiver geht's nicht.

Mit etwas Geduld und Neugier kann jede und jeder gemeinsam mit lieben, hilfsbereiten Menschen lernen, sein Haus individuell zu gestalten, jenseits der vom Markt übrig gelassenen Nischen. Hausbau ist keine Zauberei, doch wie alle gekauften Waren erscheint das Produkt Eigentümern als magisches Objekt, da sie durch den Markt von der Herstellung ausgeschlossen werden.

Man kann den Hausbau womöglich als großes Fest aufziehen - die Tätigkeit selbst kann eine schöne sein, wenn man natürliche Materialien verwendet: Stroh, Holz, Lehm, Kalk, Plastik nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Dann werkt man in der Verbindung und im Einklang mit diesen Materialien dahin. Für Kreativität, für Ausprobieren, für Späße, für Gespräche ist Zeit und Raum. Gemeinsam entsteht ein individuelles Haus.

Die Gebenden kommen nicht auf die Idee, dass ihnen etwas genommen würde. Dies wird verständlich, wenn man bedenkt, dass Hilfe etwas Befriedigendes ist, dass das Putzen einer Wand mit Lehm oder Kalk eine herrliche Tätigkeit ist, wenn man sie im Rhythmus der Gemeinschaft und des Materials macht. Ohne Arbeitstakt. Ohne Polier.

Das gemeinsame Essen und die gemeinsamen Pausen sind elementarer Bestandteil dieser Art und Weise, Produktion und Konsumtion zu verbinden.

In der Mischmaschine wird das, was der Markt trennt, sozusagen wieder zu einer sinngebenden Verbindung zusammengebracht. Diese Einheit wird zum Beispiel als Wandputz in das Haus eingebaut. Und so ist auch die Einzigartigkeit der Menschen, die das Haus gemeinsam gebaut haben, im Haus vergegenständlicht.

Doch werden die Besitzer anderen helfen? Es spricht nichts dagegen, eine gute Zeit beim Hausbau zu haben, daher wird man mitmachen, obwohl man schon ein Häuschen hat.

*

E-Mail-Container

Auch die Streifzüge verfügen über eine Art Newsletter, genannt E-Mail-Container. Wer Lust hat, gelegentlich von uns belästigt zu werden, der teile uns das bitte mit. Eine E-Mail mit dem Betreff "E-Mail-Container" an redaktion@streifzuege.org reicht.

*

AutorInnen

Roger Behrens, Streifzüge-Kolumnist.

Ilse Bindseil, 1945. Bis 2008 Lehrerin für Deutsch, Französisch und Philosophie in Berlin. Veröffentlichungen zu Philosophie, Politik, Psychoanalyse, Literatur. Redakteurin von Ästhetik & Kommunikation.

Dieter Braeg, 1940. Vom Hilfsarbeiter zum (stellv.) Betriebsratsvorsitzenden. Autor von Wilder Streik - das ist Revolution.

Martin Brandt, geb. 1986 in Halle/Saale. Studium der Neueren Deutschen Literatur an der Freien Universität Berlin und publizistische Tätigkeit in akademischen und aktivistischen Kontexten.

Hermann Engster, 1942. Lebt in Göttingen, Studium der Nordistik und Germanistik, war u.a. in der Erwachsenenbildung tätig, zzt. Dozent an der Universität des dritten Lebensalters Göttingen, Seminare zu Literatur und Opern; bei der Krisis und im Trafoclub der Streifzüge.

Marianne Gronemeyer, 1941. Lehrerin, bis 2006 Professorin für Erziehungs- und Sozialwissenschaften an der FH Wiesbaden. Zuletzt u.a.: Genug ist genug. Über die Kunst des Aufhörens (2008).

Karl Kollmann war lange in der Verbraucherpolitik tätig, geht nun gesellschaftspolitischen, konsum- und technikökonomischen Fragen nach. Lebt und arbeitet in der Südbahngegend.

Stefan Meretz, Streifzüge-Kolumnist.

Emmerich Nyikos, 1958. Historiker, lebt als freier Autor in Mexiko-City. Zuletzt erschienen: Das Kapital als Prozess. Zur geschichtlichen Tendenz des Kapitalsystems (2010).

Erich Ribolits, 1947. Lebt in Wien. Forscht zum Verhältnis von Arbeit, Bildung und Gesellschaft. Zuletzt erschienen: Eveline Christof/Erich Ribolits (Hg.) Bildung und Macht. Eine kritische Bestandsaufnahme (2016). "Traforat" der Streifzüge.

Hedwig Seyr lebt seit mehr als einem halben Jahrhundert an der Donau; hat zuletzt in Wien Französisch und in Bratislava Deutsch unterrichtet; gegen Staatsgrenzen, für Fahrräder.

Cornelia Stahl, Wien, Redakteurin Literaturfenster Österreich, Radio Orange, www.o94.at, Rezensentin für bn-Bibliotheksnachrichten www.biblio.at, etcetera und Alternative.

Martin Taurer, 1985. Seit rund 10 Jahren im Kostnix-Laden Zentagasse in Wien aktiv, prekär beschäftigt.

Johann Stefan Tschemernjak, 1986. Studienassistent am Institut für Philosophie der Univ. Klagenfurt, arbeitet zzt. an seiner Masterarbeit zum Thema "Personale Identität bei John Locke". Schwerpunkte: Sprachphilosophie und Philosophie des Geistes. Er lebt und arbeitet in Klagenfurt.

Sowie: Lorenz Glatz, Franz Schandl, Martin Scheuringer, Maria Wölflingseder, Petra Ziegler

*

IMPRESSUM

ISSN 1813-3312

MEDIENINHABER UND HERAUSGEBER
Kritischer Kreis - Verein für gesellschaftliche
Transformationskunde,
Margaretenstraße 71-73/1/23, 1050 Wien.
E-Mail: redaktion@streifzuege.org
Website: www.streifzuege.org

DRUCK
H. Schmitz, Leystraße 43, 1200 Wien
Auflage: 1200

COPYLEFT
Alle Artikel der STREIFZÜGE unterliegen,
sofern nicht anders gekennzeichnet,
dem Copyleft-Prinzip: Sie dürfen frei verwendet,
kopiert und weiterverbreitet werden unter Angabe
von Autor/in, Titel und Quelle des Originals
sowie Erhalt des Copylefts.

OFFENLEGUNG
Der Medieninhaber ist zu 100 Prozent
Eigentümer der STREIFZÜGE und an
keinem anderen Medienunternehmen beteiligt.

Grundlegende Richtung: Kritik-Perspektive-Transformation

REDAKTION (zugleich Mitglieder des Leitungsorgans des Medieninhabers) Lorenz Glatz, Severin Heilmann, Franz Schandl, Martin Scheuringer, Ricky Trang, Maria Wölflingseder, Petra Ziegler

Covergestaltung: Isalie Witt
Layout: Françoise Guiguet

KONTO
Kritischer Kreis
IBAN: AT87 60000 0000 9303 8948
BIC: OPSKATWW

ABONNEMENTS
Aborichtpreise für 3 Hefte pro Jahr.
1 Jahr 21 Euro, 2 Jahre 39 Euro, 3 Jahre 54 Euro.
Probenummer gratis

*

Quelle:
Streifzüge Nr. 67, Sommer 2016
Kritischer Kreis - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde
Margaretenstraße 71-73, A-1050 Wien
E-Mail: redaktion@streifzuege.org
http://www.streifzuege.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. September 2016

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang