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STREIFZÜGE/023: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 50, Dezember 2010


Streifzüge Nummer 50 / Dezember 2010

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde




INHALT

Franz Schandl: Einlauf

Andreas Exner: Gegen Arbeitsterror - Für Grundeinkommen und gutes Leben

Franz Schandl: Nichts ist eigentlich fremd

Maria Wölflingseder: Poesie des Lokalkolorits
Wider die Normierung und Uniformierung der Welt - Ein Streifzug

Severin Heilmann: Zu sich kommen

Karl Pleyl: BeFREMDend

Peter Pott: Reiz des Fremden

Markus Pühringer: Sich selbst fremd geworden

Franz Schandl: Staat und Schlepper

Bernhard Schmid: Sarkozy und die Anderen.
Zu den Wandlungen des Rassismus in Frankreich

Sonja Gansberger: Reiz des Reisens

Strangestories: mit Beiträgen von Stephan Hochleithner,
Maria Wölflingseder, Herbert Schindler

Günther Anders: Entfremdung?

Erich Ribolits: Erhebet euch Geliebte, wir brauchen eine Tat!
Zu den Protestaktionen der Studierenden im Herbst 2009

Franz Schandl: "lasst euch nicht erwischen"
Zum Tod des aramis (1950-2010)

Thomas Konicz: Hegemon China?

Stefan Meretz: Zur politischen Ökonomie von Kopie und Kopierschutz - Teil 1

Kolumnen
Rückkopplungen von Roger Behrens
Immaterial World von Stefan Meretz
Dead Men Working von Peter Samol

Rubrik 2000 abwärts
Necati Mert (N.M.): Massensterben am Limes
Franz Schandl (F.S.): Fremde Worte

Raute

Einlauf

von Franz Schandl

Die Geburt der Nummer 50 war etwas schwierig. Zuerst dachte ich, dass das breit angelegte Thema FremdE sehr anregend sei und viele Angebote auf unseren Call for Papers erfolgen. Dem war aber gar nicht so. Recht zäh ging es zu. Wahrscheinlich drängt es in dieser Frage die meisten zur Empirie und vor allem zu praktischer Solidarität. Das ist auch naheliegend.

Wir präsentieren hiermit eine Ausgabe, die sich mit verschiedenen Aspekten des Fremden kritisch auseinander setzt. Je näher man das Fremde anschaut, desto eigener schaut es zurück. Und je mehr man das Eigene betrachtet, desto fremder wird es. Dementsprechend wurde in dieser Ausgabe weniger auf der Differenz als auf der Identität der beiden Schrägheiten herumgeritten. Die Lektüre sollte wie immer lohnen.

Nun, fünfzig Nummern sind kein Pappenstiel. Seit bald 15 Jahren gibt es die Streifzüge schon. Je professioneller wir werden, desto länger dauert es. Die technischen und infrastrukturellen Verbesserungen können mit den Ansprüchen kaum mithalten. Wie soll das erst weitergehen? Das tut zwar alles der Zeitschrift gut, aber eigentlich können wir uns das mit unserer materiellen Basis und unseren menschlichen Ressourcen gar nicht leisten. Das zu berücksichtigen und entsprechend zu würdigen ist die hehre Aufgabe der Leserinnen und Leser, die zwar laut Homepage immer mehr werden, aber sich doch nicht zu Abonnements verdichten. 289 Abos mögen nicht ganz wenig sein, aber es sind zu wenig, um dies zu bejubeln. Wir ersuchen um zügige, ja großzügige Nachbesserung. Auch Spenden wären angesagt und Trafomitglieder erst recht.

Wer die Redaktion übrigens persönlich (einzeln oder im Pulk) kennen lernen möchte, der oder die ist herzlich eingeladen zu unserem Fest am 3. Dezember in den Ost-Klub zu kommen. Die Anonymität wird da kurzfristig aufgehoben. Details siehe Seite 3. Wir sind ausgesprochen sympathisch und keinesfalls so streng wie manche Beiträge vermuten lassen. Auf jeden Fall wünschen wir alles Gute in schlechten Zeiten sowie deren Beseitigung.

Raute

Gegen Arbeitsterror - Für Grundeinkommen und gutes Leben

von Andreas Exner

VP-Wien Frontfrau Christine Marek erinnert an das Essential des Kapitals: gearbeitet muss werden. Niemand widerspricht. SP-Sozialminister Hundstorfer antwortet: den Arbeitszwang gibt's ja schon. Grüngewerkschafterin Paiha meint, ja, richtig, die Mindestsicherung ist bestimmt kein Grundeinkommen. - Das Arbeitspack hat die Öffentlichkeit im Griff. Gegenwehr ist nötig.

Kaum trat die so genannte bedarfsorientierte Mindestsicherung in Kraft, ging Christine Marek voll in Saft. Die Familienstaatssekretärin der ÖVP forderte im September, dass die von der Mindestsicherung Getroffenen zu "gemeinnütziger Arbeit" verpflichtet werden sollten, sofern sie nach sechs Monaten keinen Job gefunden hätten. Marek, Spitzenkandidatin für die Wien-Wahl, die sie im Oktober zusammen mit SP und Grünen glänzend verlor, sprach dabei in gewohnter Manier von einer "Keule gegen sozialen Missbrauch". Damit weiß sie sich nicht nur eins mit FPÖ und BZÖ, sondern ebenso mit SPÖ und Grünen.

Es ist dem langweiligen Drehbuch von Rede und Gegenrede auf der Politbühne geschuldet, dass, was eine Partei vorschlägt, von den anderen Parteien zu kritisieren ist. Das heißt freilich nicht, dass die parteiliche "Opposition" wirklich gegen Mareks Vorschlag ist. Ein genauer Blick auf die inszenierten Gegenreaktionen enthüllt sie als bloße Marketingphrasen. Es sind Unterschiede zwischen Schwarz und Dunkelgrau, nicht zwischen Schwarz und Weiß. Als Unterschiede ums Ganze will man sie nicht einmal verkaufen. Denn dieses Ganze ist das System aus Arbeit, Kapital und Staat - und für die etablierten Kräfte sakrosankt.


Das Arbeitslager

Die rot-grünen Reaktionen auf Mareks Vorstoß entblößen ihren terroristischen Charme dabei wie von selbst. Sozialstadträtin Sonja Wehsely, SP, kritisierte Marek auf famose Art mit dem Hinweis, die Mindestsicherung sei ja bereits an Arbeitspflicht gekoppelt. Dieselbe Schiene fährt Sozialminister Hundstorfer. Dieser betont die bereits bestehenden Sanktionen bei Arbeitsverweigerung (Online-Standard, 14.9.2010). Die Mindestsicherung sei klar mit "Arbeitsanreizen" verknüpft. Auch beim Arbeitslosengeld, so der Minister, gebe es bei Arbeitsverweigerung Sanktionen. Von rund 800.000 "AMS-Kunden" hätten rund 93.000 Kürzungen erfahren müssen. Ziel der Mindestsicherung sei es, Menschen wieder "zurück in normale Beschäftigungsverhältnisse" zu bringen, so Hundstorfer - also unter die Knute des Kapitals.

Auch dem Grünen Sozialsprecher Karl Öllinger fällt nichts Besseres ein, als darauf hinzuweisen, dass die meisten Arbeitslosen ohnehin nach 97 Tagen einen Job fänden. "Sie in einen Arbeitsdienst zu zwingen hieße, sie länger in der Arbeitslosigkeit festzuhalten", so Öllinger laut Online-Standard (14.9.2010). Also: weil der Arbeitszwang die Leute ohnehin zur Arbeit zwingt, muss man gar keine Arbeit per Arbeitsdienst simulieren. Das impliziert im Umkehrschluss, dass, falls die Arbeitslosigkeit weiter zunimmt, Öllinger durchaus für ein Arbeitslager ist. Bösartig ist dieser Schluss nicht. Dies ist vielmehr Öllingers Position, der sich als Gegner des Grundeinkommens profiliert, während er sich für die Arbeitszwang-Sicherung - euphemistisch als "bedarfsorientierte Mindestsicherung" tituliert - stark macht.

Ähnlich argumentiert die Grüne Gewerkschafterin Klaudia Paiha (AUGE/UG) für Arbeitszwang unter dem Deckmantel der "Menschenfreundlichkeit". "Es ist schändlich, Arbeitssuchende unter generellen Missbrauchsverdacht zu stellen und gleich einmal vorbeugend die 'Keule zu schwingen'", meint Paiha (www.auge.or.at, PR-Aussendung). Der Satz sagt zugleich: Es ist nicht schändlich, manche Arbeitssuchende unter Missbrauchsverdacht zu stellen; nicht vorbeugend, durchaus jedoch begleitend soll man die Arbeitskeule schwingen. Noch klarer wird die AUGE/UG-Bundessprecherin, wenn sie darüber spekuliert, was "Arbeitslose wirklich brauchen", nämlich "ein entsprechendes Angebot an anständigen, ordentlich entlohnten und sozial- und arbeitsrechtlich abgesicherten Arbeitsplätzen, die eine langfristige Beschäftigungsperspektive bieten". Um auch der Klientel der AUGE/UG anständige, ordentlich entlohnte und abgesicherte Arbeitsplätze zu bieten, wird ergänzt, dass dies auch "die notwendige sozialarbeiterische und psychologische Unterstützung, einen solchen einmal annehmen zu können", bedeute. Vermutlich durch "gemeinnützige Tätigkeiten", Straßenkehren mit nachfolgender Selbstreflexion und Aufarbeitung der frühen Kindheit zum Beispiel: "Wie ist es Dir dabei gegangen? Was spürst Du? Erinnert Dich der Besen an Deine Mutter?" Dies verbessert kommunikative Fähigkeiten, die notwendig sind, um Arbeit zu verrichten, die wir wirklich wirklich wollen, etwa jene in grünen Gewerkschaftsbüros. Der VP-Familienstaatssekretärin richtet Paiha aus: "Im Übrigen sollte auch Marek wissen, dass weder Mindestsicherung noch Arbeitslosengeld 'geschenktes' Geld sind, sondern immer Arbeitswilligkeit voraussetzen." Richtig, deshalb gehören Marek, Paiha und das restliche Arbeitspack auch zusammen in Entschäftigungstherapie.


Die Einheit der Politik

Dass BZÖ und FPÖ die bestehende Arbeitspflicht bestärken, versteht sich von selbst. Anders als Grüne und SP, deren Verlogenheit Programm ist, schießen sie im Verein mit der ÖVP ganz ohne Visier. Die Politik ist also einer Meinung. Seltsames Faktum, müsste man denken, wenn man den "Wettstreit der Meinungen", die "Vielfalt der Ansichten", und die "offene Gesellschaft" - also alles, was Verblendete jeglicher Couleur der real-existierenden Demokratie andichten wollen, ernst nimmt. Ganz offensichtlich ist das Gegenteil der Fall. Arbeit ist das Um-und-Auf. Eine Welt ohne Arbeit gilt der Politik wie eine Welt ohne Politik. Undenkbar. Quatsch.

Oder, um mit den Worten des Grünen Markus Koza zu sprechen, seines Zeichens Vertreter der angeblich "Unabhängigen Gewerkschaft" im ÖGB-Bundesvorstand (www.auge.or.at, Dez. 2006 - "Mythos Grundeinkommen"): "Was wiegt ein Recht auf Wohnen, auf Nahrung etc., wenn es an der materiellen Basis fehlt? Für ein Recht auf Wohnen braucht es Wohnungen, für ein Recht auf Nahrung Nahrungsmittel etc. Güter, die aus Arbeit entstehen, die durch Arbeit geschaffen wurden und werden. Und so entsteht gesellschaftlicher Reichtum schließlich aus Arbeit - egal ob körperliche, geistige etc."

Koza hat sich vermutlich noch nie gefragt, was Arbeit ist. Vergebt ihm. Freilich, auch der Philosoph Manfred Füllsack scheint in diesem Punkt nicht viel weiter gekommen zu sein. Die Studie "Zur Zukunft der Arbeit", die das Umweltministerium in der Reihe "Wachstum im Wandel" 2010 herausgegeben hat, zitiert ihn mit den Worten, dass Arbeit zunächst zielgerichtetes Tun im Sinne von "Weltgestaltung" zusammenfasse. Arbeit markiere jene Tätigkeit, "die unternommen wird, wenn ein bestimmter Zustand oder eine Gegebenheit der Welt als unbefriedigend oder mangelhaft erlebt wird, oder wenn sich Ressourcen, die uns wichtig erscheinen, als knapp erweisen" (Füllsack 2009, zit. nach "Zur Zukunft der Arbeit", 2010, S.19). "Wir arbeiten, wenn wir Hunger haben, um über Nahrungsmittel zu verfügen" (ebda.), erläutert das Umweltministerium in unnachahmlicher analytischer Präzision.

Diesem Arbeitsverständnis zufolge sind Vögeln, Krieg führen und Raubzüge unternehmen oder einen Berg besteigen gleichermaßen Arbeit. Nicht zu vergessen: Rülpsen. Wie es die unhistorische Definition eines Begriffs so an sich hat, ist dagegen nicht viel einzuwenden, außer dass er damit unbrauchbar wird, weil nicht als Ausdruck eines bestimmten sozialen Verhältnisses analysiert. Das allerdings wiegt schwer, wenn man, wie Koza, Arbeit hinstellen will als wäre sie für unser Leben notwendig wie die Luft zum Atmen.

Tatsächlich ist Arbeit die fremdbestimmte, durch Herrschaft erzwungene Tätigkeit. Arbeit ist Ausdruck einer spezifischen Beziehung zwischen Menschen, nicht ein bloßes "Tun". Dies ist vielfach nachgewiesen. Außereuropäische Sprachen kannten vor der Kolonisationsepoche keine Worte für "Arbeit", sondern nur Bezeichnungen ganz unterschiedlicher Tätigkeiten in vielfältigen Kontexten (siehe zum Beispiel Reimer Gronemeyer 1991, "Der faule Neger"). Im europäischen Sprachraum verweisen die Ausdrücke für "Arbeit" historisch auf die Tätigkeit der Sklaven und der Unfreien (siehe krisis 1997, "Manifest gegen die Arbeit").

Dies ist auch leicht zu erklären. Arbeit meint schlicht die gegen jeden konkreten Inhalt gleichgültige Verausgabung von Arbeitskraft gegen Geld. Sie hat in der Sklaventätigkeit ihren Vorläufer. Die moderne Arbeit ist Verkauf von Lebenszeit an das Kapital. Dieser Tätigkeitsform ist Arbeit im Staatsdienst oder für Non-Profit-Unternehmen nachgebildet. Arbeit ist das "lebendige Moment" des Kapitals, bevor dieses in Waren vergegenständlicht wieder auf dem Markt erscheint und sich in "tote Arbeit", also in Geld ummünzt, das wiederum Arbeitskraft einkauft - entsprechende Profitaussichten vorausgesetzt oder Möglichkeiten, Steuern aus der Akkumulationsbewegung des Kapitals abzuschöpfen.

Arbeit ist der innere Widerspruch im Kapital, seine Substanz und Dynamik. Sie ist die Tätigkeit des Menschen, die einer sachlichen Macht, der Vermehrung von Geld in der Hand des Kapitalisten, mit der Faust des Staates unterworfen ist. Sie ist unfreie Existenz, Inbegriff von Herrschaft. Sie gilt es abzuschaffen. Nur wenn die Arbeit fällt, fällt das Kapital - und mit ihm die Überlebenskonkurrenz, der Wachstumszwang und eine Krise, die heute bereits die bloße Möglichkeit zukünftigen menschenwürdigen Lebens insgesamt bedroht.

Genau deshalb schließt die politische Armee des Arbeitsterrors in ihre Reihen alles ein, was da als Partei in Parlament und Gewerkschaft kreucht. Arbeit, die erzwungene Tätigkeit zum Wohle von Kapital und Staat, ist die Basis der Politik. Sie ist zugleich Fundament und Existenzinhalt der Gewerkschaft. Die Profiteure des Fetischs "Arbeit" sind offen sichtbar.


Das einzige Gesetz des Kapitals und sein Ende

Freilich - die Arbeit wird nicht von heute auf morgen verschwinden. Es braucht einen vielfältigen, unentwegten Kampf auf mehreren Ebenen, der sich mit dem Aufbau von Alternativen verbindet, die keine Arbeit kennen, sondern freie Assoziation der Produzierenden sind. Die Mittel dieses Kampfes liegen auf der Hand: gegen jede Form der "Bedarfsprüfung" von Arbeitslosenunterstützung, also für ein bedingungsloses Grundeinkommen; gegen jede Form der Zurichtung für den Arbeitsmarkt, also für ein vom Verwertungsdiktat befreites Wissen; gegen jede Form des Managements, also für eine Vielfalt solidarischer Ökonomien; gegen jede Form der Privatisierung und Feminisierung von gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten, also für eine Sozialisierung der Erziehung von Kindern und der Haushaltsführung.

Das Kapital hat nur ein einziges Gesetz, das der Arbeit und der unbezahlten Mehrarbeit. Jedes andere vermeintliche Gesetz seiner Funktionsweise ist zumindest temporär zu sistieren. Ganze Atmosphären fiktiven Kapitals werden von Blase zu Blase verschoben. Preise werden politisch justiert und nachjustiert. Dem Markt wird aller Orten auf die Sprünge geholfen. Die Staatsverschuldung türmt sich höher als jede Vorstellung es für möglich hält. Keinen Spaß versteht das Kapital jedoch mit Arbeit und der darin eingeschlossenen Mehrarbeit, die über das für die "Lebenserhaltung" notwendige Maß hinausgeht und ergo Profit produziert. Da versagt seine Fantasie zur Beschönigung der Bilanz ganz dezidiert. Dies ist sein Wesenskern und damit auch neuralgischer Punkt: Disziplin, Kontrolle über das Leben der Massen. Ohne Arbeit brechen Staat und Kapital zusammen und verliert die Verwaltung von Arbeitslosigkeit ihren herrschaftlichen Sinn.

Die Flucht aus der Arbeit ist deshalb mit allen Mitteln zu unterstützen. Jede Deserteurin ist zu beglückwünschen. Den Fliehenden sind alle Türen zu öffnen. Es sind ihnen alle Verstecke und alle Zuflucht zu gewähren. Betrug am Staat muss Massenpraxis sein und als solche gutgeheißen werden. Wir sind der Staat und sind es zugleich nicht. Dass wir er sind, ist unser Glück, denn somit ist er von uns zu beenden. Dass wir er nicht sind, ist ebenso unser Glück, denn damit ist er letztlich uns unterworfen, nicht wir ihm. Wir können existieren ohne Staat, der Staat aber nicht ohne seine Angehörigen. Für das Kapital gilt Selbiges.

Kozas Sicht ist vor diesem Hintergrund ebenso unreflektiert wie perfide. Gibt er zuerst vor, das Kapital und mit ihm die Arbeit zu kritisieren, so führt ihn sein blinder Arbeitsfetischismus schließlich zum ganz entgegen gesetzten Schluss. "Lohnarbeit ist weitestgehend fremdbestimmte Arbeit - einmal offensichtlicher, einmal verdeckter", weiß Koza, nur um etwas später ungeniert pro Lohnarbeit festzustellen: "Kein Grundeinkommen ohne Lohnarbeit. Ein Grundeinkommen will schließlich finanziert bzw. erwirtschaftet werden." Arbeit ist Scheiße. Und genau deshalb treten wir dafür ein. Alles klar?

Die Terroristinnen der Arbeit haben nur eins im Auge: das Kapital aufrecht zu erhalten. Sie wollen uns erklären, dass Arbeit sein muss. Ja, dass die, die im Schweiße ihres Angesichts Kohle machen, die Verweigerer der Arbeit durchzufüttern hätten, wie es heißt, und also doch eine Gegenleistung zu erwarten haben. Sie vergessen, dass "Sozialleistungen" des Staates letztlich ein Abzug vom Profit sind, nicht vom Lohn. Sie beschränken die Akkumulation des Kapitals. Sie gehen ein in den Konsum der Arbeiter_innenklasse und kommen ihr zugute. Die Arbeiter_innenklasse leistet Frondienste für das Kapital. Damit es fällt, sind viele Mittel Recht. Jede Sicht, die dagegen das falsche Verhältnis von "Leistung" und "Gegenleistung" innerhalb der Lohnabhängigen (und dazu zählen die Erwerbslosen) aufmacht, ist strikt zu bekämpfen. Nicht zuletzt, weil sie den Konflikt zwischen den Tätigen und dem Kapital verschiebt und in Konkurrenz innerhalb der Arbeiter_innenklasse verwandelt - ein ideologischer Ursprung von Rassismus und Sozialdarwinismus.

Koza meint, besonders schlau zu sein, wenn er doziert: "Eine Rezession würde die Zukunftsperspektive eines bedingungslosen Grundeinkommens sofort in Frage stellen. Obwohl die Befürworter ihr Konzept mit Hinweis auf Krisensymptome der Gesellschaft begründen (immer mehr Arbeitslose, Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse), setzen sie zum Gelingen des bedingungslosen Grundeinkommens zwingend die Rentabilität des Kapitals voraus, also den Erfolg der Wirtschaftsweise, die das Elend produziert."

Wer so schreibt, hat nichts verstanden. Dem Arbeitsfreund sei noch einmal gesagt: wir wollen keine Arbeit, wir wollen keinen Profit, wir wollen kein Kapital. Schon gar nicht den "Erfolg der Wirtschaftsweise, die das Elend produziert." Der Arbeitsfreund - ob Grüner, Sozialdemokrat oder offen Rechtsextremer - behauptet, dies sei weltfremd, ja, gefährlich. Gearbeitet muss werden. Und in der Tat: Die Stellung zur Arbeit markiert die Grenze zwischen jenen, die für Herrschaft eintreten, aufgrund falschen Denkens, anerzogenem Charakter, aus Konvention oder gar bösem Willen, das macht hier keinen Unterschied, und jenen, die Herrschaft ablehnen - so unzureichend ihre Ablehnung in einer Gesellschaft, die von Herrschaft durchzogen ist und sie selbst in ihrem Widerstand noch prägt, auch sein mag.

Der offene Kampf gegen die Arbeit und ihre Vollstrecker ist jedenfalls weit besser als die rot-grüne Sauce Marke "ordentlicher Arbeitsmensch", wie sie Koza exemplifiziert: "Um sich 'individuell' vom Zwang befreien zu können, müssen sich genug andere finden, die sich bereitwillig den 'Zwängen' der Lohnarbeit unterwerfen, um Vermögen, Gewinne, Löhne zu schaffen, die besteuerungsfähig sind. Sonst funktioniert das System Grundeinkommen von der Finanzierungsseite schlichtweg nicht oder verkommt zu einem besseren Taschengeld. Reichtum und Vermögen sind Ergebnis dieser Lohnarbeit (und selbstverständlich der Reproduktionsarbeit, ohne die Lohnarbeit ja gar nicht möglich wäre) und sind nicht einfach da, oder vermehren sich auf wunderbare Art und Weise von selbst ('Geld arbeitet' ist ein Nonsens, sonst nichts). Reichtum ist erarbeitet oder angeeignet, geraubt, von unten nach oben umverteilt, von Süd nach Nord, was auch immer." - Wenn schon Peitsche, dann für alle, so das Motto. Eine politische Sadomaso-Show in Aktion. Was für ein gefährlicher Unfug.

Noch einmal zu Richtigstellung: Das Grundeinkommen soll kein System sein, sondern ist die Zerstörung des Systems. Es ist kein "Modell", sondern ein Sprengsatz. Es ist keine Handlungsanleitung, sondern eine Richtungsforderung. Sicherlich missverstehen viele seiner Anhänger_innen es als eine "Utopie". Doch tut dies seinem anti-systemischen Charakter keinen Abbruch. Darin liegt unter anderem sein strategischer Reiz.

André Gorz, einer der besten Vertreter des Grundeinkommens, lässt in diesem Punkt keine Zweifel aufkommen: "Ein in ordinärem Geld ausbezahltes ausreichendes Grundeinkommen ist im Rahmen der existierenden kapitalistischen Warengesellschaft nicht realisierbar. Davon muss immer ausgegangen werden. Gänzlich aufgeben muss man die Forderung eines Grundeinkommens dennoch nicht. In schweren sozialen Krisensituationen kann sie zeitweilige Teilerfolge erzielen und vorübergehend die allgemeine Misere lindern. Zu einer gesellschaftlichen Transformation wird sie nicht führen. Das Grundeinkommen darf folglich nicht als Zweck an sich gefordert werden" (Gorz in Exner/Rätz/Zenker, 2007, S. 73f.).

Der Kampf gegen die Arbeit und für eine bedingungslose Geldleistung, die den Zugriff auf Waren ermöglicht, der in einer vom Kapital dominierten Gesellschaft überlebensnotwendig ist, muss mit der direkten Aneignung der Produktionsmittel einhergehen: "Vernetzte kommunale Produktionsstätten können eine fortlaufende Verständigung darüber erlauben, was, wo, wozu herzustellen ist. Geld- und Warenbeziehungen erübrigen sich, ebenso wie ein allgemeines Grundeinkommen. Seine Funktion könnte allein darin bestehen, während des Zusammenbruchs der Warengesellschaft oder vor ihm den Übergang zu neuen Produktionsverhältnissen einzuleiten" (ebda., S. 78).

In der frühen Phase dieses Zusammenbruchprozesses wäre, massiven sozialen Widerstand gegen gewerkschaftliche Disziplinierung und staatliche Repression vorausgesetzt, eine nochmalige Ausweitung der Staatsverschuldung zu bewirken. Diese Bewegung gliche einer latenten Hyperinflationierung, einer "Selbstentleibung der Geldform". Sie würde den Prozess, den das Kapital selbst vorwärts pusht, damit auf die Spitze treiben und für die soziale Opposition ummünzen. Um den Übergang in eine neue Gesellschaft zu bewirken, müsste sie zugleich das gesellschaftliche Produktionspotenzial in eine freie Assoziation der Tätigen entbinden. Die Arbeit wäre dann Vergangenheit, das gute Leben wirklich.

Raute

Nichts ist eigentlich fremd

Ufernde Gedanken zu einem schrägen Begriff und seinen verrückten Schüben

von Franz Schandl

Was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht. Nur, wie kommt er dann überhaupt zum Fressen? Denn alles, was er doch isst, muss er irgendwann einmal kennen gelernt haben. Ist doch so. Gerade das Essen ist etwas Abgetrenntes, Äußerliches, das dem Körper erst zugeführt werden muss, um Innerliches, ja Innerei zu werden. Der Hunger ist eine unhintergehbare Aufforderung zum Essen. Essen ist Integration. Noch dazu eine sehr einseitige, was die Aktivität der Einverleibung ausdrückt.

Niemand wird ernsthaft behaupten können: Ich bin, was ich esse. Auf der Ebene des Stoffwechsels hat diese primitive Aussage allerdings einiges an Berechtigung. Der Körper ist ja unser primärer Lebensraum, aus dem wir nicht austreten können. Verlassen wir ihn, ist es vorbei. Organisch betrachtet ist er nach seiner Zeugung nichts anderes als Reproduktion durch das Verdaute. Wir sind demnach ein Leben lang auf Verdaubares angewiesen. Es kommt nicht aus uns, sondern in uns rein, ist also Fremdkörper, Fremdsubstanz.


Das Eigene und...

Wenn ich Tiere oder Pflanzen zu mir nehme, dann akzeptiere ich sie als Nahrung. Sie eignen sich für das Eigene aufgrund ihrer Fremdheit. Die fatale Erkenntnis kann doch nur die sein, dass ich an mir gar nicht feststellen kann, was fremd und was eigen ist. Jeder Stoffwechsel, aber auch jede Kommunikation erneuert mich und hinterlässt mich als einen anderen. Das Eigene ist Aneignung und damit auch akzeptiertes Fremdes. Wenn das Eigene Angeeignetes ist, dann ist das Eigene eigentlich nicht. Als Ursprüngliches könnte es nicht bestehen. Das Eigene ist so bloß als Werdendes und Vergehendes beschreibbar, Abgang und Zugang sind daher von entscheidender Notwendigkeit. Nichts ist eigentlich! Eigentlich ist nichts!

Um überhaupt etwas als fremd auszumachen, darf es mir sowieso nicht gänzlich unbekannt sein. In dem Moment, wo ich des Fremden gewahr werde, wird es schon ein Eigenes, alleine durch meine Beobachtung erfährt es in mir meinen Eindruck.

Die Gewohnheit der Eigenheiten gibt es nur als Gewöhnung von Fremdheiten. Diese Selbstverständlichkeit, obwohl tagtäglich praktiziert, ist nicht Gegenstand reflektierter Erkenntnis. Das Neue ist das der Zukunft Alte, und das Alte das der Vergangenheit Neue gewesen. Die zeitliche Verschiebung desavouiert jede intransigente und insistierende Spezifizierung. Es mag Eigenes und Fremdes geben, aber es gibt nicht das Eigene und das Fremde.

Und die Gewohnheit, was ist das schon? Sicher ist: Was ich jetzt permanent tue, gestern genauso wie morgen, habe ich vor 50 Jahren überhaupt nicht getan und das werde ich in 50 Jahren keineswegs mehr tun. Meine Permanenz ist eine beschränkte, ein kleiner Schnitt; meine Gewohnheit eine in der Dauer sich verlierende Abgewöhnung.


...die Ausländer

Was an der grassierenden Ausländer-Debatte partout nicht auffallen will, ist der still vorausgesetzte Konsens, dass wir hier über diese da zu befinden und zu bestimmen haben. Da unterscheiden sich Ausländerfeind und Ausländerfreund kaum, mögen ihre Haltungen im Konkreten auch noch so weit voneinander entfernt sein. Termini wie "Ausländerpolitik" oder "Fremdenrecht" sagen ja, dass Nichtbesitzer einer EU-Staatsbürgerschaft (im Fall der Roma und Sinti scheint nicht einmal die was zu nutzen!) einer gesonderten Behandlung zugeführt werden müssen. Indes gälte es, diese Zuständigkeit kategorisch in Frage zu stellen. Wer sind "wir", dass "die" unter unsere Kompetenz fallen? Was ermächtigt uns zu dieser Kuratel - selbst wenn diese ganz fürsorglich gemeint ist?

Wer zu "uns" kommt, muss werden wie "wir". Aber wie sind wir? Bin ich auch so? - Wer bei uns bleiben will, muss sich jedenfalls anpassen. "Assimilation ist zwar der Zwang, sie ebnet aber den Leibeigenen die Perspektive, ihren herabgesetzten Status abzustoßen und in die Hemisphäre der Citoyens einzusteigen. Dagegen zielt die integrationale Investition auf die Selektion der Meute, auf die Aufnahme der Nützlichen und den Verweis der Überreste in das Reservat der fremden Herdenmenschen. Selbst das Schlagwort der 'Multi-Kulti' kann den wahren Gehalt dieses Projektes nicht verhüllen. Denn sie spielt den Affekt eines friedlichen Zusammenlebens auch unter den Prämissen der Ungleichheiten vor, basiert auf einer postmodernen Version einer Herr-Knecht-Liebelei, macht das 'Deutsche' zur Messgröße und leitet davon den Anonymen-Brei 'Nichtdeutsche' ab." (Necati Mert, Teutonische Yuppi-Junta; Die Brücke 154, 2010, S. 36.)

Was sind Ausländer? - Nun in Zeiten der nationalstaatlichen Aufteilung der Erde, sind Ausländer Menschen, die sich in einem Land aufhalten, dessen Staatsbürger sie nicht sind. So weit, so banal, obwohl in unseren Gegenden diese Empirie noch völkisch aufgeladen ist, ihr also eine natürliche Basis unterschoben wird. Doch selbst wenn diese Aufladung nicht gegeben ist, wird ein trennendes Kriterium, eben die Staatsbürgerschaft, über alle anderen Merkmale gestellt. Die Eigenen sind nicht ausgesucht, sondern werden zugeteilt, von Nation und Staat, Kultur und Religion vorselektiert. Nicht ich entscheide, mit wem ich mich wie vergemeinschaften will, die Zuordnungen sind schon da, ich bin gefordert, sie zu akzeptieren und habe sie fortwährend zu praktizieren. Dem soll ich mich weder entziehen noch widersetzen können. Patriotismus ist staatsbürgerliche Pflicht. Es gilt die Schicksalsgemeinschaft.

Worin liegt etwa meine Gemeinsamkeit mit HC Strache? Außer der gleichen Staatsbürgerschaft, die uns beiden per Geburt verordnet wurde, fällt mir nichts ein. Und selbst wenn sich was finden ließe, etwa dass wir beide geschlechtlich als Männer geführt werden, das gleiche Bier trinken oder gar die Winterreifen einer bestimmten Marke bevorzugen, was sagt das schon? Viel mehr würde mir zu den Differenzen einfallen. Was machen mit dieser essenziellen Dissidenz? Warum soll sie nebensächlich sein, dafür aber die Behauptung "Strache und Schandl sind Österreicher" eine zentrale Festlegung? Was sagt dieser vertrottelte Satz?

Vielleicht sollten wir bei der Identität doch zwischen Identifikation und Identifizierung unterscheiden. Identifikation bedeutet Kenntnis von etwas; Identifizierung bedeutet Bekenntnis zu etwas. "Ich bin Österreicher", "ich bin Deutscher", "ich bin Türke" kann also verschiedentlich aufgelöst werden. Der gleiche Satz stellt einmal nüchtern fest, was Staatsbürgerschaft ist, im anderen Fall konstruiert und konstituiert er eine Übereinstimmung. Aus einem kruden Da-Zu wird ein leidenschaftliches Ja-Zu!

"Identitäten dienen zur Klassifikation der als Andere, Fremde eingeordneten Spätankömmlinge. Ihnen wird einfach eine Kultur des Unterwertigen zugeschrieben, deren Nuancen mit den konventionellen Werten stammverwandt sind. Das Ziel ist nicht die Gesellschaft der freien Individuen, sondern der kollektiven Zugehörigkeiten. (...) Kulturelle Identität entsteht ausschließlich aus der diskursiven Konstruktion der elfenhaft elitären 'Eigenen', die durch den Gegensatz zu einem wirklichen oder bloß vorgestellten blutfremden 'Anderen' hervorgerufen sowie abgehoben wird. Gegenüber diesem antizipierten 'Anderen' oder dem 'Fremden' entwickelt sich Aversion und sogar Hass." (Necati Mert, Zivilisation am Pranger, Die Brücke 151, 2009, S. 37.) Dieses Wir konstruiert sich als Zirkelschluss: "Wir wissen, wer wir sind, wenn wir wissen, wer wir nicht sind und gegen wen wir sind", so Samuel Huntington. (Der Kampf der Kulturen. The Clash of Civilisations. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen von Holger Fliessbach, Wien-München 1996, S. 21.) Es geht also um ein beständiges Etikettieren.

Eingemeindungen, um andere ausschließen zu können, folgen wilden Konstruktionen. Sie bauen auf hartnäckigen Vorurteilen auf und setzen diese gezielt ein. Ihre irre Begründung verstärkt nur ihre Vehemenz. Das "Wir-Österreicher" oder "Wir-EU-Bürger" gibt es nicht. Keine Wertegemeinschaft ist anzuerkennen! Wir leben in fragmentierten Gesellschaften, wo nicht wenige Segmente und Szenen, Verrückte und Individuen, sich ganz asynchron zu den herrschenden Normen verhalten (wollen). Und das ist auch gut so. Nur so ist ein halbwegs erträgliches Leben im falschen überhaupt möglich.

Bin ich integriert? Wozu? Worin? Dezidiert nicht!! Und doch auch wiederum schon. Indes will ich nicht dazugehören und mich nicht mit dieser Gesellschaft und ihrem Staat identifizieren. Warum sollte ich? Nur weil ich muss? Weil mein tägliches Handeln die Unterwerfung verlangt, soll ich auch gleich ein Bekenntnis ablegen? Wo immer ich es vermag, versuche ich den Zwängen auszuweichen und in meiner Parallelwelt zu leben. Nicht, dass die mit dem System nichts mehr zu tun hätte, soll gesagt werden, wohl aber, dass sie mir Fluchträume und Auszeiten bietet, wo das Unmittelbare der Struktur ein Minimum erfährt.

Kaum jemand würde hierzulande auf die Staatsbürgerschaft verzichten, denn wir wissen alle, dass die Aufgabe dieses Rechtsstatus Sanktionen nach sich zöge, fiele man doch auf einmal selbst unter das Fremdenrecht. Dass minimale Ansprüche noch immer an der Bürgerschaft in einem Staat hängen, demonstriert, dass wir trotz wie aufgrund bürgerlicher Freiheiten Subalterne geblieben sind, dass der entscheidende Schritt zur Humanität zwar überfällig, aber noch ausständig ist.

Für Ausländer gilt übrigens das Gleiche wie für Inländer. Ausländer sind keineswegs eine liebenswerte Spezies, sie sind auch nicht in ihrem Sosein zu protegieren, sondern lediglich vor den Zumutungen und Übergriffen der Inländer zu schützen. Ausländer sind nicht besser als Inländer, vor allem im Ausland. Inländer wie Ausländer sind weltweit abzuschaffen.


Selektion...

Solange kein Ein und kein Aus davor steht, ist das Wandern eine der anregendsten menschlichen Mobilitätsformen. Die Verlegung des festen Wohnsitzes ist allerdings eine einschneidende Maßnahme; für die Migranten selbst als auch für die alte und für die neue Umgebung. Was stattfindet, ist keine gemeine Bewegung, sondern meist eine ungemeine Entfernung. Menschen verschwinden, und wenn sie nicht untergehen (was mehr als sprichwörtlich vorkommt), tauchen sie woanders wieder auf.

Bereits 1933 schrieb der Faschist Oswald Spengler: "Es kommt nicht auf die reine, sondern auf die starke Rasse an, die ein Volk in sich hat." Nicht um "richtiges Blut" gehe es, sondern um "tüchtiges", so haben "gesunde, zukunftsreiche Geschlechter von jeher gern einen Fremden sich eingegliedert, wenn er von 'Rasse' war, gleichviel zu welcher Rasse er gehörte." (Jahre der Entscheidung. Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung, München 1961, S. 203.) Aufgeklärter Liberalismus betrachtet das, von der Terminologie abgesehen, nicht viel anders. Rainer Münz etwa. Der ist unzufrieden. Da hat er sich doch abgeschuftet in der "Süssmuth-Kommission", wollte Deutschland das modernste Einwanderungsrecht auf der Welt bescheren, und dann spurt die Politik nicht so, wie es sich der Bevölkerungsexperte vorstellt. Geht es doch um die Rettung deutscher Renten. Verstehen das die Leute nicht? Ohne Ausländer geht nix, sagt Münz. "Es wird auch in Zukunft keine Auswahl attraktiver Migranten nach dem Punktesystem geben", beklagt er sich (Keine zweite Chance, Die Presse, 15. Jänner 2005, Spectrum, S. IV.).

Münz, der für eine "selektive Zuwanderung nach Kategorien" eintritt, formuliert nichts anderes als den liberalen Konsens: Ausländer sind gut, wenn sie sich rechnen. Ausländer sind schlecht, wenn sie sich nicht rechnen. Am besten rechnen sich zum Beispiel folgende: "Für Top-Wissenschafter und Topmanager wird ein unbefristetes Niederlassungsrecht geschaffen." (Ebenda.) Tja, top muss man halt sein. "Aus ökonomischer Sicht ist Zuwanderung meist ein Gewinn für das Zielland, wenn Migranten arbeiten dürfen. Bei unqualifizierten Zuwanderern ist die Bilanz gemischter. Bei Hochqualifizierten ist der Gewinn klar", sagt Münz im Kurier vom 24. Oktober 2006.

Lasst "uns" gewinnen! In einem aktuellen Folder mit dem bezeichnenden Titel "Das Märchen vom bösen, bösen Ausländer" singt die Wirtschaftskammer Österreich (WKO) ausländerfreundliche Hymnen. Durchaus richtig werden einige Volksvorurteile zurückgewiesen, freilich begründet mit handfesten Interessen des Standorts: Zuwanderung sichere die Pensionen, ohne Zuwanderung wären Gesundheit, Pflege, Tourismus gar nicht möglich. Zuwanderung stärke Innovation, Wirtschaftswachstum und Export. Höherqualifizierten, so der Schluss, muss man die Zuwanderung schmackhaft machen.

Die allseits geforderte "aktive Zuwanderungspolitik" will genau in diese Richtung tätig werden: "Derzeit haben wir ein System, wo ein unqualifizierter Analphabet aus irgendeinem Bergdorf gleich behandelt wird wie ein qualifizierter Diplomingenieur", sagt die österreichische Innenministerin Maria Fekter (zit. nach Augustin 280, 2010, S. 4). Es gilt also, die wirtschaftlichen Interessen zum zentralen Faktor zu machen, das meint auch Laura Rudas, die Bundesgeschäftsführerin der SPÖ: "Es sollen Menschen ins Land kommen, die wir brauchen." (Standard, 31. Juli 2010, S. 7.) Zweifellos, die in Bosnien ausgebildete Krankenschwester erspart hierzulande den Großteil der Ausbildungskosten.

Wirtschaftliche Interessen von Staaten gehen vor menschlichen Bedürfnissen. Migranten sollen zwar "unsere" ökonomischen Probleme lösen, ihre Anliegen interessieren "uns" jedoch kaum. Dass welche kommen müssen, darüber herrscht in der etablierten Politik Einigkeit. Bloß entsprechend selektiert werden müssen sie. Kopfzahl, Ausbildung, Alter, Fristen, Orte - die Kriterien sind zu bestimmen. Der Streit um die Quote war seit jeher einer um das Reglement der Auslese. Selektion will absahnen, sie will anderswo erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten hier vernutzen.


...als Konsens

Nicht nur den hiesigen Staatskonsens hat Ex-Kanzler Alfred Gusenbauer recht plastisch auf den Punkt gebracht: "Die illegale Zuwanderung der letzten Jahre muss gestoppt werden - die führt nicht zur Integration. Zuwanderung sollte nach österreichischen Interessen erfolgen. (...) Ich halte nichts davon, alle Grenzen aufzumachen und zu sagen: Jeder, der will, kann kommen." (Österreich, 29. September 2006, S. 10) "Zuwanderung ist kein Recht, sondern ein Privileg. Die Zuwanderung muss zukünftig auf Grundlage der österreichischen Interessen definiert werden", sagt die SPÖ. (Salzburger Nachrichten, 28. Juni 2006) Zuwanderung ist eine Gnade, die sich nach den Bedürfnissen des "Wirtslandes" richtet, so denken die Demokraten aller Couleurs. "Ein Bleiberecht wirkt wie ein Staubsauger" (Standard, 28. Juni 2008, S. 4), folgert Fekter und gibt damit zu erkennen, was von gewissen Leuten, diesen Bergdörflern aller Länder, gehalten werden soll. Staub sind sie, und der Dreck soll gefälligst bleiben, wo er hingehört. Der Schulterschluss ist gegeben.

Auch von Seiten der Grünen. Im "Linzer Programm" der österreichischen Ökopartei aus dem Jahr 2001 kann man das dezidiert nachlesen: "Die Grünen vertreten eine Einwanderungspolitik, die die Interessen, Erwartungen und Hoffnungen potenzieller EinwanderInnen und nicht nur die Interessen des Aufnahmelandes, seiner Wirtschaft und seiner Bevölkerung berücksichtigt. Es geht einerseits um Menschen, die Österreich brauchen und hier ein neues Zuhause finden sollen, andererseits um Fach- und Arbeitskräfte, die Österreich auf Grund seiner Arbeitsmarkt- und Wirtschaftslage braucht und brauchen wird. Die 'Verwertbarkeit' der Arbeitskraft darf nicht alleinige (Hervorhebungen von F.S.) Voraussetzung für Einwanderung sein."

Aber eine wichtige, ja die ausschlaggebende darf sie dieser Rede nach wohl sein. Ohne Zweifel, die Grünen sind politikfähig. Die Interessen von Standorten und Nationen sind auch ihnen heilig. In der Regierung wird diese Politik den gleichen Staatsrassismus pflegen wie jede andere. Wird dieser Realismus Realität, wird sich an dieser nichts ändern. Abgeschoben werden wird. Das Brauchen wird allseits ganz groß geschrieben, es wird als Gegengeschäft betrachtet, als Tauschakt, der eine Win-Win-Situation unterstellt. Wie sagte doch der unvergleichliche Alexander van der Bellen im Mittagsjournal vom 18. Juni 2006: "Wir werden im oberen Bildungssegment Grenzen aufmachen." "Was wir nicht brauchen können, sind Leute, die zwei Halbsprachen beherrschen." Wos brauch ma de?

Die Brutalitäten der Abschiebepolitik sind jedenfalls nicht als Willkürakte der Frau Innenministerin und ihrer Behörden entzifferbar, sondern setzen lediglich durch, was Sache und Ansicht ist. Fekter & Co sind vielmehr Reibebaum der Aufregung einerseits oder Schutzschild der Verdrängung andrerseits, was meint, dass dieser Konsens verborgen bleiben soll: "Es reicht. Innenministerin Mitzi Fekter ist offenbar außer Rand und Band geraten", schreibt der Herausgeber von Österreich, Wolfgang Fellner, am 15. Oktober 2010: "Fast jeden Tag lässt sie von der Polizei mit Gewalt harmlose Kinder und gut integrierte Familien abschieben, statt sich endlich um die wahren Probleme der Zuwanderung zu kümmern: um afrikanische Dealer, um Ost-Banden auf Diebestour - um die überbordende Zuwanderung von Minderqualifizierten." Das ist doch deutlich überbordend, oder? - Was uns in erster Linie interessieren sollte, ist zweifellos inner Rand und Band: Es reicht schon das, was nicht reicht...


Rein als Raus

Auf diesem Planeten wächst die Zahl der Migranten. Was natürlich der globalen Ordnung ein vernichtendes Zeugnis ausstellt, sagt dies doch, dass immer mehr Menschen von dort, wo sie sind, weg müssen oder weg wollen, weil sie sich woanders ein besseres Leben versprechen. Leute, die benachteiligt sind, wollen sich ihren Teil holen. Das ist die eine Seite. Die andere ist, dass Migration die Funktion erfüllt, billigere Arbeitskräfte verfügbar zu machen. Staatliche Migrationspolitik will stets Aktiva als Profite internalisieren und die Passiva der Kosten externalisieren.

Was in der Debatte verschwiegen wird, ist, dass es sich um einen Ressourcentransfer von weniger entwickelten Gebieten in die Zentren handelt. Es ist umgekehrte Entwicklungshilfe, die hier stattfindet. Vergessen wird immer, dass Emigration einen Aderlass für jene Länder darstellt. Bringt man diesen Aspekt zur Sprache, wird man schnell verdächtigt zu meinen, dass jeder und jede bleiben soll, wo er oder sie ist. Um das geht es nicht. Es geht darum, dass - ganz banal - alle auf dieser Erde gut versorgt sind, weder aus politischen noch ökonomischen Gründen irgendwohin getrieben werden. Dass sie bleiben können, wo sie sind und dass sie sich niederlassen können, wo sie wollen. Der Liberalismus hingegen ist nicht freizügig, er koppelt das Recht des freien Raums an die Verwertbarkeit der Person.

Die, die "Ausländer rein!" schreien, vertreten, wird eine gewisse Qualifikation unterschritten bzw. eine bestimmte Quote überschritten, nichts anderes als "Ausländer raus!". Wie heißt es im Amtsdeutsch von Big Brother Germany: "Illegal in Deutschland lebende Ausländer sind ausreisepflichtig." So die unselige Süssmuth-Kommission im Originalton. Und wo kein Wille ist, wird die Staatsgewalt nachhelfen. "Ausländer rein!" ist so die gefinkeltste Variante von "Ausländer raus!".

Raute

2000 Zeichen abwärts

Massensterben am Limes

Man erfährt aus den Marginalien im www-Dschungel, welche Folgen der Druck der Zivilisierten-Zentren für die Migrantenmeute hat, wenn ihre Schaluppen aus einer nordafrikanischen Bucht in See stechen. Wie eine Migrantenmenge auf einen hölzernen Schleppkahn von zehn Metern gedrängt wird, der im aufgewühlten Meer zehn Meilen vor einer EU-Insel kentert. Seine Insassen ertrinken und landen im Gottesacker unter Wasser statt im Eldorado. Fischer erzählen, wie sie an den Kiel eines untergegangenen Schlauchboots geklammert Hilfe erhoffen. Am Tod von ca. 14.000 migrantischen Menschen seit 1988 sind weder die stürmische See noch ein morscher Seelenverkäufer Schuld, sondern der fremdländische Deckel ihres Passes, der als Bannfluch für die superimperialistischen Pressuregroups gilt. Dieses Gewoge schreibt die Geschichte den nordischen Nationen ins Stammbuch, was sie in Rage bringt, nicht als Bastion der Humanität gefeiert zu werden, sondern der Brutalität.

Dass die verbale Variante der humanitären Handlanger die eigenen Staaten als Drahtzieher von jeglicher Schuld des Massensterbens am Limes nicht nur freispricht, sondern auch als ritterliche Retter darstellt, ist weit mehr als biegbares Beiwerk. Das Gegenteil ist aber der Fall. Zum Beispiel fungiert das Grundgesetz der Bundesrepublik nicht als Korrekturband des Staatsapparates, sondern als die Charta seiner Macht. Es ermächtigt generell die partizipierenden Gewalthaber durchzusetzen, was immer sie zur Abwehr der demokratischen Domäne für notwendig auslegen, dabei den humanitären Akt außen vor zu lassen.

Die Apparatschiks der Staatsgewalt sind nicht gehorsame Gefolgsleute der Menschenrechte oder globalen Königswege, sondern deren honorierte Hintermänner und Vollstrecker. Auch die einschlägigen Regeln gehören zum Werke-Vermerk ihrer Macht, durch die sie in die Lage versetzt werden, jedem unterlegenen "Anderen" eigenhändig eine menschenrechtliche und humanitäre Lizenz hinterher zu schicken.

N.M.

Raute

Poesie des Lokalkolorits

Wider die Normierung und Uniformierung der Welt - Ein Streifzug

von Maria Wölflingseder

Ist es nicht verrückt, einerseits werden Individualität und Originalität, Besonderheit und Einzigartigkeit als Anspruch hochgehalten, andererseits wird die Welt seit über hundert Jahren immer einförmiger und eintöniger? Obwohl heute die früheren einzwängenden Normen und Sitten großteils abgeschafft sind, und alles möglich und erlaubt ist, verkommt das Leben mehr denn je zum Abziehbild, zur Kopie, zum Klischee. Life gestylt, political correct und klinisch sauber. Standardisierung, Formatierung, Regulierung, Fixierung, Datierung, Registrierung, Kanalisierung, Markierung, Normierung greifen um sich, erfassen immer mehr Bereiche des Lebens und die Menschen selbst. Der Sog zur Uniformierung ist so mächtig und wird als so selbstverständlich hingenommen, dass er kaum noch auffällt, geschweige denn hinterfragt wird.

Egal auf welchem Flughafen ich lande, sie sehen sich rund um den Erdball zum Verwechseln ähnlich. Egal auf welchem Bahnhof ich aussteige, überall dasselbe Ambiente. Worin unterscheiden sich Kleidung, Schuhe, Spielzeug, elektronische Geräte oder Alltagsgegenstände hierzulande von jenen anderswo? Auch die Architektur ähnelt sich überall auf der Welt, genauso wie Badestrände oder Wellness-Tempel. Ganz zu schweigen vom Essen und Trinken: Egal wohin du kommst, McDonalds, Coca Cola & Co. sind schon da. Und die Musik, von der du in den Shops, Bars, Bussen oder Toiletten rund um den Globus beschallt wirst, ist auch selten auseinander zu halten. Genauso wenig wie Hunderte von Fernsehsendern. Allenthalben variieren Gesichter und Physiognomie der Erdenbewohner. Aber auch an der Vereinheitlichung dieser Charakteristiken wird fleißig gebastelt.

Ja, der Druck zur Uniformierung reicht längst bis zur invasiven Veränderung des Körpers. Nicht nur schön sollten Gesichtszüge und Körperpartien sein - was immer gerade auch als schön in Mode sein mag -, sondern weltweit steht europäisches Aussehen mit den Attributen hellhäutig, groß, blond, blauäugig hoch im Kurs. Asiatinnen lassen sich nicht nur ihre Schlitzaugen "umbauen", sondern versuchen auch an Körpergröße zuzulegen. Kaum von der traditionellen Fußverkrüppelung befreit, lassen sie sich die Ober- und Unterschenkelknochen brechen und in Metallgehäuse vernageln, damit während die Beine in die Länge gezogen werden, neue Knochenmasse nachwächst. Nach fünf schmerzvollen Monaten und einem Plus von zehn Zentimeter Körpergröße erhoffen sich Kleinwüchsige endlich einen Job oder einen Mann. (Der Standard, 31.1./1.2.2004) Auch im karibischen Raum wird fleißig auf nördliche bzw. westliche Standards umgemodelt. Helle Hautfarbe gilt als Erfolg versprechender als dunkle. Michael Jackson wird nicht der Einzige sein, der sich bleichen hat lassen.

Auf den ersten Blick mag das wie eine weltweite "Selbstarisierung" erscheinen. Aber die Wurzeln solcher Selbstverkrüppelungen liegen wohl bereits im Kolonialismus und für die abstrusen, makabren Blüten sorgt unser Gesellschaftssystem, von dem immer mehr Menschen ausgespieen werden. Dadurch wird der Anpassungsdruck an herrschende Normen, die der Markt aus dem Hut zaubert, offenbar unausweichlich. Dieser Druck wird wiederum pflichtbeflissen in vorauseilenden Gehorsam verwandelt, die Order klaglos verinnerlicht. Von Kopf bis Fuß, von der Kleidung bis zu den Zähnen, vom Lächeln bis zur Stimmhöhe, von der Bewegung bis zum Denken - alles wird modifiziert und zum zweckrationalen Optimum konformifiziert.

Aber auch den Europäern verhilft ihr europäisches Aussehen nicht zwingend zum Erfolg. Die Konkurrenz ist überall und riesengroß. Kahlköpfigkeit etwa ist für Männer ein Karrierekiller. Die Chancen, einen Job zu ergattern, wurden vielfach erhoben und berechnet. In Island verdienen blonde Menschen 10 Prozent weniger als der Durchschnitt. Große mit hellbraunem Haar verdienen am meisten. In Deutschland sind lockige Haare und blaue Augen gefragt. Männer ab einer Größe von 1,89 Meter haben mehr Glück. Sie bekommen durchschnittlich um 12,4 Prozent mehr Gehalt als ihre Geschlechtsgenossen unter 1,80 Meter. Bewerber beiderlei Geschlechts haben mehr Chancen, wenn sie hoch gewachsen, schlank und mit tiefer Stimme ausgestattet sind. (Vgl. Frank-Rainer Schurich) - Kein Wunder, dass alles daran gesetzt wird, das "Designer-Baby" in Serie gehen zulassen.


"Menschliche Monokulturen"

Die Gleichheit der Menschen vor dem Geld als höchstes Kriterium unserer Vergesellschaftung führt also ohne Umschweife zur Angleichung ihres Aussehens. Mit den Gedanken, Gefühlen und Charakteren sieht es nicht viel anders aus. Alfred Goubran schreibt in seinem Erzählband "Ort" über die "Typisierung" von Menschen. Er vermisst nicht nur Zeitgenossen, die "eigen" sind, sondern überhaupt den "anarchischen Grundwasserpegel". "Wo er gesenkt wird, geschieht es auf Kosten des 'Originals'. Die Austrocknung fördert den Anbau von Typen, die Folge sind menschliche Monokulturen. Langeweile greift um sich, das Verlangen nach Zerstreuung, nach 'Bewegt-werden' steigt; es fehlt an Humor, kaum einer, der noch ein Urteil in sich trägt. Die herzerfrischendsten Vorurteile verschwinden, alle sind differenziert, die Wagnisse kalkuliert, die Ausgelassenheit vorsätzlich, die Farben blass und geschmacklos. Man könnte das fortsetzen. ... Mit Menschen hingegen, die "eigen" sind, "ist das Leben nicht langweilig. Das ist heute viel: Ein Leben. Ob es im Öffentlichen, vor allem in den 'germanischen Ländern' überhaupt noch möglich ist, bezweifle ich längst. Die Normierung erreicht hier andere Grade, als in den südlichen und den romanischen Ländern." (S. 52/53)

Normierungen setzen sich in verschiedenen Regionen unterschiedlich schnell durch. Sie hängen von vielen Faktoren ab - nicht zuletzt von der Mentalität der Menschen. Wohin alles und jedes - trotz gelegentlicher lokaler Widerspenstigkeiten - strebt, veranschaulichen die Umwälzungen in den Ländern des ehemaligen Ostblocks. Die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Individuen haben sich in den letzten 20 Jahren kontinuierlich dem Westen ökonomisch und emotional angeglichen. Die gewonnene Freiheit war mitnichten dazu angetan, Veränderungen und Entwicklungen anders zu gestalten. So etwas wäre gar nicht möglich gewesen.

Der reisefreudige, weltoffene Schriftsteller Stefan Zweig sah bereits 1925 die Besonderheiten verschiedener Kulturen mit Bedauern immer mehr schwinden. In seinem Aufsatz "Die Monotonisierung der Welt" hat er an den Beispielen Tanz, Mode, Kino und Radio den "allgleichen herdenhaften Geschmack" aufgezeigt, dem sich das Individuum bereitwillig fügt. "Es wählt nicht mehr vom inneren Wesen her, sondern es wählt nach der Meinung der Welt." Das Individuelle stirbt "zugunsten eines Typus" ab. Auch "in der Literatur wird die Praxis der raschen Mode, des 'Sensationserfolges' eingetrieben. Schon gibt es, wie in England, nicht mehr Bücher für Menschen, sondern immer mehr das 'Buch der Saison', schon breitet sich gleich dem Radio die blitzhafte Form des Erfolges aus, der an alle europäischen Stationen gleichzeitig gemeldet wird und in der nächsten Sekunde abgekurbelt wird. Und da alles auf das Kurzfristige eingestellt ist, steigert sich der Verbrauch..." (S. 32/33)

Heute ist die Gleichförmigkeit in der Literatur kein großes Thema, sondern herrschende Realität. Kritik wie jene des Autors Bernhard Hüttenegger aus dem Jahr 1999 muss mit der Lupe gesucht werden: "Wir erleben eine totale Vereinheitlichung der Welt (vom Essen über Kleidung, Unterhaltung bis zur Kunst und zum Denken). Einfalt statt Vielfalt. Als 'Überbau' einer Wirtschaftsstruktur, der ein grenzenloses Mischmasch von Einheitsmassenkonsumenten recht ist. Die Zuchtrute (zur Gleichschaltung) gegen Abweichler heißt außenpolitisch 'Menschenrechte' (plus Bomben) und innenpolitisch 'Politische Korrektheit' (plus Ausgrenzung). Ein solcher moralisch verbrämter Totalitarismus ist der Tod der Kunst, bedeutet die Abschaffung des Denkens. ... Schönfärberei als scheinbare Weltverbesserung, die 'Euphemismen des Fortschritts' reichen als Methode nicht mehr aus. Nun dürfen dem idealen Weltbild widersprechende missliche Tatsachen überhaupt nicht mehr genannt werden. Wahrnehmungsverweigerung, Wirklichkeitsausblendung ist gefordert. Mit geschlossenen Augen und zensuriertem Vokabular - wie sollte so ein Schriftsteller seine Arbeit tun?" (S. 54)

Hat die Macht der Moden, Trends, Strömungen, Booms und Hypes bald ihren Höhepunkt erreicht? Haben die ökonomischen Prämissen Rationalisierung und Gewinnoptimierung nicht schon genug in allen Sphären des Lebens Platz gegriffen? So wie Tomaten besser gelagert, transportiert und vermarktet werden können, wenn sie einander in Form, Größe und Konsistenz gleichen, so sind auch Individuen leichter berechen- und dirigierbar, wenn sie möglichst gleich ticken. Noch effizienter wäre es, wenn Tomaten eckig und Menschen mit Chips ausgestattet wären. Beides ist bereits in Arbeit.

Die beschworene Einzigartigkeit des Individuums scheint nur ein probates Lockmittel zu sein. Ein Lockmittel in das Reich der Beliebigkeit. (Eine tautologische Wirklichkeit, vergleichbar mit den verheißungsvollen 0-Euro-Angeboten: Alles gratis, aber dein Geld ist uns sicher.)


Als Event auferstanden

Manche mögen einwenden, es gäbe doch Bemühungen wie das aktuelle von der UNO ausgerufene internationale Jahr der Biodiversität, der Artenvielfalt von Pflanzen und Tieren. Außerdem wäre "Diversity" sogar Unterrichtsfach in Arbeitslosenkursen: Vielfältigkeit bezüglich Alter, Geschlecht, Herkunft, Religion etc. von Lohnarbeitenden in Unternehmen. Weiters würden Weltkultur und -naturerbe durch die UNESCO geschützt. - Letzteres kann wohl nur als ein kümmerlicher Rettungsversuch bezeichnet werden. Wenn einem Staat Wichtigeres einfällt als Natur und Tiere zu schützen - zum Beispiel nach Öl und Gas zu bohren - sind wir schnell wieder enterbt. Meist wird das Gütesiegel nur akzeptiert, wenn touristischer Mehrwert daraus geschlagen werden kann. - Apropos Mehrwert: Wie hat Peter Turrini diese einzige Form der Daseinberechtigung in einer Hommage des Tiroler Volkskundlers Hans Haid treffend beschrieben? Er "stimmt nicht nur die Totenklage an, er sagt auch, wie und in welcher Gestalt das Zerstörte, das Vernichtete wieder aufersteht: als Surrogat, als Imitat, als Kitsch, als Unterhaltung, als Event, als Geschäft. Damit trifft er meiner Überzeugung nach den Nerv der westlichen Kultur: Sie lässt hochleben, was sie zuvor getötet hat. Nachdem der letzte Indianer umgebracht war, begannen die Indianer-Filme, nachdem die Volksliedsänger verschwunden waren, traten sie als Hansi Hinterseer im Fernsehen auf (oder als Ethno- und World-Musiker auf den Bühnen, Anmerkung M.Wö.). Als unsere Lebensmittel nachhaltig vergiftet waren, kam es zur Gründung der Bio-Läden, und so weiter, und sofort."

Das Jahr der Biodiversität wird - wie alle UNO-Jahre - gegen das rapide Artensterben wenig ausrichten. Besonders dramatisch ist die Lage was das Saatgut für Lebensmittel betrifft. Stichwort Patente, Gentechnik, Monokulturen und Einsatz von Pestiziden etc. Die UNO unterstützt zwar Projekte, die all dem entgegenarbeiten, aber wird das ausreichen, um uns den völlig denaturierten, kontaminierten, geschmacklosen "Einheitsbrei" am Teller zu ersparen? Wer sich in dieses Thema vertieft, dem bleibt der Bissen im Hals stecken. Mit Sicherheit eine der besorgniserregendsten Entwicklungen, die jeden Menschen jeden Tag elementar betrifft.

Rein gar nichts zu bemerken ist von einer menschlichen Diversität in Unternehmen. Dabei kann es sich nur eine Fata Morgana handeln. Sogar 35-Jährigen wird am Arbeitsamt Bedauern ausgesprochen, weil sie zu alt für den Arbeitsmarkt seien.


Verarmung an Sprachen

Wissenschaftler schätzen, dass die 10 Millionen Menschen, die vor 15.000 Jahren unseren Planeten bevölkerten, insgesamt 10.000 Sprachen gesprochen haben. Heute sprechen sechs Milliarden Menschen nur noch etwa 6.500 Sprachen. In unserem Jahrhundert werden nach Schätzungen der Linguisten fünfzig bis neunzig Prozent davon aussterben. Sprachen sind in der Geschichte immer neu entstanden und wieder verschwunden. Die Hauptgründe dafür sind politischer und ökonomischer Art: der Kolonialismus einerseits, die Nationsbildung andererseits. Aber so rapide wie heute wurden sie noch nie dezimiert.

Manchen mag die Verarmung an Sprachen als kein großer Schaden erscheinen. Heute wird sogar Englisch nicht nur als Lingua franca - also als Verkehrssprache -, sondern auch als neue Gemeinsprache Europas gefordert. In der Wissenschaft hat sich Englisch bereits als Weltsprache durchgesetzt. Wer international wahrgenommen werden will, tut dies in der Universalsprache. Manche Wissenschaftler wenden ein, dass mit der Vormachtstellung des Englischen auch die Übernahme bestimmter Denkweisen, Normen und Modelle aus dem angloamerikanischen Raum verbunden sei.

Eine besondere Hürde stellt das Englisch für viele Schriftsteller dar. Die Bücher einer "kleinen" Sprache werden meist erst über den Umweg einer englischen Ausgabe ins Deutsche übersetzt.

Karl-Markus Gauß, Autor zahlreicher Bücher über die aussterbenden (Sprach-)Minderheiten in Europa vergleicht den Versuch, Englisch in Europa als allgemeine Sprache zu etablieren, mit dem "abgelebten Traum, mit dem Esperanto eine Weltsprache zu schaffen". Dieser Traum sei "heillos an die Ideologie des erpressten Fortschritts verloren. Er ist von der Vision der Einheit besessen, von der vernünftigen Ordnung, in der die Reihen gleichförmig gestanzter Staatsbürger allezeit einsatzbereit dastehen... Diesem Fortschritt, der sich selbst dann, wenn er sich auf die Vernunft beruft, nie anders denn in Kategorien des Staates, der Macht und der Ordnung versteht, als Staat gewordene Macht der Vernunft etwa, diesem Fortschritt gerät alles zur Störung, was die Menschen von ihren abweichenden, vermeintlich reaktionären, partikularistischen Traditionen nicht bereit sind preiszugeben. ... Was das vaterländische Europa der Wirtschaftsstrategen braucht, sind fungible, gedächtnislose Arbeitskräfte, die sich problemlos von da nach dort verpflanzen lassen, und Führungskräfte, die einzig in ihrem Konzern und ihrer Karriere zu Hause sind: Das Europa der Muttersprachen ist solchem Fortschritt nichts als ein gefährliches Hindernis." (S. 192f.)


Jede Sprache ein Kosmos

Mit dem Aussterben einer jeden Sprache verschwindet ein Stück Kultur. Der Niedergang der Sprachenvielfalt bedeutet einen großen Verlust. Einen Verlust an unterschiedlichen Perspektiven, unsere Welt und unser Dasein zu begreifen und zu verstehen.

Denn die Verschiedenheit der Sprachen "ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst". (Wilhelm von Humboldt 1820 in seiner ersten Rede vor der Berliner Akademie, vgl. Trabant S. 325) In jeder Sprache spiegelt sich eine ganz bestimmte Wahrnehmung wider: Die einen haben unzählige Wörter für die Beschaffenheit von Schnee, die anderen keine Wörter für Zahlen, die dritten keines für Arbeit. Wenn das keinen Unterschied macht! Charakteristisch ist auch der unterschiedliche Klang einer Sprache, der genauso wie die Mentalität der Menschen oder ihre Musik von der Umgebung geprägt ist - zum Beispiel vom Meer, den Bergen oder der Wüste.

Das Erlernen einer Sprache ist stets ein Eintauchen in einen anderen Kosmos. Der Sprachwissenschaftler Jürgen Trabant schreibt: "Natürlich setzt jede Sprache Grenzen, Mauern, an denen man sich Beulen holen kann. Aber gerade deshalb ist es ja wichtig, dass es nicht nur eine davon gibt, sondern viele, die andere Grenzen setzen. Jede entdeckt dabei etwas Anderes, das die andere nicht gesehen hat." (S. 324) - Derselbe Gedanke findet sich an Hand schöner Beispiele in den Romanen von Günter Ohnemus, der auch als Übersetzer aus dem amerikanischen Englisch tätig ist.

Trabant plädiert für die Dreisprachigkeit der Europäer. Jeder sollte seine Muttersprache beherrschen, Englisch als Lingua franca und eine Sprache, zu der er so etwas wie ein Liebesverhältnis hat. Eine einzige Sprache wäre zwar "das kommunikative Paradies", aber gleichzeitig "die kognitive Hölle, ein Triumph der Dummheit." (S. 325)

Melinda Nadj Abonji, Angehörige der ungarischen Minderheit in Serbien, die seit vielen Jahren in der Schweiz lebt, hat heuer den deutschen Buchpreis gewonnen. In einem Interview mit Kristina Pfoser (Ö1, 5.10.2010), betont sie die Bedeutung der Muttersprache. Sie brauche sie nicht aus nationalistischen Gründen, sondern aus Liebe zu dieser Sprache, aus Liebe zum charakteristischen Klang, aus Liebe zur Musik dieser Sprache - das sei geradezu ein körperliches Bedürfnis. Abonji kritisiert die Sozialwissenschaftler, die dieses Phänomen stets außer Acht ließen. - Eine Gesellschaft, in der in verschiedenen Kulturen und Sprachen gelebt werden darf, ersehnen sich hoffentlich nicht nur die Eingewanderten.

Sprache und Kultur sind natürlich nie statisch. Es gibt immerzu Wandlungen, weil sie verändert und auch von anderen Sprachen und Kulturen beeinflusst werden. Was wäre das Wienerische ohne Wörter aus dem Jüdischen, dem Slawischen oder auch aus dem Französischen der Kaiserzeit?

Heute prägt jedoch vor allem die Sprache des Fernsehens. Die österreichischen Dialekte verschwinden kontinuierlich. Die einschlägigen Klänge und die mannigfaltigen Ausdrücke bald gänzlich perdu? Ist der Ersatz - ein österreichweites Pseudo-Hochdeutsch - nicht eine Beleidigung für den Gehörsinn? - Die Sprache der Unterhaltungsindustrie hui, Dialekte pfui?

Auch das Deutsch Österreichs hat es gegenüber dem Deutsch Deutschlands nicht nur im Zuge der "Televisionierung" schwer. In Büchern dürfen keine österreichischen Ausdrücke vorkommen - das sei den deutschen Lesern nicht zuzumuten. Oder damit uns die deutschen Urlauber verstehen, ist man in Fremdenverkehrsregionen oft aufs deutsche Deutsch umgestiegen. Kürzlich haben die Wiener Linien einen heiß umstrittenen deutschen Ausdruck eingeführt. In den hiesigen U-Bahnstationen sind die Worte "Zurückbleiben, bitte!" zu vernehmen. Es sind akkurat jene, mit denen die Berliner U-Bahn abgefertigt wird. "Zurückbleiben" gehört jedoch in seiner Imperativ-Form mitnichten zum österreichischen Wortschatz, wie Daniela Strigl in einem überaus treffenden "Kommentar der Anderen" klarstellt. (Der Standard, 9./10.10.2010) Sie kritisiert "das obrigkeitliche Anlehnungsbedürfnis an bundesdeutsche Sprachregelungen", das zuletzt "deutlich zugenommen" hat.


Englisch ist cool - Slawisch nicht der Rede wert

Ein deutliches West-Ost-Gefälle stellt die Hierarchie der Sprachen Europas dar. Der jeweilige Platz entspricht dem Status, dem Image des Landes, in dem eine Sprache gesprochen wird. Sprachen werden demnach "westwärts" gelernt. In Österreich wird in den Schulen seit langem und noch immer v.a. Englisch und Französisch gelehrt, neuerdings auch Spanisch. Heute schicken die Eltern ihre Kinder häufig in einen englischen oder französischen Kindergarten, in ebensolche Volksschulen oder Gymnasien, die zahlreich gegründet wurden. Hingegen eine slawische Sprache zu lernen, geschweige denn Türkisch oder Rumänisch, ist in Österreich und in anderen westeuropäischen Ländern verpönt. Wenn, dann höchstens aus Gründen des Business. An der Klagenfurter Universität gibt es das Studium der Kulturwissenschaften. Der Lehrplan beinhaltet auch, eine neue Fremdsprache zu lernen. Auf die nahe liegende Idee, Slowenisch zu lernen, kommt aber niemand. Die Sprache der Kärntner Minderheit ist alles andere als prestigeträchtig. - Anglophil und frankophil sind geflügelte Ausdrücke, aber slawophil? Wer ist das schon?

Woher rührt das distanzierte Verhältnis zu den slawischen Nachbarn? Drei Erklärungsversuche:

Der aus Russland stammende Schriftsteller Vladimir Vertlib meint: "Die slawischen Wurzeln vieler Österreicher, die gemeinsame Geschichte möchte verdrängt werden... Osteuropa ist aber zum Schatten Westeuropas geworden", den wir meiden, weil "Osteuropa für Aspekte unserer Identität steht, die wir gerne verdrängen oder überwunden zu haben glauben". Osteuropa werde uns erst geheuer sein, "wenn auch dort die gesamteuropäische Cappuccino-Kultur" Einzug gehalten und "über die lästige Vergangenheit gesiegt hat". Vertlib trifft der Nagel auf den Kopf: Spanisch zu lernen, Völkerkunde zu studieren, der Urlaub in Kuba, der Trommelkurs in Senegal, die Motorradtour durch Thailand, der Gesang buddhistischer Mönche allemal reizvoller als alles Slawische.

Und Karl-Markus Gauß vermutet eine Portion Selbsthass: "Karl Kraus schon hat darüber gespottet, dass die schlimmsten Slawenfresser des Alldeutschtums in der Untersteiermark Kokoschinegg, Stepischnegg, Jessenko, Ambrositsch, Pollanetz hießen..." (S. 80)

Bronislaw Geremek, Historiker und ehemaliger Außenminister Polens, drückte es kurz und treffend aus: "Europa hat Angst vor sich selbst."


Anglizismus als rettender Angel?

In der deutschen Alltagssprache haben sich in den letzten Jahren Unmengen von Anglizismen breit gemacht - in Österreich noch stärker als in Deutschland. Nicht nur bedingt durch die Wissenschafts- und Computersprache, sondern auch in der Geschäftswelt, in der Freizeitindustrie und der Wellness-Branche. Wird damit in wirtschaftlich schlechten Zeiten versucht, den Nimbus des Erfolgs nochmals heraufzubeschwören? Die Sprache der USA als Rettungshalm - jener Großmacht, in der die Verwertungsmaschinerie einst am geschmiertesten gelaufen ist?

Plötzlich gibt es Berufsbezeichnungen in den Jobinseraten fast nur mehr in diesem Neusprech. Ob der Arbeitswelt nochmals auf die Sprünge geholfen werden kann, wenn die Sekretärin plötzlich "Executive Assistant" heißt, der Kundenbetreuer "Key Account Manager", der Personalchef "Human Ressource Developer", die Telefonistin "Call-Center-Agent" oder der Hausmeister gar "Facility Manager"?

Regelrecht zum nationalen Kampfbegriff ist der Begriff "Employabililty" geworden. Michael Gemperle vom Soziologischen Seminar in St. Gallen über dieses Vokabel: "Ein englischer Begriff wirkt natürlich weniger unangenehm und autoritär als die Aufforderung 'Ihr müsst euch anpassen'. Die Funktion dieses 'new speak' wird häufig unterschätzt." (Der Standard, 21./22.8.2010)

Was die Berufsbezeichnungen betrifft, wird neuerdings ein bisschen zurückgerudert: "Die Verwendung englischer Berufsbezeichnungen in Stellenanzeigen nimmt seit der Finanzkrise verstärkt ab. Viele Unternehmen bemühen sich inzwischen sehr um korrekte deutsche Bezeichnungen. Die weltweite Bankenkrise mit ihren Milliardenverlusten hat nämlich ihre Auswirkungen. Die 'financial analysts' haben falsch analysiert, die 'finance directors' haben falsch entschieden und die 'risk manager' haben sogar völlig versagt." (http://privatschule-eberhard.de/interessant/berufeeng.htm)

Vielleicht werden auch all die anderen Zauberformeln mitsamt ihren hohlen Inhalten bald entmystifiziert. All die Welt des "Go Out & Have Fun", des "Fashion & Style" mitsamt ihren "Push-up-Höschen" und "Controle-BHs", ganz zu schweigen von all den hippen Freizeitkicks: von Free climbing über Bungee jumping bis zu Slack linen. Man geht in kein Bad mehr, sondern in ein Spa. Muße ist längst out, Chillen ist in. Die Liste könnte endlos fortgesetzt werden. Uniformiertheit hat ihre Codes.

Wer heute die vorgegebenen Normen - auch Sprachnormen - nicht erfüllen kann, wer nicht mitkann mit den Moden, Trends, Booms und Hypes ist out. Weg vom Job, auch schnell weg von der Behausung und einem gedeckten Tisch. Nirgends wird der Normierungszwang deutlicher: Für das neueste Handy oder ein Paar Sneakers riskieren Jugendliche Kopf und Kragen - ihren eigenen und den des Überfallenen.

Während der Arbeit an diesem Artikel geisterte immer wieder das Hobellied aus Ferdinand Raimunds Stück "Der Verschwender" von 1834 in meinem Kopf herum. "Das Schicksal setzt den Hobel an und hobelt alle gleich." Damit war die Erlösung von der Ungleichheit im Leben durch das Schicksal oder den Tod gemeint. Heute würde dieser Satz auch anders zu interpretieren sein. Wir sind vom ersten bis zum letzten Atemzug bei Strafe des Ausschlusses zur Uniformierung angehalten. Allerdings ist auch Angepasstheit schon lange kein Garant mehr für ein existentiell unbedrohtes Leben. - Eine menschliche Welt hingegen wird reich sein. Reich im Sinne von vielfältig - voller Spezialitäten und Delikatessen, voller Originale und Unikate, also voller Phantasie und Poesie.


Literatur

Karl-Markus Gauß: Das Europäische Alphabet, München 2000 (Wien 1997).
Alfred Goubran: Ort, Wien 2010.
Bernhard Hüttenegger: Alphabet der Einsamkeit - Notizbuch 1973-2006, Klagenfurt/Wien 2008.
Frank-Rainer Schurich: Der perfekte Jobkandidat, in: Neues Deutschland, 11./12. Mai 2002.
Peter Turrini im Vorwort zu Hans Haid: Sie nehmen auch den Schnee (hg. von Gerlinde Haid), Innsbruck 2003.
Jürgen Trabant: Mithridates im Paradies - Kleine Geschichte des Sprachdenkens, München 2003.
Vladimir Vertlib: Unser Schatten im Osten, in: Zwischenwelt Nr. 3/4, April 2005, Wien.
Stefan Zweig: Die Monotonisierung der Welt, in: Zeiten und Schicksale - Aufsätze und Vorträge 1902-1942, Frankfurt/Main 1990.

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Fremde Worte

Was wäre die Sprache ohne die vielen fremden Wörter, die ihren Wortschatz bereichern? Zweifellos wäre sie um vieles ärmer. Die Fremdwörter eröffnen neue Horizonte, versteht man sie richtig zu entwickeln und zu gebrauchen. Natürlich können sie, treten sie als elitärer Dünkel auf, das Schriftgut auch hermetisch verriegeln und ungenießbar machen.

Aber per se machen sie das nicht. Um gewisse Nuancen und Sachverhalte auszudrücken, sind die Fremdwörter unumgänglich. Ein Rapport ist mehr als ein Bericht, imitieren heißt mehr als nachahmen, und wenn etwas passiert ist, ist das nicht dasselbe, wie wenn etwas geschehen ist. Oder denken wir an fair und foul, welche soll es da geben? Oder bei vermasseln? Oder bei Niveau? Welches deutsche Wort erreicht dieses Niveau? Wir sagen auch Cousine und Friseur, nicht Base und Barbier. Meine Großeltern hätten nie Gehsteig zum Trottoir gesagt. Und die Waschschüssel hieß immer Lavoir. Französisch konnten sie allerdings nicht, wahrscheinlich war ihnen nicht einmal bewusst, dass diese Wörter einst aus der Fremde gekommen sind.

Der Kampf gegen Fremdwörter, gegen die Verunreinigung der Sprache, war immer ein reaktionäres Gefecht. Es gibt keine reine Sprache, alles ist durchsetzt und durchmischt und nichts bleibt, wie es ist. Natürlich kann man über Sinn und Zusammenhang einzelner Wörter streiten, aber wenn etwa von Amerikanisierung die Rede ist, dann ist Vorsicht geboten. Man mag etwa gegen das Wort "cool" so manche Einwände haben, interessant wäre aber doch zu zeigen, weswegen es sich durchgesetzt hat und was es in seiner häufigen Verwendung ausdrückt. Und warum man nicht einfach stattdessen "kühl" sagen kann.

Sprache ist lebendig, und die Auseinandersetzung um Begriffe stets akut. Wörter kommen und gehen, manche sind so verkommen, dass sie zum Vergehen gebracht werden müssen. Das sexistische Begriffspaar "dämlich" und "herrlich" etwa und "verschandeln" aus nahe liegenden Gründen sowieso...

F.S.

Raute

Zu sich kommen

von Severin Heilmann

"I, a stranger and afraid, in a world I never made." So lautet eine Zeile aus einem Gedicht von A.E. Housman und widerspiegelt ein fundamentales, wenngleich unterschwelliges Lebensgefühl: Diese Welt ist nicht die unsere, sie befremdet uns und - trotzdem wir nicht anstehen, es uns hier ein wenig behaglich einzurichten - wir verlassen sie so, wie wir kamen.


Fremd bin ich eingezogen

Auf die Welt kamen wir und nicht etwa aus ihr heraus, wie es doch nahe läge - ganz so, als hätte es uns hierher verschlagen. Und den Verdacht, dass diese Welt nicht unser Zuhause ist, dass wir Eindringlinge, Fremdkörper, Ruhestörer sind, finden wir in den Unsicherheiten und Fährnissen, die uns hier entgegenschlagen, bestätigt.

Für diese seltsame Gefühlslage und, damit verbunden, latente Feindschaft demgegenüber, was in der Diktion des Eindringlings Umwelt - nicht etwa Mitwelt - heißt, finden sich zwei Ansatzpunkte in unserer christlich-abendländischen Denktradition: beide, Schöpfungsmythos und das mechanistische Bild der Neuzeit haben Vorstellungen von Welt hervorgetrieben, die Denken, Sprache und Handeln maßgeblich und nachhaltig prägten.

Basierend auf dem 1. Buch Mose, der Genesis, lieferte der Töpfermythos den abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam die Vorstellung der Welt als Artefakt: Gott schuf die Welt, sie wurde gemacht. Gemacht wie vom Töpfer ein Topf oder vom Architekten ein Gebäude, seinem Plan gemäß. Doch der Lehm, aus dem Gott den Menschen formt, ist in jener Vorstellung essentiell formlos, geistlos und leblos - also muss der Herr Adam noch seinen eigenen Geist durch die Nase blasen, um ihn zu beseelen, zu informieren. Erst seine Intelligenz, seine Kraft und sein Wille lassen ein lebendiges Geschöpf aus der toten Erde sich erheben.

Das Geschöpf jedoch bleibt dem Schöpfer für immer untergeordnet und auf ewig von ihm getrennt. Unüberbrückbar bleibt auch die Kluft zu seinen Mitgeschöpfen, denn abgesehen vom gemeinsamen Erschaffer, fehlt ihm jeder direkte Bezug zu ihnen.


Ich, gemacht

Dieses monarchische Welterklärungsmodel hat seine Entsprechung in den hierarchischen Strukturen der antiken Königreiche. Die korrespondierende Weltvorstellung und Lebenswirklichkeit ist jene des seinem König und Gebieter ergebenen Subjekts. Seinen Gesetzen ist es unterworfen, auf seine Gnade angewiesen. Er hat es gemacht, auf dass es ihm wohlgefalle. Er ist der Prototyp des Machers. Nebenbei: Ist es nicht eigenartig, wenn noch heute Kinder gemacht werden?

Ein Autokrat dieser Sorte musste mit der Renaissance allmählich, dann mit der sogenannten Aufklärung vollends untragbar werden. Das Pendel schlug nun in die Gegenrichtung: "Der Alte" war für die aufblühenden Naturwissenschaften, für die Exaktheit ihrer Voraussagen schlicht irrelevant geworden und seine proklamierte Allgewalt und mehr noch seine Allwissenheit wurden im aufgehenden Glanze eines neuen Selbstbewusstseins allzu lästig. Als Reaktion auf die unhaltbare und außer Mode geratene Weltsicht trat nun ein anderes Arbeitsmodell an deren Stelle: Das mechanistische Weltbild - das Universum als gigantisches Räderwerk. Der kosmische Gesetzgeber hatte ausgedient, die Gesetze - seltsam genug - behielt man. Auch die Annahme von formloser, toter Ur-Materie gefiel und wurde nun unter das Zepter von Zufall und Notwendigkeit subordiniert.

Vermochte das Konzept des Weltenherrschers noch ein Gefühl eines sinnvollen und in gewisser Weise behüteten Daseins zu vermitteln, so fand sich der aufgeklärte Mensch nun in einer erschreckend seelenlosen, freudlosen, blutleeren Weltmaschine wieder, einer Maschine, allein den Gesetzen von Energie und Kausalität gehorchend, blind und ziellos wirkend. Erfahrungen von Sinn, Schönheit, Liebe und Vernunft - nichts weiter als dem Zufall geschuldete Ausdünstungen komplex angeordneter, sich bewegender Atome. Ihr einziger Zweck: die Arterhaltung, um so die Erhaltung des Zweckes selbst zu erhalten. Kein Wunder, wenn Descartes in diesem Sinne Tiere für reduktiv erklärbare Automaten und ihre Schreie für das Quietschen einer Maschine hielt, und selbst jene, die sich Naturalisten nannten, mit ungeahnter Verachtung, ja Abscheu und Grausamkeit, kaltblütig wie ihre Welt selbst, gegen alle Natur vorgingen.

Im Grunde lieben wir es ja, Mensch zu sein und zu leben; wir schätzen all die geistigen Errungenschaften, unsere Kunstsinnigkeit, unsere Empfindungsfähigkeit und die Mannigfaltigkeit unserer Gefühle, unsere technischen und kulturellen Hervorbringungen. Wir schätzen all dies, gleichwohl wir überzeugt davon sind, dass es letztendlich nur einer Laune der Natur geschuldet war, einer bloßen Fluktuation in den unendlichen Weiten eines lebensfeindlichen, empfindungslosen und zudem sinnlosen Universums. Und dieselbe Natur, ließen wir sie walten, würde uns mittels Entropiegesetz mitsamt unserer Kultur wieder in blanken Nonsens zurückkippen. Folgerichtig führen wir einen erbitterten Kampf gegen alles Wilde und naturhaft Primitive dieser Welt, und mit aller Anstrengung verfolgen wir ihre Unterwerfung unter unseren Willen, nicht zuletzt dank der technischen Beherrschung derselben Gesetze, denen wir uns selbst unterworfen glauben. Diese Dichotomie Mensch-Natur mündet unvermeidlich in die Entsubjektivierung der Natur und die Denaturalisierung des Subjekts. Natur, die er ist, bedeutet das für den Menschen somit gleichzeitig die Dichotomie Mensch-Mensch und die Trennung des Menschen und seiner Erfahrung von einer postulierten objektiven Wirklichkeit.


Ich, vollautomatisch

Nun, diese Sicht bringt einige praktische Probleme mit sich. Denn selbstverständlich unterliegen ihr zufolge nicht bloß die Dinge der Objektwelt notwendig den Gesetzen von Druck und Stoß (Descartes), sondern auch unsere eigene Gliedermaschine (ders.) selbst, in welcher wir uns wiederfinden, in welche wir aufgrund ungeklärter Umstände hineingeraten/-gestoßen/-gedrückt sind. Darum rechnen wir unseren Körper zum überwiegenden Teil auch zur Dingwelt hinzu, wie etwa im allgemeinen Sprachgebrauch ersichtlich: Wir sagen, wir haben einen Körper, nicht wir sind ein Körper. In ähnlicher Weise sprechen wir von meinen Füßen, meinen Händen usw., als gehörten sie zwar uns, sind aber nicht wir. Mein Herz schlägt ist gebräuchlicher als ich schlage mein Herz, und so fühlen wir uns wie Insassen in einem Vehikel, dessen Steuerung uns nicht gänzlich obliegt.

Denn nur Ich ist willentlich, Nicht-Ich unwillentlich. Die Schaltzentrale unseres Ich - so unser Empfinden - steckt irgendwo im Schädelrund; und es ist uns, als säße dort ein Homunculus vor Bildschirm und Lautsprecher, über Mikro und unzählige Sensoren und Betätigungshebel mit der Menschmaschine verbunden. Und der Gedanke, dass auch in diesem wiederum eine Wahrnehmungs- und Entscheidungsinstanz ihre Wohnung hätte usw. usf. ist regelrecht schwindelerregend.

Als Sigmund Freud, seine Triebtheorie entwickelte, wurde es für dieses Relikt, als Agens unseres freien Willens, noch enger in seiner Apparatur. Freud sah die Libido als universale und zweckursächliche, jedoch blinde Lebenskraft wirken, als innersten Motivgrund für unsere Handlungen und schlug somit gleichfalls in die mechanistische Kerbe. Für ihn bestand die Konstituierung des Ich nicht nur in dessen fortschreitender Abscheidung von der Außenwelt, sondern auch in den Versuchen der Beherrschung der zunächst unbewussten psychischen Mechanismen sowie des Chaos in uns, des Kessels voll brodelnder Erregungen, der ihrer Tendenz nach aggressiven und destruktiven Triebenergie.

Das sogenannte ozeanische Gefühl vieler Menschen - "ein Gefühl der unauflösbaren Verbundenheit, der Zusammenhänge mit dem Ganzen der Außenwelt", das sich "nur übel in das Gewebe unserer Psychologie fügt", war für Freud ein infantiles Relikt, das es im Zuge der Ich-Werdung zu überwinden galt. Das reife und gesunde Ich besitze ein einheitliches, gegen alles andere gut und scharf abgegrenztes Gefühl seiner selbst, eine stabile Außengrenze, welche lediglich in pathologischen Fällen oder "auf der Höhe der Verliebtheit" zu verschwimmen drohe. Ursprünglich ozeanische Triebbündel, die wir waren, sind wir als reife Personen zivilisierte, in unseren jeweiligen Körpern isolierte Sublimierungsapparate. Um den gewonnenen Grad an Sittlichkeit zu wahren, ist es, so Freud "die Hauptaufgabe der Kultur, ihr eigentlicher Daseinsgrund, uns gegen die Natur zu verteidigen".


Handlungen geschehen, aber es gibt keinen Handelnden

Ungleich eleganter als etwa noch Konrad Lorenz, der in seinem etwas plump geratenen Psychohydraulischen(!) Triebstaumodell das mechanisch verstandene Verhalten von Lebewesen in einen Reiz-Reaktion-Schematismus zu pressen trachtete, ist indes die Herangehensweise jüngerer Proponenten der naturalistischen Schule. Mittels bildgebender Verfahren und in aufwändig angelegten Versuchsreihen führen sie Nachweis darüber, dass freie Willensakte des Menschen eine Schimäre sind, eine Fiktion des sich selbst eben bloß intentional wähnenden Ich(-Gefühls). Tatsächlich würden strikt kausale Prozesse in neuronalen Schaltkreisen nachträglich zwecks Konstituierung und Bestätigung der eigenen Subjektivität als willentlicher Entschluss interpretiert.

Eine weitere Erschütterung erfährt die erodierte Subjektform in der empirischen Tatsache, dass jene Ich-Identifikation, die sich gemeinhin als abgegrenzt erlebte Subjektivität vorstellt, eine spezifische, keineswegs aber eine zwangsläufige ist. In entsprechenden Experimenten kann die räumliche Einheit von Körper und Ich-Bewusstsein aufgelöst werden. Damit ist "die Perspektive der ersten Person ausschließlich ein Darstellungsphänomen, dem nichts in der objektiven Struktur der Welt entspricht. Wir sind nicht auf mysteriöse Weise mit einer besonderen innerweltlichen Person und ihrem Standpunkt identisch, sondern wir besitzen in diesem Sinne überhaupt keine Identität: Wir sind eine intern mehr oder weniger stark korrelierte Menge aus physischen und psychologischen Eigenschaften, die sich durch die Zeit bewegt. Die Einheit des Selbstbewußtseins ist eine repräsentationale Fiktion." (Thomas Metzinger)

Wenn diese Schlussfolgerung, so irritierend sie auf den ersten Blick scheinen mag, zutreffend ist, dann sind die Neurowissenschaften auf ihrer Suche nach dem Ich in eine ähnlich absurde Situation geraten wie die Physik auf ihrer Suche nach den vermuteten kleinsten, nicht weiter teilbaren Teilchen: Der Gegenstand der Suche hat sich schlicht aufgelöst. Mit anderen Worten: Das der Untersuchung zugrunde liegende Arbeitsmodell wurde durch das Resultat der Untersuchung selbst infrage gestellt. Das Modell war der Subjektbegriff. Ich, lautet das vorläufige Ergebnis, gibt es nicht. Das jedoch steht in scharfem Kontrast zu unserem Realitätsempfinden, einem Empfinden allerdings, das keine andere Basis hat als wiederum das Empfinden selbst. Unsere Lage ist absurd. Was also tun? Wie damit umgehen? Wie das Problem lösen?


"A mystery to be experienced"

"Life is not a problem to be solved but a mystery to be experienced", so Aart van der Leeuw. Eben, warum überhaupt ein Problem? Es verschwindet ja niemand von der Bildfläche, bloß weil es keine Ichs gibt. Vielmehr steht die Erweiterung unseres Subjektivitätsbegriffs an, die Neumodellierung unseres Selbstbildes. Das freilich wird unser Verständnis des Nicht-Ich, des Anderen, der Natur, dessen also, was im Zuge der Ich-Sozialisierung in die Fremdartigkeit hinein abgespalten wurde, nicht unberührt lassen. Dazu einige Überlegungen:

In dem Maße, in dem die Vorstellung von Ich als konsistenter, eingekörperter Trägereinheit intentionaler Akte an Kontur verliert, gewinnt das als verschieden davon gedachte Andere an Raum. Eine neue Sichtweise müsste sich daher aus einem ganzheitlichen Verständnis der untersuchten Systeme speisen, denn der reduktionistische Ansatz endet unweigerlich in Aporien. In der Ökologie etwa ist diese Betrachtungsweise selbstverständlich: Um organische Systeme einigermaßen exakt beschreiben zu können, bedarf es ihrer Einbettung in größere Strukturzusammenhänge. Anders als in der Mechanik treten in jenen Eigenschaften hervor, die durch die Einzelbeobachtung ihrer Komponenten weder absehbar noch hinreichend erklärbar sind, sogenannte Emergenzphänomene. So kann das System Blume nicht detailiert ohne das System Biene beschrieben werden; und beide nicht, ohne die Wirkbeziehungen der nächst niedrigeren Organisationsstufen, aus denen sie emergieren. Andererseits müsste auch das Makrosystems Wald und Wiese einbezogen werden, deren Teil sie wiederum sind usf.

Folgender Gedanke leuchtet unmittelbar ein: Biene und Blume sind nur Bezeichnungen für zwei Aspekte ein und desselben Gesamtsystems Biene-Blume. Die Unterscheidung ist eine rein praktisch funktionale, keine wesentliche. Im Auge der Floristin ist der Aspekt Biene praktisch nebensächlich, dem Bienenzüchter ist es der Blumenaspekt des Systems. Mit den jeweiligen Begriffsbildungen zersplittern wir aber sprachlich die Welt, vergessen es sodann und halten die benannten Objekte für eine Ansammlung mehr oder weniger bezugslosen Mobiliars unserer Wirklichkeit - Räder in der Maschine. Jene Objekte sind jedoch viel eher Aspekte oder Symptome der Makroebene ein und desselben Systems. Nicht anders sind es wir.

Unsere Sprache birgt noch andere Tücken: Kaum eine sinnvolle Aussage kommt ohne grammatikalisches Subjekt aus. Das korreliert mit unserer Art der Betrachtung: Hinter jeder Aktion, jedem Prozess sehen oder denken wir ein initial tätiges Subjekt. Kein Prädikat, kein Prozess, keine Handlung ohne es! Dies impliziert neben der klassischen Subjekt-Objekt-Spaltung auch jene eindimensionale Subjekt-Objekt-Kausalität, die den eingangs thematisierten Weltanschauungen entspricht: Töpfer-Mythos und Automaten-Mythos gründen auf derselben Logik. Allerdings, entgegen unserm Begriff hat das Machen einer Maschine mit dem Wachsen eines Organismus keinerlei Gemeinsamkeit.


Ich, anders

"The fact that man produces a concept 'I' besides the totality of his mental and emotional experiences or perceptions does not prove that there must be any specific existence behind such a concept. We are succumbing to illusions produced by our self-created language, without reaching a better understanding of anything. Most of so-called philosophy is due to this kind of fallacy." (Albert Einstein)

Der Versuch des Ich, sich mit den Mitteln des Verstandes zu begreifen, führt stracks in die gleiche Subjekt-Objekt-Falle: Es wird zum Gegenstand seiner eigenen Betrachtung, oszilliert zwischen Beobachter und Beobachtetem. Und scheint es dann auch so, als dass ich weiß, dass ich weiß, würde ich doch auch gerne jenes Ich sehen, das mich sieht, wenn ich weiß, dass ich weiß, dass ich weiß usf. - dieses reine Ich bleibt also Phantom. Überhaupt lässt sich "unsere intern mehr oder weniger stark korrelierte Menge aus physischen und psychologischen Eigenschaften" (Thomas Metzinger) erst extern, erst im Bezug zum Anderen, in der Interaktion mit ihm erfahren, ist überhaupt nur deswegen vorhanden. Wir sind das Ensemble aller unserer Beziehungen.

Das Ich und das Nicht-Ich, das Andere, das sind zwei notwendig sich ergänzende Prinzipien. Es gilt: wo kein Ich, da auch kein Anderes, aber auch umgekehrt: wo kein Anderes, da kein Ich. Beides wäre demnach wechselseitig aufeinander angewiesen oder: Ich ginge Hand in Hand mit dem Anderen. Es ist nicht nur die Druckerschwärze, die dies hier lesbar macht, es ist gleichermaßen auch der weiße Hintergrund. Wir aber tendieren dazu, den Hintergrund auszublenden und als belanglos zu erachten. Gute Architektur etwa ist aber keine, die sich das Solide zum Inhalt macht. Sie besteht gerade in den Freilassungen, in dem, was fehlt, im eingefassten Raum, der Öffnung. Sie entwickelt sich aus der Leere, so wie die vom Ton "umspielte" Stille Musik wird. Die Essenz von Stille und Raum und auch des vorliegenden weißen Hintergrunds ist nichts. Ohne etwas Nichts aber wäre nichts etwas. Ob Text, Architektur oder Musik, ihr Wesen ist Muster, Form, Rhythmus - die Alteration, das Spiel von nichts und etwas. Ohne das eine ist das andere nicht denkbar, nicht erkennbar, nicht fühlbar. Ohne Andersartigkeit des Anderen keine Erfahrung der Eigenartigkeit des Eigenen. Nichts und Etwas, Nicht-Ich und Ich bedingen einander. Meine Haut ist nicht Grenze, sondern Brücke, Schnittstelle zum Anderen.

Der Kotzker Rebbe sagte: "If I am I because you are you and you are you because I am I, then I am not I and you are not you." Was hätten wir auch davon, würde - sagen wir aus Kostengründen - die komplette Streifzüge-Ausgabe ohne Verkleinerung hier auf diese eine Seite gedruckt...? Schwarz und Weiß meint, die explizite Verschiedenartigkeit - Druckerschwärze und Papier - als Komplementäre der impliziten Einheit - Text - zu begreifen: Verschiedenartigkeit als Ausdruck reziprok aufeinander bezogener Andersartigkeiten. Schwarz gegen Weiß meint, die explizite Verschiedenartigkeit als Gegensatz zu verkennen, tendiert aufgrund dessen zum Entweder-Oder, zielt auf Vernichtung des Verschiedenen: Verschiedenartigkeit als Ausdruck bezugsloser gegenseitiger Fremdartigkeiten. Leben unter dieser Prämisse heißt Überleben, ist beständiger Kampf gegen Nicht-Ich. Die Angst vor der Auslöschung durch den Gegenpart ist allgegenwärtig. Seine Auslöschung, die ultima ratio. Der Knopf wird von einem durch und durch angsterfüllten Menschen gedrückt werden.

Denken wir uns als gemacht, teleologisch bestimmt oder als isolierte Automaten, kausal bedingt? So oder so, beide Konzeptionen befördern uns als Fremde aus uns fremden Gründen in eine uns fremde Welt, zu anderen Fremden, die ihre eigene Fremdheit hier seltsamerweise weniger befremdet als unsere Fremdartigkeit. Die zwei eingangs skizzierten großen Weltmythen entsprechen nicht unserer Erfahrung von Ganzheitlichkeit, Prozesshaftigkeit und Irreduzibilität unseres Daseins und sind schlichtweg unerfreulich. Sie drängen die nach Albert Camus einzig relevante Frage auf, die nach dem Selbstmord. Wozu sich herumschlagen, wenn doch alles sinnlos ist? Eine taugliche Vorstellung von Welt muss eine sein, die von der hedonistischen Prämisse ausgeht, dass nämlich das Leben hier im Prinzip lustvoll und freudvoll ist.


Ich, Ereignishorizont

Eine Vorstellung, die Abhilfe verspricht und dabei weder weniger plausibel ist noch schwächere wissenschaftliche Evidenz aufweist als die zwei genannten, könnte beispielsweise so aussehen: Wir alle leben aufgrund unseres Sensoriums in einem spezifisch menschlichen Universum. Wir können nicht sagen, was es genau ist - es weicht vor unserem Blick zurück, sowie wir unsere technisch verstärkten Sinne auf es richten, im subatomaren wie im kosmischen Maßstab; so wie unser Hinterkopf uns entwischt, wenn wir uns umdrehen, um ihn zu sehen.

Darum: Wenn / das Bild vom abgespaltenen Ich eine Fiktion ist / wir in einer reziproken Beziehung mit allem anderen stehen / wir deshalb ein Symptom, ein emergentes Phänomen all dieser Wirkbeziehungen sind / wir uns selbst nicht unmittelbar erkennen können / auch das Universum, in das wir mit zunehmender Eindringtiefe unserer Instrumente immer weiter vorstoßen, sich dieser Inbetrachtnahme beständig entzieht - wenn all dem so ist, ist es da nicht angemessen, uns als holographische Aspekte des Universums selbst zu verstehen, in allem, was ist, sich widerspiegelnd, wieder findend?

"A human being is a part of the whole called by us 'the universe', a part limited in time and space. He experiences himself, his thoughts and feelings, as something separate from the rest - a kind of optical illusion of consciousness. This delusion is a kind of prison for us, restricting us to our personal desires and affection for a few persons nearest to us. Our task must be to free ourselves from this prison by widening the circle of understanding and compassion to embrace all living creatures and the whole of nature in its beauty." (Albert Einstein)

Raute

BeFREMDend

von Karl Pleyl

Unzählig sind die Untersuchungen, die den strukturellen Konservativismus der österreichischen Schule bestätigen; nicht erst seitdem Pisa für das im internationalen Maßstab schlechte Abschneiden der österreichischen Schülerinnen und Schüler steht. AkademikerInnen-Kinder müssen großes Pech haben, die Matura zu verpassen, Kinder von ArbeiterInnen brauchen für den positiven Abschluss schon einiges Glück. Daran hat sich in den vergangenen Jahrzehnten kaum etwas geändert. Bildung wird in Österreich vererbt!

Dieser soziale Missstand wird jedoch weithin als ethnisches Problem dargestellt. Die Diskriminierung wirkt nämlich am deutlichsten bei SchülerInnen mit nichtdeutscher Muttersprache, SchülerInnen mit Migrationshintergrund, der so genannten zweiten und dritten Generation, oder wie auch immer man jene in ihren Chancen benachteiligten Jugendlichen beschreiben mag. Sie haben im Durchschnitt deutlich schlechtere Noten, sie brechen häufiger ihren Schulbesuch ab, ja sie scheitern schon an diversen Zugangsbeschränkungen. Was allerdings weniger mit ihrer Muttersprache oder sonst einem kulturellen Hintergrund als vielmehr damit zu tun hat, dass es zu allen Zeiten zu den Aufgaben der (höheren) Schule gehörte, neben notwendigem Wissen bestimmte Haltungen und Ideologien zu reproduzieren, vordergründig Chancengleichheit zu suggerieren, aber in Wirklichkeit die bestehende gesellschaftliche Ungleichheit aufrechtzuerhalten und diesen Vorgang zugleich mit geeigneten Leistungskriterien zu verschleiern.

Andere Kulturen, Sprachen, Einstellungen, Religionen werden daher als Gründe für das Scheitern vieler migrantischer Kinder in der Schule vorgeschoben. Vor Jahren hat man noch vereinzelt davon gesprochen, dass Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache nicht Ursache der Schwächen im Schulsystem seien, sondern diese bloß sichtbar machten. Heute sind sie die Ursache. Punkt!

Zugleich ist in den vergangenen Jahren aufgrund ökonomischer Qualifikationsanforderungen die Zahl der Menschen in Österreich, die nur über einen Pflichtschulabschluss verfügen, von 34,2 Prozent (1991) auf 17,4 Prozent (2008) gesunken. Das bedeutet, dass heute auch viele Jugendliche aus so genannten bildungsfernen Schichten weiterführende Schulen durchlaufen - zu einem großen Teil Kinder aus Zuwandererfamilien.

Wie hat aber das System Schule bzw. die Schulverwaltung auf die Entwicklung reagiert, dass nun mehr Kinder ins Schulsystem integriert werden mussten, die über keine eigenen Zimmer verfügen, deren Eltern ihnen möglicherweise nicht bei den Hausaufgaben helfen und nur schwer Geld für private Nachhilfe zur Verfügung stellen können und denen viele Kenntnisse über örtliche Gegebenheiten und Ressourcen fehlen, die für ihre LehrerInnen als Kinder selbstverständlich waren?

Statt dem Rechnung zu tragen, wurde der Änderungsbedarf jahrelang vor allem in den höheren Schulen schlichtweg ignoriert, ja in den vergangenen zehn Jahren sowohl Unterrichtsstunden als auch PädagogInnen (siehe die muttersprachlichen BegleitlehrerInnen) weggekürzt. Die Bewältigung der größer werdenden integrativen Aufgaben wurde zu einem großen Teil auf die Lehrerinnen und Lehrer abgewälzt. Diese mussten den Spagat versuchen zwischen den traditionellen Bildungszielen und den mangelnden Ressourcen sowie mit dem Gefühl fertig werden, dass es von ihnen abhänge, die daraus folgenden Ungerechtigkeiten zu mildern. Viele sind müde, viele zerbrochen, nicht wenige sind zynisch geworden. Wen wundert's?

Gleichzeitig ist in den Berufsschulen die Zahl der SchülerInnen mit Migrationshintergrund rückläufig. Sie unterliegen dem verschärften Verdrängungswettbewerb auf einem kleiner werdenden Lehrstellenmarkt. Weil sie hier oft unterliegen, besuchen sie daraufhin vielfach berufsbildende mittlere Schulen. Seit Mitte der 90er Jahre werden unterschiedliche Bereiche an den öffentlichen Schulen autonom entwickelt und entschieden. Im Klima des Konkurrenzkampfs der Schulstandorte führte das dazu, dass ein soziales Anliegen wie das Auffangen von Jugendlichen, die keine Lehrstelle finden können, einen geringen Stellenwert bekam. In Wien z.B. gibt es bei den Handelsschulen und Handelsakademien solche des Bundes und Privatschulen mit Öffentlichkeitsrecht (u.a. von der Wiener Kaufmannschaft, dem Berufsförderungsinstitut bfi Wien und religiösen Trägern). Seit Jahren ist der Trend beobachtbar, dass die öffentlichen Schulen vermehrt Handelsakademie- und deutlich weniger Handelsschulklassen führen. Vielen migrantischen Jugendlichen bleibt daher nur der Weg an private Schulen, für die sie bezahlen müssen. Wohl ein eigenartiges integratives Signal an diese Jugendlichen.

Mögliche Schritte zu einer Besserung der Lage wären:

- Eine frühe Eingliederung in den Kindergarten. Wer spricht noch davon, dass in den vergangenen Jahren z.B. türkisch sprechenden Kindern ein Kindergartenplatz mit der Begründung verwehrt wurde, die Mutter ist ja ohnehin beim kleinen Bruder bzw. der kleinen Schwester zu Hause? Statt dessen heißt es: "Diese Leute lehnen ja die Bildungsmöglichkeiten ab." Sicherlich gibt es solche Fälle. Der Notwendigkeit struktureller Reformen aber persönliche Befindlichkeiten bzw. einzelne Erfahrungen entgegenzuhalten, entspricht bloß den herrschenden Vorurteilen und Rassismen. Natürlich bräuchten die Kindergärten und erst recht die Schulen zur Bewältigung alltäglicher Reibungsverluste und neuer Problemstellungen mehr SozialarbeiterInnen und PsychologInnen. Die gibt es selbstredend nicht!

- Spätere schulische Differenzierung - Gesamtschule für alle.

- Ein Ganztagsschulangebot, das mögliche Defizite möglichst früh ausgleicht.

- Ein schulisches Verständnis, das die bestehende Mehrsprachigkeit unserer SchülerInnen vor allem als Chance wahrnimmt. Nicht nur als eine fürs Big Business, das tut ohnehin schon die Industriellenvereinigung, die hier ein Arbeitskräftepotential für die wirtschaftliche Expansion im CEE-Raum heranwachsen sieht, sondern als Möglichkeit, die Welt aus möglichst verschiedenen Perspektiven und mit möglichst verschiedenen Sichtweisen wahrzunehmen, zu verstehen und zu kritisieren.

- Schlussendlich eine schulpolitische Diskussion, die die Schule in den sozialen Kontext stellt. Und nicht bloß als Ort für Chancen und Misserfolge beschreibt, wo dann jede(r) selbst schuld ist, wenn er/sie es nicht schafft.

Raute

Der Reiz des Fremden

von Peter Pott

"Es redet trunken die Ferne
Wie von künftigem, großem Glück!"
(Eichendorff)

"Das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es ..." ein Lebewesen, das wie jedes andere Lebewesen nicht nur da sein will, sondern in seinem Dasein für ein schöneres Dasein da sein. Bestrebt, "über sein eigenes Wesen hinauszugehen und mehr zu vollbringen, als in seiner Kraft steht", wie Jules Michelet schreibt. "Man sieht es an den Leuchtkäfern und anderen kleinen Tieren, ... sie usurpieren eine höhere Lebensform" (S. 98). Das menschliche Wesen in einem besonderen Maße. Anders als das Tier, dessen "Produkt ... unmittelbar zu seinem physischen Leib" gehört, tritt "der Mensch frei seinem Produkt" gegenüber. "Das Tier formiert nur nach dem Maß und dem Bedürfnis der species, der es angehört, während der Mensch nach dem Maß jeder species zu produzieren weiß und überall das inhärente Maß dem Gegenstand anzulegen weiß; der Mensch formiert daher auch nach den Gesetzen der Schönheit" (MEW. EB 1, S. 517). Er ist sozusagen aus der Art geschlagen. Sie liegt ihm fern. Er hat sie aber im Auge, im Ohr, in allen Sinnen, die ihm ein Gespür für die Art seines Daseins verschaffen, das die Sinne aktiviert, ihren Spürsinn auszuweiten, differenzierter zu entwickeln, ohne ihm, dem Menschen, je ein artgerechtes Verhalten vorzuhalten.

Statt ihn auf eine bestimmte Art festzulegen, spielen ihm die Sinne "Informationen" zu, an denen er zunächst einmal nur leidet. Zum Glück. Wie Marx nahe legt "Sinnlich sein, d.h. wirklich sein, ist Gegenstand des Sinns sein, sinnlicher Gegenstand sein, also sinnliche Gegenstände außer sich haben, Gegenstände seiner Sinnlichkeit haben. Sinnlich sein ist leidend sein" und zugleich - weil der Mensch ein "sein Leiden empfindendes Wesen" ist - "leidenschaftlich" (MEW EB 1, S. 579).

Das Leiden zu empfinden, ohne sich damit abzufinden, die Sache, die ins Auge ging, das Ohr behelligte, der Nase stank, mit Leidenschaft zu betrachten, heißt, den Bedingungen des Leidens noch einmal anders zu begegnen. In der Erwartung, wie Benjamin bemerkt, "von dem erwidert zu werden, dem (es) sich schenkt" (I 2, S. 646). Wo sie erwidert wird, so Benjamin weiter, "da fällt ihm die Erfahrung der Aura in ihrer Fülle zu": die "einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag"; ein Gespinst, wie Benjamin sie nennt, und zwar ein einmaliges, "ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit" (II 1, S. 378f.), das sich im Innern des Individuums abspielt und diesem das Vermögen zuspielt, die Erscheinung mit dem "Vermögen (zu) belehnen, den Blick aufzuschlagen" (ebd.), der dem Einsamen einen Hauch von Wirklichkeit vermittelt, der einzigartig ist, doch belanglos, wenn er nicht die Kraft aufbringt, die aufgespürte Wirklichkeit auch zu verweltlichen. Denn wer "seine Haltung nur 'erlebt'", gibt Martin Buber zu bedenken, "der mag noch so gedankenvoll sein, er ist weltlos - und alle Spiele, Künste, Räusche, Enthusiasmen und Mysterien, die sich in ihm begeben, rühren an die Haut der Welt nicht. Solange sich einer nur in seinem Selbst erlöst, kann er der Welt weder Liebes noch Leides tun, er geht sie nicht an" (S. 96).

Die Kraft, die notwendig ist, das sonderbare "Gespinst aus Raum und Zeit" tatsächlich auch zur Welt zu bringen, ist eine Kraft der Gemeinschaft, die nicht falsch zu verstehen ist. Nicht als die Kraft einer vorhandenen ehelichen, dörflichen, betrieblichen oder sonst wie parteilichen Gemeinschaft, die, abgestimmt auf eine bestimmte Arbeit bzw. Ideologie, jedes Individuum zwingt, sich brav auf sie einzustellen und sich in einer mehr oder weniger bedeutenden Funktion für das Ganze verdient zu machen. Das führt nur dazu, wie Adorno bemerkt, dass die Menschen, mit denen der funktionalisierte Mensch in Berührung kommt, "automatisch sich in Freund und Feind" verwandeln. Er sieht alle daraufhin an, "wie sie seinen Absichten sich einfügen, reduziert ... sie gleichsam vorweg zu Objekten: die einen sind verwendbar, die anderen hinderlich. Jede abweichende Meinung erscheint auf dem Bezugssystem je einmal vorgegebener Zwecke ... als lästiger Widerstand, Sabotage, Intrige; jede Zustimmung, und käme sie aus dem gemeinsten Interesse, wird zur Förderung, zum Brauchbaren, zum Zeugnis der Bundesgenossenschaft. So tritt Verarmung im Verhältnis zu anderen Menschen ein: die Fähigkeit, den anderen als solchen und nicht als Funktion des eigenen Willens wahrzunehmen, vor allem aber die des fruchtbaren Gegensatzes, die Möglichkeit, durch Einbegreifen des Widersprechenden über sich selber hinauszugehen, verkümmert. Sie wird ersetzt durch beurteilende Menschenkenntnis", die in völliger Unkenntnis des menschlichen Wesens eine "Personalpolitik" betreibt, die "bereits von sich aus, vor aller politischen Willensbildung und aller Festlegung auf ausschließende Tickets, zum Faschismus" tendiert (Minima, S. 171).

Die Kraft der Gemeinschaft, die die Welt "noch einmal aus den Spuren" schafft, die sie in einmaliger Weise in den Sinnen des Individuums hinterlassen hat (Horkheimer/Adorno, S. 198), ist eine gemeinschaftliche, die jede Gemeinschaft aus der Fassung bringt und neu ins Auge, Ohr, den ganzen Leib fasst: eine Kraft von doppelter Kraft, wie Wilhelm von Humboldt sagt, eine, die die Kraft der "Selbsttätigkeit" mit der der "Empfänglichkeit" verbindet und so wie keine andere die Kraft hat, etwas zu zeugen, was "vorher nicht vorhanden" war und was "ebenso wenig aus schon Vorhandenem oder schon Bekanntem bloß abgeleitet" ist (S. 268f.). Sei es ein noch nie gehörtes Musikstück. Oder ein Kind. Was keinen wesentlichen Unterschied macht. Wie Nietzsche meint: "Musikmachen ist auch noch eine Art Kindermachen" (III, S. 756), das Kindermachen dementsprechend auch eine Art Musik zu machen. In jedem Fall eine Kunst - und weder nur eine Technik noch ein bloß biologischer Vorgang -: die Kunst, etwas Einzigartiges zu erzeugen. Also Liebe! Vorausgesetzt, sie hat das Glück, auf Gegenliebe zu stoßen. Darauf muss der Mensch hinarbeiten.

Anders als das Tier, dessen Liebesobjekt "unmittelbar zu seinem physischen Leib" gehört, hat der Mensch die freie Wahl, kann und muss er seinen Geliebten suchen und diesen versuchen. "Unsere Chance ist über die Welt hin verstreut, wer weiß wo, allenthalben nur darauf wartend, sich zur Blüte zu entfalten, doch knitterig wie der Mohn in seiner Knospe" (Breton, S. 40). So z.B. in dem Dorf, in dem Dshamilja zu Haus ist und sich nach ihrem menschlichen Wesen sehnt, das ihr das Dorf verweigert. Es taucht in der Gestalt Danijars auf: eines Fremden, der in Dshamiljas Dorf eigentlich nichts zu suchen hat. Schon gar keine Liebesgeschichte. Sie ließ sich nicht verhindern.


Ein Fremder bringt die Dorfgemeinschaft aus der Fassung

Eine Gemeinheit ist der Ausgangspunkt: ein unbedachter Streich, der Danijar dazu bringt, eine lange ertragene Einsamkeit aufzugeben. Er kann sich nicht länger beherrschen - und beginnt zu singen, stockend zuerst und dann, da er ein Echo vernimmt, fließender, kräftiger, voller, mit rauer, mit bewegter und bewegender Stimme. Sein Lied "hatte fast keinen Text, ohne Worte öffnete es die ganze Welt der menschlichen Seele ... Es glich weder den kirgisischen noch den kasachischen Gesängen, und doch barg es die einen wie die anderen in sich. Danijars Lied griff die schönsten Melodien der beiden verwandten Völker auf und verflocht sie auf eigene Art zu einer einheitlichen Musik. Es war das Lied der Berge und Steppen, mal stieg es tönend auf wie die kirgisischen Berge, mal strömte es hin, weit wie die kasachische Steppe" (Aitmatow, S. 52ff.). In ihm sangen die Menschen alle, die hier lebten, liebten und arbeiteten und die den Bergen und der Steppe ein menschliches Antlitz gegeben hatten: die Bahnlinie, die schlängelnden Wege, die die Dörfer miteinander verbanden, die schimmernden Kornfelder, die gemäht sein wollten, die in den Gärten reifenden Äpfel, von denen der Wind erzählte, der auch andere Geschichten erzählen konnte, leicht säuselnde, schwer stürmende. Danijar sang ein Liebeslied, das nicht allein von Dshamilja und nicht allein zu ihr sang, von ihr und zu ihr aber in besonderer Weise. Als brauchten Danijars Töne Dshamiljas Leib und dessen Tonart, um ihre ergreifende Tönung zu finden. "Und wie sich Dshamilja plötzlich verändert hatte! Nichts erinnerte mehr an das muntere, stets zu Scherzen aufgelegte Mädchen mit der spitzen Zunge. Ihre Augen schimmerten dunkler, ihr Blick war verschleiert, nach innen gekehrt. Wenn wir unterwegs waren, dachte sie immerfort angestrengt nach. Ein verträumtes Lächeln spielte um ihre Lippen, sie freute sich still über etwas Schönes, von dem nur sie allein wusste."

Mit den so aufrührerisch zum Ausdruck gebrachten Erinnerungen Danijars lichten auch Dshamiljas Erinnerungen den Anker - und verwandeln sich in "eine köstliche Substanz" (Proust). Erinnerungen tauschen sich aus! Sie erinnern sich zusammen. Weniger die Höhepunkte ihres Lebens, die Triumphe, die bestandenen Prüfungen, den Beifall, den sie gefunden, die Bewunderung, die sie genossen haben. Sie vermitteln sich vielmehr Spuren, die Erlebnisse und Erfahrungen hinterlassen haben, die auf der Strecke blieben, von Begegnungen, die verloren gingen, von vielen gespielten Spiele, die mehr Sinn machten, als sie schließlich im gewohnten Tun und Lassen gefunden haben. Kindheit brach auf! Durchbrach Schranken. Trat in die Augen und ließ sie dunkler schimmern, ein Geheimnis aussprechen. Es äußerte sich in Tränen, die auf die Steppe träufelten und die Steppe verwandelten. "Die Steppe schien zu erblühen, zu wogen, das Dunkel schien sich zu lichten." Sie hatte ein vertrautes Gesicht angenommen. War in ein Verhältnis eingetreten, das "sinnlich, auf ein anschaubares Faktum reduziert", offenbarte, dass "das Verhältnis des Menschen zur Natur unmittelbar sein Verhältnis zum Menschen, wie das Verhältnis zum Menschen unmittelbar sein Verhältnis zur Natur, seine eigne natürliche Bestimmung ist" (Marx: EB, S. 535).

Die Tränen sind Tränen des Glücks, das schon die Ahnung enthält, dass es mit ihm kein gutes Ende nehmen wird. Das Glück überkam sie, ist um sie: als eine "dunkle Landschaft" (Proust), die in den Augen des anderen aufleuchtet - und Farbe und Form gewinnt. Das einmal gelebte und Schicht für Schicht verkörperte, in seinen unwillkürlichen Verkörperungen unwillkürlich weiter existierende - gesellschaftlich bestimmte - Leben fühlt sich, von der Liebe wieder aufgespürt, spürbar anders an: frei von traditioneller Bevormundung und Aufsicht, doch nicht ungebunden. Eher in poetischen als in rituellen oder zweckrationalen Bindungen aufgehoben. Sie halten die Liebenden in Bewegungen, die "rhythmisch und phantastisch zugleich" sind: zügellos, nicht kunstlos; gesetzlos, nicht regellos. In Tanzbewegungen, die keinem Plan folgen, sondern einer Wissensweise, die ihr Wissen nicht hat, es aber wissen und immer besser wissen will, die, genauer gesagt, das Wissen, das sie hat, aufgibt, um es sich sinnvoller zurückzuholen. Wovon aber die, die es nicht besser, nur genauer wissen wollen, wenn schon nicht alles beim Alten bleiben kann, nichts wissen wollen.

Danijar und Dshamilja bleiben mit ihrer Liebe allein! Die Menschen im Dorf sehen nicht, wie sich mit den zwei Verliebten das Dunkel um sie herum lichtet, die Steppe blüht, die Berge leuchten, das Gras viel frischer duftet. Sie wollen es nicht sehen! Wollen nichts hören, nichts riechen, nichts schmecken, nichts zur Kenntnis nehmen, was sie zu einer freiwilligen Änderung ihrer Gewohnheiten veranlassen könnte. Die Erwachsenen wollen es nicht! Sie wollen keine neuen Geschichten. Allein ein Kind, zu schwach, um der Liebe auf die Sprünge zu helfen bzw. deren Sprunghaftigkeit gegenüber der herrschenden Tanzweise zu verteidigen, ist, "zutiefst bewegt" - und nimmt daran teil, wie Dshamilja und Danijar sich, "die ganze Welt vergessend, zusammen im Takt des Liedes wiegten", dem sie ihre Liebe verdankten.

Wovor die Erwachsenen und die Kinder, die ihnen nicht zu widersprechen wagen, die Augen verschließen, dieses eine Kind sieht es mit Staunen: "Es waren andere, ungeahnt glückliche Menschen. So sah das Glück aus. All die Liebe für sein Heimatland, die in ihm diese wundersamen Melodien geweckt hatte, gab Danijar nun Dshamilja. Er sang für sie, er sang von ihr" (S. 63). So sah es aus, was alle verschmähten. Der Spürsinn des Kindes aber zählte nicht! Das Glück, das nur mit allen zusammen glücken konnte und im Widerstand gegen die gewohnte Art und Weise, sich durchzuschlagen, war gezwungen auszuwandern. Und Danijar und Dshamilja folgten ihm. Ihrer Liebe treu bleibend, verließen sie die Heimat, die ihnen so "wundersame Melodien" eingegeben hatte, - und gingen in die Fremde. "Danijar trug einen Soldatensack auf dem Rücken; er strebte, das Bein nachziehend, hastig vorwärts, sodass sein offener Uniformmantel um die Schäfte seiner ausgetretenen Stiefel schlug. Dshamilja hatte einen weißen Schal um Kopf und Hals geschlungen; sie trug ihr bestes Kleid, das bunte, in dem sie sich an Markttagen so gern gezeigt hatte, und darüber eine gesteppte Wattejacke. In der Hand hielt sie ein kleines Bündel, mit der anderen klammerte sie sich an den Tragriemen, der über Danijars Schulter lief. Sie sprachen miteinander..." (S. 75).

Das Kind rannte dem Paar wie von Sinnen nach. Stolperte, stürzte, blieb am Boden liegen, schluchzte. Es "nahm nicht nur von Dshamilja und Danijar Abschied, sondern auch von (seiner) Kindheit". Bewahrte sich die Erinnerung! Verteidigte die beiden gegen den wütenden Einspruch der Dorfgemeinschaft, die Danijar, diesen "zugelaufenen Hundesohn", der es gewagt hatte, eine ihrer Frauen zu entführen, auf der Stelle erschlagen hätte, wäre er ihr wieder in die Hände gefallen. - "Und sie hätte ich mit den Haaren an einen Pferdeschwanz gebunden!", tönte es aus der Gemeinschaft der Zurückgebliebenen. Danijar und Dshamilja hatten Glück - im Unglück. Die hasserfüllte Dorfgemeinschaft sah sie nicht wieder. Sie konnte nur hoffen, dass die beiden irgendwo verreckten. Ganz anders die Hoffnung des Kindes. Es hoffte, dass die beiden Menschen, die ihm die liebsten waren, nicht nur nicht verreckten, sondern mit ihrer Liebe Recht behielten - und die Nacht, in der Mann und Frau sich lustvoll erkannten, zum Tage werden würde, der (wie mit ihm auch Louis Aragon hofft) "die Liebe siegen lässt über das Gesetz der Ehe, über die Pflichten der Frau gegenüber dem Mann bei der Truppe, unter dem die Heuchelei des Ail, und nicht nur des Ail, zusammenbricht" (S. 85ff.).


Stadtluft macht frei

Das nächtlich aufgespürte Liebesleben, das täglich zu bestätigen wäre, um die dörflichen Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, darf sich am Tage nicht sehen lassen. Es muss bei Tagesanbruch das Dorf verlassen. Und Danijar und Dshamilja, die von diesem Leben nicht lassen wollen, mit ihm. Und wenn sie nicht gestorben sind, wenn die beiden sich bis in die Stadt durchgeschlagen und dort Arbeit und Brot gefunden haben, so haben sie doch mit dem Glück, ihrer bornierten Heimat entkommen zu sein, die Herkunft ihrer Liebe aus dem Blickfeld verloren: das Blühen der Steppe, das Schimmern der Kornfelder, den Duft der Apfelbäume, die Schönheit der Wälder, die Aura der Berge; Wahrnehmungen ihrer Kindheit, ohne die ihnen das Glück, auf das sie in der Stadt hoffen, gar nicht vorstellbar ist. "Es schwingt, mit andern Worten, in der Vorstellung vom Glück ... die Vorstellung der Erlösung mit. Dieses Glück ist fundiert auf eben der Trostlosigkeit und auf eben der Verlassenheit, die die unsern waren. Unser Leben ist, anders gesagt, ein Muskel, der Kraft genug hat, die ganze historische Zeit zu kontrahieren. Oder noch anders: Die echte Konzeption der historischen Zeit beruht ganz und gar auf dem Bild der Erlösung" (Benjamin, V 1, S. 600).

Danijar und Dshamilja haben ihre Geschichte aus dem Blick verloren, nicht aus dem Gedächtnis. Was sie praktisch im Sinn hatten, Grundlage ihrer Arbeit war und ihre Liebe nährte, bleibt unvergessen, hat aber den Nutzen verloren, den es für die Dorfgemeinschaft besaß, die, wie gesehen, mit der Liebe zwischen Danijar und Dshamilja und den davon ausgehenden befremdlichen und umwerfenden Aussichten nichts zu tun haben wollte. Es bleibt ihnen als bloßes Gefühl erhalten, das sich mit nostalgischen Erinnerungen schüren lässt: einem "Vorrat an Geschichte" (Barthes, S. 97), der in Warenform im Angebot ist, als Konsumgut zu haben, das sich bedingungslos in den Dienst der Selbsterfahrung stellen lässt, die mit Erfahrung nichts zu tun hat, den bürgerlichen Subjekten aber das Gefühl bestätigt, dass ihre trostlosen Kontakte ausgesuchte Begegnungen sind, ihre sexuellen Machenschaften sensationelle Liebesspiele, die inhaltslosen Plaudereien gehaltvolle Gespräche. Was nur glauben kann, wer's glauben will.

Danijar und Dshamilja werden wohl daran glauben müssen und die Flucht nach vorn antreten, auf den Zug des unaufhaltsamen technischen Fortschritts springen, sich als Arbeitskräfte verdingen, in den heiligen Stand der Ehe treten, mit der sie ihre unheilige Liebe ihrem bürgerlichen Schicksal überlassen. Es sei denn, sie bringen die Kraft auf, die heuchlerische Dorfgemeinschaft ohne Heuchelei in ihr städtisches Leben zu montieren, damit in der Welt etwas entsteht, "das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat" (Bloch 3, S. 1628). Etwas, das der bornierten Dorfgemeinschaft fern liegt. Ganz anders als dem Kind, das hofft, dass Danijar und Dshamilja mit ihrer Liebe Recht behalten, die Natur, die in ihrer Liebe aufgeblüht war, in der Stadt die Heimat findet, die "allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war".

Danijar und Dshamilja haben die Kraft "die ganze historische Zeit zu kontrahieren": die Kraft der Liebe, die die Kraft der "Selbsttätigkeit" mit der der "Empfänglichkeit" verbindet und so wie keine andere die Kraft hat, etwas zu zeugen, was "vorher nicht vorhanden" war und was "ebenso wenig aus schon Vorhandenem oder schon Bekanntem bloß abgeleitet" ist. Soll diese Kraft, "soll Liebe", wie Adorno sagt, "in der Gesellschaft eine bessere vorstellen, so vermag sie es nicht als friedliche Enklave, sondern nur im bewussten Widerstand. Der jedoch fordert eben jenes Moment von Willkür, das die Bürger, denen Liebe nie natürlich genug sein kann, ihr verbieten" (Minima, S. 226). Er fordert Misstrauen: "Misstrauen, Misstrauen und Misstrauen in alle Verständigung zwischen den Klassen, zwischen den Völkern, zwischen den Einzelnen" (Benjamin II 1, S. 308), die auf Treue schwören, Treue zur Klasse, zum Volk, zur Ehegemeinschaft, die ein Befehl ist, den der Staat erteilt, "Mittel zur Unfreiheit" (Adorno: Minima S. 227).

Also: "Pessimismus auf der ganzen Linie ... Aber was nun, was dann?" Dann ist der Pessimismus zu organisieren! (Benjamin II 1, S. 309). Das heißt, das Misstrauen auch zu äußern, diese Äußerung aber nicht für die letzte auszugeben, sondern für die erste, die das verschwiegene Entsetzen über das begründete "Misstrauen in alle Verständigung" laut und deutlich auf den Weg einer Verständigung verweist, die auf die Bilder zurückkommt, die den Individuen auf unterschiedlichen Wegen ins Auge gefallen, zu Ohren usw. gekommen waren, um so gebildet die gemeinsame Bildung in Aussicht zu nehmen. Das heißt "nichts anderes", so Benjamin, "als die moralische Metapher aus der Politik herausbefördern und im Raum des politischen Handelns den hundertprozentigen Bildraum ..., und konkreter: Leibraum zu entdecken" (a.a.O.). Das ist der Raum, den nicht "die Politik" vorgibt und gestaltet, sondern der wirkliche, leibhaftige, sinnliche Mensch, dessen gesellschaftliche Natur sich ihrer Reduktion - "einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische, unabhängige Individuum, andererseits auf den Staatsbürger, auf die moralische Person" (MEW 1, S. 370) - widersetzt. Benjamin ist sich mit Marx einig: "Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine 'forces propres' als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht" (ebd.). Darin eingeschlossen, dass der Mensch auch die technischen Kräfte als gesellschaftliche Kräfte erkennt und organisiert: dass also die "Physis, die sich in der Technik ihm organisiert, ... nach ihrer ganzen politischen und sachlichen Wirklichkeit nur in jenem Bildraume zu erzeugen (ist), in welchem die profane Erleuchtung uns heimisch macht" (Benjamin II 1, S. 310).


Von den Dingen umzingelt

Danijar und Dshamilja müssen ins Kino gehen, um sich ein Bild von "ihrer ganzen politischen und sachlichen Wirklichkeit" zu machen. Es lässt sich in Augen erblicken, die von ihrem Augenblick völlig unberührt bleiben: in den Augen Buster Keatons, von denen Garcia Lorca sagt, dass sie "unendlich traurig wie die eines neugeborenen Tieres" sind, träumend von "Lilien, Engeln und Seidengürteln". Seine traurigen Augen erinnern daran, worauf sie einen Anspruch haben - und daran, dass ihnen dieser Anspruch im Treiben der Stadt genommen ist, die Dinge, so, wie sie vorkommen, dem zuwiderlaufen. Was diesen Mann bewegt, scheint nicht in seiner Macht zu liegen. Reize wirken auf ihn ein, beeindrucken ihn, treiben ihn vorwärts, bringen ihn zum Stehen, ohne dass erkennbar wäre, dass dieser Mensch das, was ihn reizt, auch seinerseits zu reizen vermag: dass er, genauer gesagt, auch ausdrücklich und zum Zweck eines glücklichen Ausganges beeinflusst, was ihn beeinflusst. "Er ist ein Gestoßener. Die vielen Gegenstände, Apparate, Baumstämme, Trambahnwände und Menschenkörper, veranstalten ein Kesseltreiben mit ihm, er kennt sich nicht mehr aus, er ist unter dem sinnlosen Druck der Dinge apathisch geworden. Kein Lächeln bewegt den Mund, die Züge sind stur, der Gang ist der eines Automaten. Man tippt ihn an; er setzt sich in Marsch; man legt ihm ein Hindernis in den Weg; er steht wie angegossen. Den Ereignissen, die oberhalb von Druck und Stoß sich vollziehen, ist er nicht gewachsen. Frauen, Freunde, menschliche Erlebnisse sind für ihn eben so viele Ausfallserscheinungen" (Kracauer, S. 180).

Keaton, der sich den menschlichen Werken ohne Arg nähert, darauf vertrauend, dass sie den Menschen eine Stütze sind in der Auseinandersetzung mit der Natur, die ihnen ihre Wohltaten ja nicht bedingungslos zur Verfügung stellt, erlebt sein "blaues Wunder". Die Dinge, von denen die menschlichen Sinne doch erwarten können, dass sie den Erwartungen entsprechen, die sie an sie stellen, da sie sie schließlich vorhergesehen, herausgehört, ertastet, die sie gewittert haben, bevor man sie vergegenständlichte, auf die sie einen Vorgeschmack geliefert haben, bevor sie für den Verzehr hergestellt wurden, diese vergegenständlichten Augenblicke, Hörweisen usw. boykottieren die Erwartungen - und sind für Keatons naive Zuneigung nicht mehr ansprechbar. Sie verdinglichen ihn stattdessen. Kommandieren ihn. Automatisieren seine Äußerungen. Sie zwingen ihn, dass er - wie der Arbeiter an der Maschine - seine sinnlichen Tätigkeiten immer nur wiederholt und nicht die Gelegenheit bekommt, sie mit Erfahrung fortzusetzen. Oder anders gesagt: Die Hartnäckigkeit, mit der die Dinge Keaton zusetzen, verbietet es ihm, die Wahrnehmung der Dinge so fortzusetzen, dass sie sich nicht nur von Mal zu Mal routinierter fortsetzt, sondern auch in ihrem Sinne fortsetzt, so also, dass sich die vergangene Wahrnehmung zu der gegenwärtigen gesellt. Was sie nicht nur Schritt für Schritt - dem Tanz gleich, der, frei von vorgegebenen Schrittfolgen, die folgenden Schritte über die ausdrückliche Erinnerung der vorangegangenen erfindet - meisterlicher werden ließe, sondern auch geselliger und mit wachsendem Gespür für die künftige Gesellschaft.

Der arglose Keaton gerät in arge Bedrängnis. Sein Gespür ist nicht gefragt. Gesellschaft stößt ihm zu. "Man tippt ihn an; er setzt sich in Marsch." Als wäre er eine Maschine, so mechanisch sind seine Bewegungen. Er ist selbstverständlich keine Maschine. Keaton will auch keine sein. Was angesichts der Übermacht der Dinge so selbstverständlich nicht ist. Er denkt nicht daran, der Herrschaft der Dinge durch Selbstbeherrschung zuvorzukommen, durch Tüchtigkeit zu glänzen. So artistisch seine Vorstellungen auch immer sein mögen: Im Gegensatz zu den meisten Zirkusvorstellungen, im Gegensatz auch zu den meisten Filmvorstellungen, die seine Konkurrenten geben, verherrlicht die "Filmkomödie" des Buster Keaton nicht die Tüchtigkeit des Darstellers, mit der dieser dem Tod trotzte und unvorstellbare Schwierigkeiten überwand, bagatellisiert sie noch dadurch, dass sie eine erfolgreiche Rettung als Resultat des reinen Zufalls ausgibt (Kracauer, S. 18).

Die Tüchtigkeit, die es lächelnd mit den Dingen aufnimmt und sie unter Kontrolle bringt nur um den Preis, dass auch die Ansprüche der Sinnlichkeit unter Kontrolle gebracht werden, das ist, sagt Benjamin, die Katastrophe (I 2, S. 683). Das gibt uns auch Buster Keaton zu verstehen. Er gibt zu verstehen, dass wir unseren eigenen Erfindungen, auch denen, die ausdrücklich zu unserer Bequemlichkeit erfunden sind, nicht gewachsen sind. Und zeigt es, indem er zeigt, was die Dinge mit uns machen, wenn wir nicht tüchtig und kontrolliert mitmachen: wie unfreundlich sie werden können, wenn wir auf ihre Güte vertrauen und uns ihnen arglos nähern; wie sie mit den Mächten paktieren, die sie kultivieren sollten. "Anstatt dem Menschen zu dienen, erwiesen sich diese fortschrittlichen Erfindungen als die besten Freunde gerade der Kräfte, die sie im Zaume halten sollten; anstatt uns von den Launen der Materie unabhängig zu machen, waren gerade sie die Stoßtrupps ungebändigter Natur und fügten uns eine Niederlage nach der anderen zu. Sie verschworen sich gegen ihre Meister, sie enthüllten die angeblichen Wohltaten der Mechanisierung als Lüge. Ihre Verschwörung war so mächtig, dass sie das Lächeln Buster Keatons im Keime erstickte. Wie hätte er auch in einer mechanisierten Welt lächeln können? Sein unabänderlicher Gleichmut war ein Zugeständnis, dass in dieser Welt die Maschinen und Apparaturen die Gesetze bestimmen und dass es besser wäre, wenn er sich ihren Erfordernissen anpasste. Zur gleichen Zeit jedoch ließ ihn diese Leidenschaftslosigkeit, so unmenschlich sie auch war, in rührender Weise menschlich erscheinen, denn sie war untrennbar mit Trauer verbunden, und man empfand, hätte er je gelächelt, während er Knöpfe drückte und seine Liebe erklärte, so hätte er seine Trauer verraten und einen Stand der Dinge gutgeheißen, in dem er selbst wie ein kleines technisches Gerät sich verhalten musste" (Kracauer, S. 18f.).

Keaton will nicht den Helden spielen! So weiß er, was die, die ihn spielen wollen, nicht wissen können: "Er weiß vielleicht etwas von Liebe, vom Händeschütteln, von solchen Aktionen, die jenseits der Mechanik sich abspielen. Aber er kann es nicht recht herausbringen, wie ein Kloß steckt es in ihm, sein Kopf war zu bedenklich mit den Objekten in Berührung gekommen. Wenn es von ihm selber nur abhinge, nie gelangte er an ein menschliches Ziel. Indessen, gerade weil er so töricht, ein dummer Hans, durch die tote Welt gepufft wird, kommt ihm die Hilfe im letzten Augenblick. Er sucht sie nicht, sie sucht ihn" (ebd., S. 180). Und sie findet ihn, weil er nicht mit Gewalt sich ihr verschließt: weil seine verletzten Augen ihre Verletztheit nicht verbergen und sich das Strahlen versagen; weil er sich nicht taub stellt, auch wenn der Lärm den Ohren wehtut; weil er seine Nase auch dann noch in die Dinge steckt, wenn sie nach Verwesung stinken; weil er ein "Zersprengter" ist.

Keatons "Zersprengtheit" offenbart, was auch Chaplins "armer Schlucker" offenbart: Sie offenbaren eine "ganz neue Armseligkeit", die mit der "ungeheuren Entfaltung der Technik über die Menschen gekommen" ist, deren Kehrseite "der beklemmende Ideenreichtum (ist), der mit der Wiederbelebung von Astrologie und Yogaweisheit, Christian Science und Chiromantie, Vegetarianismus und Gnosis, Scholastik und Spiritismus unter - oder vielmehr über - die Leute kam". Das ist ein Elend - und zwar ein ganz neues: "Armut nicht nur an privaten sondern an Menschheitserfahrungen überhaupt"; eine "Art von neuem Barbarentum", das diese Barbaren aber nicht zwingt, auch noch barbarisch zu werden. Es ist auch die Chance, "von Neuem anzufangen; mit Wenigem auszukommen; aus Wenigem heraus zu konstruieren ... Dem Innern mehr als der Innerlichkeit" gehorchend (Benjamin II 1, S. 214ff.).


Mit Wenigem und Wenigen neu anfangen

Der Neuanfang kann und soll die Teilhabe am herrschenden Produktionsprozess nicht ausschließen. Er kann und soll nicht den Rückzug aus der Stadt wieder aufs Dorf bedeuten. Nicht den Verzicht auf flüchtige Bekanntschaften mit der Masse der Unbekannten, um sich mit einigen wenigen, stetigen Bekanntschaften zu begnügen. Wohl aber den Verzicht auf die Dummheit, die darauf besteht, "dass ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben" (Marx EB 1, S. 540). Schluss also mit dem Privateigentum. Mit dem aber nicht Schluss zu machen ist, wenn wir es nicht schaffen, uns ein Dasein zu schaffen, in dem das Privateigentum sich aufhebt. Wie die "ganze Bewegung der Geschichte ... wie ein wirklicher Zeugungsakt (ist) - der Geburtsakt seines empirischen Daseins" (EB 1, S. 536) -, so muss auch die Abschaffung des Privateigentums und der darauf zugeschnittenen Beziehungen, die Abschaffung also auch der Religion, der Familie, des Staates als "ein wirklicher Zeugungsakt" gedacht werden: als der Geburtsakt eines empirischen Daseins, in dem "der andre Mensch als Mensch zum Bedürfnis geworden ist" (EB 1, S. 535), den Individuen es daher ein Bedürfnis ist, dass zum einen Anderen ein anderer Anderer hinzukommt, der den Frieden des Eigenheimes, das Ritual ehelicher Treue, die Heiligkeit der Familie, die gewöhnlichen Tischsitten und üblichen Bettgeschichten, die Routine der Kindererziehung und was es sonst noch an verstaubter Häuslichkeit gibt, stört. Der Wunsch danach ist unabweisbar. Er muss überdacht werden. Nicht nur im geistigen, sondern auch im gewöhnlichen Sinne. Mit einer Technik, die es den "Werktätigen" erlaubt, auf sie ihr miteinander belastetes Leben zu übertragen und Kräfte in ihr anzusprechen, die ihren "beengten und beengenden gesellschaftlichen Zustand über sich hinaus treiben zu einem menschenwürdigen hin" (Adorno: Noten, S. 56). Guter Rat, der nicht teuer ist, kommt von den Dingen, die im Aussterben begriffen sind - und erwarten, dass man sie leben lässt: dem verlassenen Dorf, dem Bauernhof, der nicht mehr bewirtschaftet wird, alten Geräten, die sich routinierter Bedienung verschließen. Wie auch von Erzählungen, Liedern, Tänzen, die den Umgang mit den veralteten Dingen einst begleiteten. Man muss sie nicht hoch halten, muss sie sich vergegenwärtigen. Damit ist ein Umgang mit dem Veralteten gemeint, dessen Entdeckung sich, wie Benjamin entdeckte, der "Surrealismus" rühmen kann. "Er zuerst stieß auf die revolutionären Energien, die im 'Veralteten' erscheinen, in den ersten Eisenkonstruktionen, den ersten Fabrikgebäuden, den frühesten Photos, den Gegenständen, die anfangen auszusterben, den Salonflügeln, den Kleidern von vor fünf Jahren" (Benjamin II 1, S. 299) - und die auch in den veralteten Werkzeugen erscheinen, mit denen in vorindustrieller Zeit Bauern und Handwerker ihren Unterhalt und ihre Unterhaltung bestritten. Um die in diesen Dingen lagernden "revolutionären Energien" freizusetzen, bedarf es eines Tricks. Dieser Trick - "es ist anständiger hier von einem Trick als von einer Methode zu reden - besteht in der Auswechslung des historischen Blicks aufs Gewesene gegen den politischen" (S. 300), der das einst gelebte gesellschaftliche Leben, wie es uns z.B. in alten Fotos, uralten Brücken und alten Fabrikgebäuden herausfordernd anblickt, wie es auch aus den alten Handwerksliedern oder Bauerntänzen zu uns spricht, nicht als Vergangenheit abtut.

So gesehen, die Dinge politisch und nicht historisch betrachtet, heißt, sie mit Erschrecken zu betrachten: als ausgestorbene oder aussterbende Dinge, mit denen auch eine Lebensweise ausstirbt, die ein Wissen von und zu den Dingen und auch zu den Menschen besaß, das wir gegenwärtig nicht besitzen und das verdient, gewürdigt zu werden. Die Würdigung ist nicht falsch zu verstehen! Die alten Sachen - die aus der Mode gekommenen alten Tänze, Lieder und Geschichten ebenso wie die unwirtschaftlich gewordenen Produktionsmittel - sind nicht als gewesene zu ehren, sondern als immer noch gegenwärtige zu beleben, um mit ihrer Rückständigkeit zu erkennen zu geben, welches Leben im Zuge des technischen Fortschritts auf der Strecke blieb. Dabei ist auch auf den Rat von Kindern zu hören. Wenn sie diesen auch noch nicht in Worte fassen können, so haben sie ihn doch im Auge. Und zwar in eigensinniger Weise. Ihre Gier ist Neugier - und nicht Habgier oder Sensationsgier. Die Neugier treibt sie zum Glück von Erfahrung zu Erfahrung und so einander auch in die Arme, um sich so ihre unterschiedlich gemachten Erfahrungen zu erlieben und im gegenseitigen Erkennen die Welt zu erkennen. Darauf ist zurück zu kommen. Auf die kindliche Neugier. Nicht auf die Kindheit. Das wäre kindisch.

"Ein Mann", schreibt Marx, "kann nicht wieder zum Kind werden, oder er wird kindisch" (Grundrisse, S. 31). Das kann man natürlich auch von der Frau sagen. Sie werden beide kindisch, wenn sie wieder Kinder sein wollen. Sie dürfen sich aber an der "Naivität des Kindes" erfreuen. Mehr noch: Sie sollten sich von der Naivität des Kindes, mit der es neugierigerweise auf Entdeckungsreise geht, anstecken lassen, begeistern - und danach streben "auf einer höhern Stufe ... seine Wahrheit zu reproduzieren" (ebd.), die voller Achtung gegenüber dem vieldeutigen Anspruch der Dinge oder dem rätselhaften Eigenleben von Pflanzen und Tieren ist. "Unpassend, aber beruhigend", nennt Saul Friedländer in seinen Erinnerungen die geheimen Spiele der "Kinder des alten Judenviertels" im neuen alten Jerusalem. "Denn gegenüber der Vergangenheit, der unbeugsamen Tradition, einer jahrhundertealten, plötzlich hierher verpflanzten Routine verkörpern sie zwar Anerkennung und Kontinuität, aber auch eine nicht aufzuhaltende Kraft, die Kraft des Augenblicks, die Kraft des Lebens" (S. 177f.).


Literatur

Adorno, Theodor W.: Minima Moralia, Ffm. 1984.
Adorno, Theodor W.: Noten zur Literatur, Ffm. 1989.
Aitmatow, Tschingis: Dshamilja. Dt. von Hartmut Herboth, Zürich 1990.
Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Dt. von Helmut Scheffel, Ffm. 1976.
Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Ffm. 1980.
Bloch, Ernst: Prinzip Hoffnung I-III, Ffm. 1968.
Breton, André: L'Amour fou. Dt. von Friedhelm Kemp, Ffm. 1989.
Buber, Martin: Das dialogische Prinzip, Güterloh 2006.
Friedländer, Saul: Wenn die Erinnerung kommt, München 1998.
Humboldt, Wilhelm von: Werke in fünf Bänden. Bd. I, Darmstadt 2002.
Horkheimer, Max /Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, Ffm. 1969.
Kracauer, Siegfried: Kino, Ffm. 1974.
Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953.
Marx, Karl: MEW, Berlin 1968.
Michelet, Jules: Das Meer. (Übers., Hrsg. und mit einem aktuellen Nachwort von Rolf Wintermeyer), Frankfurt/New York 2006.
Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden. Hrsg. Karl Schlechta, München 1960.
Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Erster Teil, Ffm. 1981.

Raute

Sich selbst fremd geworden

von Markus Pühringer

Szene 1: 14. Juni 2010. Der Verfassungsgerichtshof kommt zur Erkenntnis, dass der Ausweisungsbescheid des Asylgerichtshofs in der Causa Zogaj nicht verfassungswidrig war. Die kosovarische Familie Zogaj, eine Mutter mit drei Kindern, müsse daher - nach 9jährigem Aufenthalt in Frankenburg (OÖ) - unverzüglich ausreisen. (Die Familie Zogaj bestand ursprünglich aus Vater, Mutter und fünf Kindern. Der Vater wurde mit den beiden älteren Söhnen im Jahr 2007 des Landes verwiesen, er hat inzwischen die Familie verlassen. "Dank" österreichischer Gesetzgebung wurde die Familie bereits zerrissen.) Die Mutter ist akut suizid-gefährdet; die Kinder haben den Großteil ihres Lebens in Österreich verbracht. Der Großteil der österreichischen Bevölkerung begrüßt, dass endlich ein Schlussstrich unter diese Causa gezogen wird und befürwortet die Abschiebung. Im Juli 2010 verlässt die Familie "freiwillig" Österreich.

Szene 2: "Oberösterreich heute" vom 21. Juni 2010. Der oberösterreichische Regionalsender berichtet beinahe enthusiastisch von einer englischen Familie, die nach Obertraun zugezogen ist. Familie Rye würde "frischen Wind" in die strukturschwache Gemeinde bringen. Vater Adrian Rye darf vor laufender Kamera die wunderschöne Gegend preisen. Die Liebe zur Landschaft hat den ehemaligen Computerfachmann bewogen, nach Obertraun zu übersiedeln und dort als Schilehrer und Pensionsvermieter eine neue Existenz aufzubauen. Mittlerweile ist er bestens integriert. Rye sitzt im Gemeinderat, der einheimische Wirt bezeichnet ihn als "echten Obertrauner". Der Bürgermeister wird interviewt. Er freue sich über jeden Zuzug, v.a. wenn es Familien mit Kindern seien. Am Ende des Beitrags darf auch noch die 14jährige Tochter im Dirndlkleid auftanzen und die freundlichen Menschen im Salzkammergut loben.


Was ist da los?

Frankenburg und Obertraun sind zwei Orte in Oberösterreich. Sie liegen kaum 80 Kilometer voneinander entfernt. Sind in Frankenburg die Fremdenfeinde zuhause und in Obertraun die Fremdenfreunde? Oder sind die Österreicher einfach schizophren?

Zur Klärung dieser Frage muss ich etwas ausholen: Letztlich ist sie nur zu beantworten, wenn wir uns Gedanken zum Mensch-Sein und zur Konstruktion unserer eigenen Identität machen. Diese Gedanken müssen dann in den Kontext der gegenwärtigen Welt des real existierenden Kapitalismus gestellt werden.

Folgende Dreiteilung der menschlichen Wirklichkeit halte ich für die Erörterung dieses Themas nützlich:

- Inneres Selbst
- Äußere Welt
- Eigenes Ich

Inneres Selbst: Als "inneres Selbst" bezeichne ich den einzigartigen inneren Kern, der in jedem Menschen beheimatet ist. Hinter der Konstruktion des "inneren Selbst" steht der Glaube, dass tief im Menschen eine Kraft steckt, die sich mit allem Lebendigem verbunden fühlt. Wenn sich Ruhe und Gelassenheit ausbreiten, können wir mit dem "inneren Selbst" in Kommunikation treten. Dabei entdecken wir unsere spezifische Persönlichkeit und unseren individuellen Charakter.

Äußere Welt:Um jeden Menschen ziehe ich eine Grenze und bezeichne alles, was außerhalb von ihm liegt als "äußere Welt": Sie bezeichnet damit die Umgebung des Menschen: seine Behausung, sein soziales Netz, die anonyme Gesellschaft und die natürliche Umwelt.

Eigenes Ich:"Inneres Selbst" und "äußere Welt" befinden sich in einem Spannungsverhältnis zueinander. Als Vermittler zwischen diesen beiden Welten definiere ich das "eigene Ich". Das "eigene Ich" versucht die Ansprüche und Anforderungen aus beiden Hemisphären miteinander in Einklang zu bringen. Es hört auf innere Impulse und reagiert auf äußere Einflüsse. Wie wir das jeweils handhaben, macht unser konkretes Mensch-Sein aus.

Diese Dreiteilung ist eine Konstruktion. Sie ist eine Folie, mit der die Beziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft/Gesellschaft beschrieben werden kann. Der Wert dieser Konstruktion soll sich daran bemessen, wie nützlich sie für die Erklärung der eingangs geschilderten Szenen ist.


Die "äußere Welt" und der Kapitalismus

Charakteristisch für unsere Zeit ist, dass "die äußere Welt" sehr umfassend von der Verwertungslogik des Kapitals durchdrungen ist. Veranlagtes Geld wird zu Kapital und will sich in dieser Form ständig vermehren und - vermeintlich - aus sich selbst heraus wachsen. "Die allgemeine Formel des Kapitals ist G-W-G'; d.h. eine Wertsumme wird in Zirkulation geworfen, um eine größre Wertsumme aus ihr herauszuziehen. Der Prozess, der diese größre Wertsumme erzeugt, ist die kapitalistische Produktion; der Prozess, der sie realisiert, ist die Zirkulation des Kapitals." (MEW 25: 51)

Diese Betrachtungsweise unterscheidet sich fundamental von der (neo)klassischen, aber auch von der gängigen keynesianischen Wirtschaftstheorie. Marx behauptet, dass Geld der Ausgangs- und der Endpunkt der kapitalistischen Entwicklung sei (G-W-G'). In der (Neo)klassik und im Keynesianismus wird im Gegenteil die kapitalistische Entwicklung als Befriedigung von (unersättlichen) Bedürfnissen der Menschen verstanden: Daher sei das Ziel die Produktion von Waren und Geld ein reines Mittel (also W-G-W). "Es ist keine große Übertreibung zu behaupten, dass der Umschlag der Formel W-G-W in die Formel G-W-G' das ganze Wesen des Kapitalismus in sich enthält. Die Verwandlung abstrakter Arbeit in Geld ist das einzige Ziel der Warenproduktion." (Jappe 2005: 55)

Für die konkreten Menschen bedeutet das Leben im Kapitalismus, dass sie dazu gedrängt werden, sich konform zur "allgemeinen Formel des Kapitals" zu verhalten. In der kapitalistischen Produktion sollen sie die Rolle der Arbeiter übernehmen; in der kapitalistischen Zirkulation haben sie als Konsumenten zu funktionieren. Verbunden sind beide Welten durch das Geld. Der Kreislauf ist bekannt: Für Arbeit gibt es Geld. Dieses tauschen die Arbeiter gegen Konsumgüter. So kommt das Geld wieder in die Taschen der Produzenten, die damit die Löhne an ihre Arbeiter (sowie die Rohstoffe, Vorprodukte und die Forderungen der Kapitalisten) bezahlen und in diesem Prozess versuchen, einen Unternehmensgewinn zu erwirtschaften.


Identität durch Arbeit

Damit sich das Kapital optimal entfalten kann, müssen die Menschen in der Produktionssphäre ein ganz bestimmtes Verhalten an den Tag legen. Als Arbeitskräfte werden sie genau jene Tätigkeiten verrichten, für die es eine Bezahlung gibt; sprich: Sie müssen genau das tun, was den Interessen des Kapitals entspricht. Karl Marx spricht von "ökonomischen Charaktermasken", die die Menschen übernehmen: Sie sollen so handeln, dass sich das Kapital maximal vermehrt. Menschen werden zu "Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse [...], als deren Träger sie sich gegenübertreten." (MEW 23: 100) Für ein friktionsloses Funktionieren ist auch wichtig, dass die Menschen nicht nur entsprechend handeln, sondern auch in dieser Logik denken: "Charaktermaske ist nicht einfach als Rollenvollzug zu übersetzen, sondern meint immer auch Rollenidentifikation durch implizite Beipflichtung. [...] Da ist aber kein autonomes Individuum, das sich auf besondere Vorgaben einlässt oder noch deutlicher: sich bewusst dafür entscheidet." (Schandl 2007: 127)

Bezogen auf die obige Dreiteilung bedeutet das: Die äußere Welt wird zur Quelle der Identität. Das "eigene Ich" definiert sich über seine Rollenidentifikation und geht in dieser Rolle mehr und mehr auf. Je totalitärer sich das Verwertungsprinzip in der äußeren Welt gebiert, umso drängender wird der Imperativ an das "eigene Ich", diese Logik für sich voll und ganz zu übernehmen. Für das "eigene Selbst" bleibt hier kein Platz.


Identität durch Konsum

Sind die Waren durch die Arbeiter produziert, so müssen sie von den Konsumenten gekauft werden. Daher sollen die Menschen auch in der Zirkulationssphäre gemäß den Interessen des Kapitals handeln und sich mit ihrer Rolle als Konsumenten identifizieren. Die moderne Wirtschaftswissenschaft hat dafür das Menschenbild des "homo oeconomicus" kreiert: Der Mensch werde immer glücklicher, je mehr er kauft (und konsumiert). Implizit wird damit behauptet, dass die Interessen des Kapitals (Verkauf) deckungsgleich mit den Interessen des Menschen (Glück) sind.

Übersetzt in die obige Dreiteilung bedeutet dies, dass sich das "eigene Ich" auch hier von der "äußeren Welt" abhängig macht. Das menschliche Glück liegt im Außen, in den Konsumeinheiten. Die Gesamtsumme der realisierten Konsumeinheiten macht das Glück eines Menschen aus. Das "eigene Ich" wird so zur maschinellen, unlebendigen Verrechnungseinheit: "Das Subjekt ist nicht ich selbst, sondern ich bin, was ich habe. Mein Eigentum begründet mich und meine Identität." (Fromm 1979: 80) Auch in der Zirkulationssphäre ist kein Platz für ein "inneres Selbst".

Halten wir also fest: Die eigene Identität kann nach dieser Dreiteilung prinzipiell aus zwei Quellen gespeist werden: aus dem "inneren Selbst" oder aus der "äußeren Welt". Spielt das "innere Selbst" eine wichtige Rolle, so könnte das bedeuten, dass sich Menschen mehr Zeit für mehr Muße, die Pflege von Freundschaften oder die Entfaltung von künstlerischen Tätigkeiten entscheiden. Das "innere Selbst" ist prinzipiell unberechenbar. Das könnte gefährlich für die kapitalistische Entwicklung werden.

Es liegt aber im Interesse der "allgemeinen Formel des Kapitals", dass die "äußere Welt" dominant ist: Menschen sollen in bestimmte Rollen gedrängt werden. Große Institutionen wurden geschaffen, die uns von Kindesbeinen an lehren, wie wir zu denken und zu handeln haben: Im Ausbildungssystem werden wir auf unsere Rolle als Arbeitskraft vorbereitet. Die Werbeindustrie versorgt uns tagtäglich mit 3.000 Werbebotschaften und macht uns zu brauchbaren Konsumenten. Dadurch haben die Menschen im Laufe der Jahre und Jahrzehnte immer besser gelernt, sich systemkonform zu verhalten und ihre eigene Identität aus der Erfüllung dieser Rollen zu schöpfen: Jemand ist heutzutage dann Tischler, Bankkauffrau oder EDV-Technikerin. Diese Rollen-Identität wird bloß noch mit dem Eigentum angereichert: Man ist wer, wenn man sich ein teures Auto, ein Haus oder einen tollen Urlaub leisten kann.


Angst vor Identitätsverlust

Definiert sich dann das "eigene Ich" vor allem über seine Rolle als Arbeitkraft und Konsument, so bedeutet das umgekehrt, dass die eigene Identität in Gefahr ist, wenn diese Rollen nicht mehr (in diesem Ausmaß) zur Verfügung stehen.

Betrachten wir vorerst die Arbeit. Der Kapitalismus hat zur Arbeit ein ambivalentes Verhältnis: Zum einen ist die Arbeit die einzige Quelle des Wertes: Nur durch sie ist es möglich, dass die Geldvermehrung - im Prozess G-W-G' - von einer Wertsteigerung begleitet wird. Zum anderen wird die Arbeit durch die beständige Steigerung der Produktivität wegrationalisiert. Wächst die Produktivität stärker als die Wirtschaft (was in den letzten Jahrzehnten der Fall war), wird Arbeit weniger. Das verschärft wiederum das Konkurrenzverhältnis am Arbeitsmarkt: Der Andere wird zum potentiellen Konkurrenten, insbesondere der die Arbeit besser und/oder billiger verrichtet.

In ihren Charaktermasken begegnen sich die Menschen im Kapitalismus als Konkurrenten um Arbeitsplätze und Einkommen. Konsequenterweise müssten sich dann alle Menschen - auf ihren Eigennutz bedacht - als Einzelkämpfer durchs Leben schlagen. Der englische Philosoph Thomas Hobbes hat diese kapitalistische Logik schon im 17. Jahrhundert richtig durchdacht, wenn er davon spricht, dass in diesem System der Mensch dem Menschen ein Wolf sei ("homo homini lupus"). Die Lösung sieht er in der staatlichen Gewalt. Nur durch diese höhere Gewalt könne ein gewaltloses Zusammenleben der Menschen hergestellt werden.

Die kapitalistische Logik ist jedoch in Reinkultur nicht lebbar. Dies zeigen nicht zuletzt die neuesten Erkenntnisse der Neurobiologie. In diesen Studien wird ganz deutlich, dass Menschen auf Kooperation angelegt sind: "Nichts aktiviert die Motivationssysteme so sehr wie der Wunsch, von anderen gesehen zu werden, die Aussicht auf soziale Anerkennung, das Erleben positiver Zuwendung und - erst recht - die Erfahrung von Liebe". (Bauer 2008: 37) Soziale Gemeinschaft und gelingende Beziehungen mit anderen Menschen sind hauptsächlich für das Wohlbefinden der Menschen verantwortlich. Mit anderen Worten: Es ist unmenschlich, in einer permanenten Konkurrenzsituation zu stehen.

Der Mensch steht in der kapitalistischen Produktionssphäre in der Zwickmühle: Als soziales Wesen würde er gerne mit anderen kooperieren. Das kapitalistische System drängt ihn aber in die Konkurrenz. Werden die Arbeitsplätze weniger, so steigt die Gefahr, dass man den eigenen Job verliert. Arbeitslosigkeit bedeutet nicht nur Einkommensverlust, sondern stellt vor allem das Selbstverständnis des "eigenen Ichs" in Frage: Wer bin ich, wenn ich den Job nicht mehr habe? Das macht Angst: je enger die Verknüpfung von Identität und Arbeitsplatz, umso größer die Angst.

Die Auflösung des Widerspruchs - Kooperation versus Konkurrenz - wird durch die Konstruktion von (nationalen, ethnischen, geschlechtermäßigen, etc.) Gruppen versucht. Innerhalb der als "eigen" konstruierten Gruppe wird die Konkurrenz aufgegeben. Aus der potenziell individuell angelegten Konkurrenz wird eine Gruppenkonkurrenz. Die daraus abgeleiteten Slogans sind bekannt: "Österreich zuerst!", "Zuerst die Arbeitsplätze für die Männer!", "Keine weitere Zuwanderung!" - Nationalismus, Rassismus und Sexismus stehen also in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Konkurrenzsituation des Kapitals.

Aber keine Regel ohne Ausnahme: Für den Fall, dass der Andere nicht der Konkurrent um den Arbeitsplatz, sondern der (kapitalstarke) Arbeitsplatz-Schaffer ist, wird die eben beschriebene Gruppenkonstruktion rasch außer Kraft gesetzt. Der Fremde ist dann kein Konkurrent. Er verursacht keine Ängste. Ausländische Arbeitskräfte sind in diesem Fall willkommen: Russische Milliardäre steigen bei österreichischen Baukonzernen ein. Kroatische oder türkische Spitzensportler und -sportlerinnen werden in österreichische Nationalteams aufgenommen. Slowakische Pflegehelferinnen dürfen nach Österreich kommen, weil keine Inländerinnen diese Arbeit (zu diesen Löhnen) machen. Und: Reiche englische Familien wie die Familie Rye sind in Abwanderungsregionen wie Obertraun gern gesehen.

Ähnliches ist in der Konsumwelt zu beobachten: Die große Angst ist hier die Angst vor dem Einkommensverlust. Mit weniger Einkommen kann das Konsumniveau nicht aufrechterhalten werden. Ist man ein schlechterer Konsument, so droht sozialer Abstieg: Man ist weniger, weil man weniger hat.

Vom Staat und damit von der Politik erwarten die Konsumenten konsequenterweise, dass sie für ständig wachsendes Einkommen sorgen. Gerät das System in eine Krisensituation, so kommt die oben beschriebene Gruppenkonstruktion wieder ins Spiel. Die Konsumenten erwarten, dass vor allem die eigene Gruppe bedient wird. Arme "nicht-eigene" Menschen, die über kein besonderes Einkommen verfügen und dann vom "fremden" Staat Unterstützungsleistungen erhalten, sind ein Ärgernis. Hat jemand schon selbst Einkommensverluste hinnehmen müssen und/oder befürchtet (weitere) finanzielle Einbußen, so wird er wenig Verständnis haben, dass "Andere" Unterstützungsleistungen erhalten. Auch hier gilt: Je bedeutsamer der Konsum für die eigene Identitätskonstruktion ist, umso geringer wird die Bereitschaft sein, dass auch "Andere" etwas erhalten.

Es ist nun völlig nebensächlich, ob es wirklich den Tatsachen entspricht, dass "fremde" Personen und Familien - wie die Zogajs - staatliche Unterstützung erhalten. Entscheidend ist die öffentliche und veröffentlichte Wahrnehmung. Gerade weil in den letzten beiden Jahren die "eigenen" Konsummöglichkeiten durch Krisenprozesse im Kapitalismus (Reallohnverluste für den Großteil der Bevölkerung) schon in Gefahr sind, gibt das Bild einer "illegal" eingewanderten Familie die perfekte Folie ab, auf die sich die eigene Angst vor Identitätsverlust projizieren lässt. Die Zogajs müssen konsequenterweise weg, weil "wir" uns vor sozialem Abstieg fürchten.


Kritik an der kapitalistischen Identitätskonstruktion

Die kapitalistische Logik hat sich in der "äußeren Welt" breit gemacht und dehnt sich immer mehr aus. In einer solchen Welt muss das "eigene Ich" seine Identität aus der "äußeren Welt" der Konsum- und der Arbeitswelt speisen. Das "innere Selbst" verkümmert irgendwo am Rande und wird vom "eigenen Ich" gar nicht mehr wirklich wahrgenommen. Der moderne Mensch kennt sich selbst nicht mehr. Der Mensch ist sich selbst fremd geworden. Sein Inneres wurde mehr und mehr zu einer terra incognita, einem fremden Land. Weil sich der Mensch selbst fremd geworden ist, versagt er in der echten Begegnung mit dem Anderen. (Vgl. Gronemeyer 2010: 9ff.)

Nun könnte man sagen: "Wo liegt das Problem?" Wenn die Menschen mit dem Spielen dieser äußeren Rollen wirklich glücklich und zufrieden wären, wäre dagegen auch wenig zu sagen. Aber es scheint eben nicht so zu sein, dass der moderne Mensch glücklich ist: Die moderne Glücksforschung zeigt, dass - ab einem relativ niedrigen Einkommensniveau - kein Zusammenhang zwischen "Glück" und "Einkommen" besteht. So hat sich beispielsweise in den USA seit den 1950er Jahren das Einkommen verdreifacht, der Anteil der Menschen, die sich als "sehr glücklich" bezeichnen ist aber zurückgegangen. Auch die Arbeit ist keine Quelle des Glücks, wie häufig behauptet wird: Die unbeliebtesten Tätigkeiten sind einer Studie zufolge das Pendeln von und zur Arbeit sowie die Erwerbsarbeit an sich. Am schönsten sind die Tätigkeiten, die der Muße gewidmet sind: Sex, geselliges Zusammensein mit Freunden, Abendessen, usw. (Vgl. Binswanger 2006) - Also: Das Problem ist, dass dieses System nicht glücklich macht, ja gar nicht am Glück der Menschen interessiert ist.


Was ist zu tun?

Vermutlich geht es im Leben letztlich darum, sich selbst kennen zu lernen. Dafür braucht es die Kommunikation mit dem "inneren Selbst". In der radikalen Denkweise des mittelalterlichen Mystikers Meister Eckhart wird die alleinige Quelle des Glücks im "inneren Selbst" verortet. Nur wenn es gelinge, jegliche Glückserwartung vom Außen abzulegen und sich rein auf das "innere Selbst" zu verlassen, dann und nur dann könne man verspüren, wie "ich und Gott eines" sind. Das ist in der religiösen Vorstellung von Meister Eckhart das Allergrößte. Erich Fromm deutet das so: "Laut Eckhart ist unser Ziel als Menschen, uns aus den Fesseln der Ichbindung und der Egozentrik, das heißt von der Existenzweise des Haben zu befreien, um zum vollen Sein zu gelangen." (Fromm 1971: 67)

Diese Entdeckungsreise ins "innere Selbst" ist natürlich eine höchstpersönliche Angelegenheit mit ungewissem Ausgang. Es steht dabei nicht zu befürchten, dass wir uns dann alle von der "äußeren Welt" abkehren und zu Einsiedlern werden. Ziel müsste sein, dass das "eigene Ich" eine echte Mittlerfunktion zwischen innerer und äußerer Welt einnimmt und wir lernen, einen wichtigen Teil unserer Identität aus dem "inneren Selbst" zu schöpfen. Vermutlich werden wir erst dann fähig, uns auf den Anderen einzulassen. Wahrscheinlich würden wir dann auch die Frage neu bewerten, wie viel Güter man wirklich zum guten Leben braucht und wie viel Aufwendungen dafür nötig sind. Es ist zu vermuten, dass die Antwort bei den meisten auf eine Reduktion des derzeitigen Konsumniveaus hinauslaufen würde.

Eine rein introspektionistische Antwort wäre aber zu wenig: Denn natürlich muss auch die Funktionsweise der äußeren Welt verändert werden. Langfristiges Ziel muss sein, die Logik der Geldverwertung (G-W-G') außer Kraft zu setzen.


Literatur

Joachim Bauer (2008): Prinzip Menschlichkeit, München.
Matthias Binswanger (2006): Die Tretmühlen des Glücks, Freiburg im Breisgau.
Erich Fromm (1971): Haben oder Sein, München.
Marianne Gronemeyer (2010): Fremder. Gastfreund. Feind; in: Streifzüge Nr. 48, Wien.
Anselm Jappe (2005): Das Abenteuer der Arbeit. Münster.
Karl Marx, Friedrich Engels (1956ff): Werke, Berlin.
Franz Schandl (2007): Maske und Charakter, in: krisis Nr. 31, Nürnberg.

Raute

Staat und Schlepper

von Franz Schandl

Was jeder Ware erlaubt ist, und dem Geld sowieso, das wird den allermeisten Menschen kategorisch verweigert.


Die freie Wahl des Raumes, in dem sie sich bewegen wollen, ist kein Menschenrecht, sondern Bürgerrecht. Und Bürger ist nur der Staatsbürger. Wenn Ausländer in dessen Burg, den Staat wollen, müssen sie auf nationale Gnade hoffen. Gut ausgebildete, junge und Deutsch sprechende Arbeitskräfte, das ist es, was "wir", die Identifikationsgemeinschaft der bevorrechteten Österreicher, benötigen.

"Inder mit Kinder(n)", wie erst vor kurzem ein Sozialwissenschafter der Republik soufflierte, wären da wohl goldrichtig, Deutsch- und Computerzertifikate made in Bombay inbegriffen. Worum es geht, ist eine "arbeitsmarktbezogene Zuwanderung", wie die bundesdeutsche Süssmuth-Kommission in ihrem Bericht feststellte. Denn die "Zuwanderung sollte die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft steigern". Ökonomisch bedeutet das, die Ausbildungskosten der Ware Arbeitskraft zu externalisieren, deren Potenzen und Vorteile aber für den Standort zu realisieren. Was ansteht, ist eine Auswahl aufgrund prognostizierter Wertigkeit: De nemma ma. De nemma ma net.

Sagen die Freiheitlichen: "Wir brauchen die Ausländer nicht!", so sagen ihre Gegner: "Wir brauchen die Ausländer schon!" - und denken dabei an diverse Drecksarbeiten oder die Sicherung der Pensionssysteme. Aus beiden Argumentationsfiguren wird aber deutlich, dass hiesige Interessen bestimmen, was gebraucht und was nicht gebraucht wird. Beide identifizieren sich mit Staat und Gesellschaft, nur interpretieren sie deren Anliegen unterschiedlich. Das "Wir" hingegen bleibt vorausgesetzt und unhinterfragt. Aber wer ist denn dieses "Wir"? Aus dem Faktum einer formal-gleichen Unterworfenheit unter das Gewaltmonopol kann doch kein positives Bekenntnis irgendeines Österreichertums oder Deutschtums abgeleitet werden. Der Patriotismus entpuppt sich stets als Patrouille des Staates, reell wie ideell.


Globalisierung als Menschenmobilisierung

Das Kapital hat eine Weltordnung geschaffen, die, wäre sie nicht von Staaten in ihren jeweiligen Einflußbereichen geschützt, sofort im Chaos versinken würde. Doch die Staaten erodieren und die Migration ist sowieso nicht aufzuhalten. 2001 sind Schätzungen zufolge eine Million "Illegaler" in den goldenen Westen geflohen. Von Jahr zu Jahr werden es mehr. Diese Welt treibt sie förmlich dazu. Dort, wo die Kapitalverwertung immer weniger gelingt, verlassen die Menschen ihre Länder gleich sinkenden Schiffen. Wollen sie nicht als "boat-people" enden, müssen sie irgendwo Anker werfen.

Es ist "zu akzeptieren, dass sich angesichts der Globalisierungsprozesse die Frage nicht stellt, ob es künftig Zuwanderung geben wird oder soll. Es wird sie geben, denn die Mobilität von Gütern, Dienstleistungen, Kapital, Kultur und Menschen sind untrennbar miteinander verbunden." "Verschärfte Grenzkontrollen bremsen die Zuwanderung nicht", schreibt der Migrationsforscher Christof Parnreiter in der Schweizer Zeitschrift Widerspruch (Nr. 37/99). "Nicht die Zahl der Zuwanderer wird reguliert, sondern ihr rechtlicher Status".

Die Zahl der Aufgriffe und Abschiebungen kann nicht einfach von den illegalen Eintritten abgezogen werden. Jene errichten zwar Hürden, schrecken ab und töten, aber sie vermögen nicht, Entwicklungen Einhalt zu gebieten, die stärker sind als alle Strafgesetze und Stacheldrähte, Mauern und Meere zusammen. Was allerdings sich erhöht, sind die Wanderungskosten, die Fluchthilfe wird teurer. Je mehr Staaten Menschen illegalisieren, desto krimineller wird das Fluchtwesen werden, desto kriminellere Elemente werden sich in diesem Geschäftszweig etablieren. Es kann gar nicht anders sein. Je höher die Strafen, desto größer die Verbrechen.

Die jeweilige nationale Verschärfung folgt so auch der Konkurrenz der Verschärfung. Je restriktiver die einen sind, desto restriktver müssen die anderen sein. Denn eines stimmt zweifellos: Dort, wo die Schlupflöcher am größten sind, werden noch mehr durchschlüpfen, als sowieso schon gekommen wären. Schließlich ist es ja die hervorragende Aufgabe der Fluchthelfer und Schlepper, die Porösitäten sorgfältig zu studieren und diese Information als integrierten Bestandteil ihrer Geschäftstätigkeit mitzuverkaufen. Gemeinhin nennt sich das Service.


Fluchthelfer oder Menschenschmuggler

Fluchthilfe ist zu einer Dienstleistung geworden. "Je komplizierter und schwieriger es wird, Grenzen zu überwinden, desto mehr sind diejenigen, die diese Grenzen überwinden müssen, darauf angewiesen, entsprechendes "Know-How" einzukaufen. Es hat sich ein "Markt der Fluchthilfe" gebildet, der als das unmittelbare Resultat der Grenzabschottung begriffen werden muss. Anders ausgedrückt: So lange es Menschen gibt, die - aus welchen Gründen auch immer - gezwungen sind, Grenzen zu überwinden, diese Grenzen aber für sie geschlossen werden, so lange wird es das Phänomen der kommerziellen Fluchthilfe geben," schreibt die FFM - Forschungsgesellschaft Flucht und Migration.

Nicht die Schlepper genannten Fluchthelfer illegalisieren die Menschen. Dass Menschen geschmuggelt werden müssen, ist Folge staatlicher Gesetze. Der Staat erzeugt den Schmuggler. Schlepperbanden sind auch nicht die Ursache des Flüchtlingselends, sondern sie füllen bloß eine Marktlücke. Sie sind Folge räumlich-sozialer Disparitäten im Zeitalter der Globalisierung. Während die Zonen des Reichtums sich zusammenziehen, dehnen sich die Gebiete des Elends aus. Da kein Elend elendiglich genug ist, um nicht geschäftsfähig zu werden, ist hier ein Markt entstanden. Je schärfere Maßnahmen sodann ein Staat trifft, desto teurer werden die Fluchthelfer, da deren Risiko steigt. Die Schlepper sind so keineswegs das Letzte, allerhöchstens das Vorletzte; das Letzte ist der Staat, der den Flüchtlingen die Aufnahme aus Gründen staatsbürgerlicher Exklusivität verweigert. Wenn er gegen die Schlepper einwendet, sie wollen von der Not profitieren, dann beschreibt er seine eigenen Absichten korrekt. Auch der Staat will von ausgesuchten Asylanten und Wirtschaftsflüchtlingen einiges herausholen.

Die sogenannten Schlepper sind deshalb beim Staat so unbeliebt, weil sie den Flüchtlingshandel privatisieren und so in Konkurrenz zur ideellen Apparatur der zivilen Gesellschaft treten. Dass die Flüchtlinge den Schlepperbanden oft mehr trauen als den Staaten, in die sie wollen, sagt wohl einiges über die Zustände auf diesem Planeten aus. Doch der Unterschied zwischen Staaten und Schlepperbanden ist kleiner als man meint. Beide sind für den Menschenhandel, beide wollen Beute machen, beide sind in ihren Methoden nicht zimperlich. Menschliche Objekte sind ihnen Ware, auf Zahlungsfähigkeit und Wertigkeit zu prüfen. Verhält sich der Schlepper wie ein schlauer Einzelkapitalist, so der Staat wie ein oberschlauer Gesamtkapitalist.

"Ist Fluchthilfe ein schmutziges Geschäft?", wird da oft gefragt. - Ja, insofern jedes Geschäft schmutzig ist, ist auch dieses schmutzig. Aber eben nicht mehr. Die Fluchthilfe ist so seriös wie jedes andere Geschäft. Pause. Also ziemlich unseriös. Ende. Wichtig wäre es, sich zur Erkenntnis durchzuringen, dass das Geschäft an und für sich eine schmutzige Kommunikationsform ist, bei manchen Geschäften fällt das deutlicher auf, bei anderen wird es erfolgreich verdrängt. Warum sollte gerade Anwesenheit nicht kaufbar und verkaufbar sein, jedes Anwesen ist doch ebenfalls prinzipiell veräußerbar.

Wenn nun eingewandt wird, dass hier eine Notsituation ausgenützt wird, dann ist dem zu entgegnen, dass die Not oder der Mangel Voraussetzung jedes Geschäftes, d. h. jeder Transaktion durch den Tausch ist. Der Tischler lebt von der Not der Menschen, die keine Möbel haben, der Journalist vom Mangel des Publikums an Nachrichten, der Arzt ist Spezialist für gesundheitliche Mängel, der Schlepper Experte für die Nöte der Menschen, die einen bestimmten Aufenthaltsort ohne dessen Hilfe nicht erreichen können. Das ist so normal wie grausam. Aber diese Grausamkeit ist nur abschaffbar, wenn das System, auf dem sie gedeiht, beseitigt wird. Will der Staat die Grausamkeiten beseitigen, geht es meist nur noch grausamer zu.

Der Transportgehilfe kann so ein guter sein wie ein schlechter, wie eben der Tischler auch ein guter und ein schlechter sein kann. Dass es bei den Schleppern vielleicht mehr schlechte gibt, hängt mit ihrer Kriminalisierung zusammen. Je mehr man sie kriminalisiert, desto krimineller werden sie. Weil werden müssen. Ihr Risiko ist groß, und das wollen sie, wie jeder "vernünftige" Unternehmer, an ihre Kunden, die Flüchtlinge, weiterreichen. Das Problem der Flüchtlinge ist nur, dass sie, ungleich anderen Kunden, eine mangelhafte Dienstleistung bei Gericht und Konsumtenschutz nicht einklagen können, weil sie Unbürger sind. Untermenschen, staatlich nicht zugelassen, nicht Mensch, sondern Flüchtling und Schübling.

Die ausschließliche Betonung der negativen Aspekte der Flucht, das konsensuale Gerede von Schleppern, Schleusern, Schmugglern geschieht mit der Absicht, uns in ideologische Geiselhaft zu nehmen, zu Spießgesellen der entsolidarisierenden Fluchtverhinderungs- und Abschottungspolitik des Nordens zu machen, indem es in perfider Manier die tragischen Schicksale der Flüchtlinge als Folge des Schlepperwesens (was völlig falsch ist) und nicht des Staatswesens (was völlig richtig wäre) demaskiert. Mitleid wird so zum Fallstrick. Die Geschleppten sind im Normalfall keine Verschleppten, sieht man von bestimmten Fällen (z. B. Prostitution oder Kinderhandel) ab.


Irre Realität

Natürlich könnte man jetzt einwenden, dass eine Forderung nach Öffnung der Grenzen ganz irreal ist und im Kapitalismus nicht verwirklicht werden kann. Genau so ist es. Aber was sagt dies anderes, als dass die Herrschaft des Kapitals - und zwar immer dringlicher - beseitigt werden muss. Jeder Realismus, der sich hingegen auf Regelungen und Quoten einläßt, diskriminiert konkrete Menschen im Namen von Staat und Nation. Einer solchen Logik verpflichtet, muss man deren Gemeinheiten teilen, auch wenn man sie nicht sympathisch finden mag.

Wer auf den Staat als unbedingte Instanz setzt, muss letztlich auch die Folgen mittragen. Realpolitik endet dann bei Ausländer jagenden Grenztruppen und bei der Abschiebung, bei den "Regelungen der Einwanderung", den "subjektiven Härten". Man kann sich also nicht konsequenzlos der Logik staatlicher Macht verschreiben. Eine Identifikation mit ihr ist allerdings Bedingung des allseitig eingeforderten Zwangs zur "Konstruktivität". Warum man sich als Gegner der kapitalistischen Verwertung ausgerechnet ihren staatlichen Selektionskriterien anschließen soll, ist aber ein Rätsel. Schließlich endet die geforderte Realtiätstüchtigkeit meist wie der Graf Leinsdorf in "Der Mann ohne Eigenschaften". Ihn läßt Robert Musil sagen: "Realpolitik heißt: Gerade das nicht tun, was man gern möchte".

Irreal heißt, dass die Realität irre ist, nicht dass die an ihr (Ver)Zweifelnden irre sind. Die Realität ist daher nicht als positiver Bezugspunkt zu verstehen, sondern als negative Referenz. Mag die Realität mich, oder schlimmer noch, die vielen Flüchtlinge, einholen, so besteht doch kein Bedarf für jene zu sein, bloß weil sie meist die Oberhand behält. Geschichte kennt übrigens nicht nur die Illegalisierung der Fremden, sie kennt auch die Legalisierung der Illegalen. Davon gehen viele Migranten zu Recht aus, und ob sie aktuell Recht brechen, ist ihnen recht egal, wenn sie absehbar Recht be- und erhalten.

Man muss die Realität erkennen, aber man muss sie deswegen nicht anerkennen. Ansonsten führt das über kurz oder lang dazu, nur noch die Realität für realistisch zu halten, ja ihr geradezu eine Aura der Ewigkeit zuzuweisen. Indes, Staatsbürgerschaft, Pass und Grenze sind jüngeren Datums, erst im 19. Jahrhundert konnten sie sich "endgültig" (so zumindest der hartnäckige Schein) durchsetzen. Sie sind Kennzeichen eines sich etablierenden Verfassungswesens, das sich nunmehr als absolut begreift. "Das Konzept des Staatsbürgers macht nur Sinn, wenn einige davon ausgeschlossen bleiben. Und diese Auszuschließenden müssen letztlich eine willkürlich ausgewählte Gruppe sein. Es gibt kein überzeugendes Argument für die Grenzziehung bei den Kategorien des Ausschlusses. Zudem ist das Konzept des Staatsbürgers an die Grundstruktur der kapitalistischen Weltwirtschaft gebunden", schreibt Immanuel Wallerstein. (Widerspruch 37/99) Was aber in der Konsequenz auch hieße: Die Leute, die auf diesem Planeten leben, sind Menschen. Nicht Bürger, Inländer, Ausländer, Migranten, Asylsuchende, Angestammte, Entwurzelte, Verwurzelte etc. - nein, ganz einfach Menschen: Homo homini homo.

Nicht "Alle Grenzen auf" ist die Forderung, sondern "Alle Grenzen weg". Natürlich, solange es Staaten gibt, gibt es Einwanderungsgesetze. Aber muss es Staaten geben? Und vor allem: Weshalb? Der Gedanke, dass der Mensch erst Mensch sein darf, wenn ihn ein Staat als Bürger für zulässig erklärt, ist eine Zumutung sondergleichen. Eine, die freilich also solche gar nicht mehr auffallen will. Indes: "Alle Vereinigung muss ganz freiwillig sein", sagt Oscar Wilde. "Nur in freiwilligen Vereinigungen ist der Mensch schön."

Es gilt, Verhältnisse zu schaffen, wo niemand auswandern muss, aber alle hin- und herziehen können, wie sie wollen; wo die Herkunft zu nichts zwingt und die Abkunft nichts besagt, wo es keine Zugehörigkeiten mehr gibt, die aus irgendeiner nationalen Geworfenheit herrühren. Mit Staat und Kapital ist das nicht zu haben.


Aus: krisis 27 (2003), S. 138-142.

Raute

Sarkozy und die Anderen

Zu den Wandlungen des Rassismus in Frankreich

von Bernhard Schmid

Auch dem Papst wurde die "Fremden"politik der Regierung Sarkozy zu viel. Benedikt XVI. sprach im August freilich durch die Blume, als er Frankreich zur "An-/Aufnahme der Menschheit in ihrer legitimen Diversität" aufforderte. Andere Kirchenleute aber kritisierten teilweise erheblich schärfer: Der Erzbischof von Toulouse, Robert Le Gall, etwa las in Lourdes vor 4.000 Pilgern einen Brief seines Amtsvorgängers Saliège aus dem Jahr 1942 vor und betonte darin die Passage: "Auch sie gehören zur Menschheit." Im Original ging es damals um die verfolgten Juden, Le Gall bezog diesen Satz jedoch auf die heute lebenden Roma.

Präsident Sarkozy verlor bereits seit 2008 massiv an Sympathie unter denjenigen in Frankreich, die "christliche Werte" betonen. Die rassistischen Züge der Regierungspolitik spielen dabei ebenso eine Rolle wie das vulgäre Schicki-Micki-Gebaren, das Sarkozy oft an den Tag legt. Und das heuchlerisch-bigotte Spiel, das er mit "christlichen Werten" betreibt. Am Tag nach seiner Wahl im Mai 2007 etwa deutete Sarkozy in der Öffentlichkeit an, er gehe nun für einige Tage ins Kloster, um zu meditieren. Fotografiert wurde er dann aber vor der Küste von Malta auf der Luxusyacht eines befreundeten Milliardärs.


Roma und Landfahrer

Sarkozys politisch-ideologische Offensive im Hochsommer 2010 richtete sich vor allem gegen eingewanderte Roma, aber auch gegen französische "Landfahrer", die bereits seit dem 15. Jahrhundert in Frankreich leben und mit den Roma aus Südosteuropa nur eine entfernte gemeinsame Abstammung sowie einzelne "kulturelle Merkmale" teilen. Beide doch sehr unterschiedlichen Kategorien - die Roma sind in der Regel arm und haben rechtliche Aufenthaltsprobleme, die "Gens du voyage" sind Händler in allen Einkommensklassen und besitzen die französische Staatsbürgerschaft - wurden in einen Topf geworfen. Am 28. Juli fand im Elysée-Palast ein Gipfeltreffen zwischen dem Staatspräsidenten und hohen Polizei- und Ministerialfunktionären vor allem aus dem Innenministerium statt, dessen erklärtes Ziel es war, einen "nationalen Krieg gegen die Kriminalität" auszurufen. Zu dessen bevorzugten Zielen wurden sowohl die migrantischen Roma als auch die französischen "Landfahrer" erklärt. Den Vorwand dazu lieferte das Vorgehen von 40 bis 50 "Gens du voyage" im zentralfranzösischen Saint-Aignan gegen die örtlichen Behörden wenige Tage zuvor: Diese nahmen dort eine Polizeiwache auseinander, nachdem ein 21jähriger aus ihrer Gruppe durch einen Gendarmen erschossen worden war, gegen den inzwischen wegen Totschlagsverdachts ermittelt wird.

Die am Ende des Gipfels stehende Ankündigung, systematisch "illegale Wohnwagencamps" oder "illegal errichtete Behausungen" zu zerstören, richtete sich erklärtermaßen gegen beide Gruppen. Denn die "Landfahrer" leben oft einen Teil des Jahres hindurch in Wohnwagen, die sie mancherorts ganz "gesetzestreu" und andernorts mitunter "illegal" abstellen, schon weil eine Mehrheit der Kommunen die gesetzliche Vorschrift nicht respektiert, ihnen Stellplätze zur Verfügung zu stellen. Die Roma aus Südosteuropa hingegen lebten in ihren Herkunftsländern in aller Regel "sesshaft", haben aber als zeitlich letzte Migrantengruppe wenig Chancen am so genannten "Wohnungsmarkt" und leben daher in notdürftig errichteten Baracken, Hütten oder auch Wohnwagen. Neben der Zerstörung ihrer "illegalen Ansiedlungen" droht ihnen aber auch die Abschiebung in ihre Herkunftsländer, sofern sie in Frankreich über keinen festen Arbeitsplatz verfügen und sie sich länger als drei Monate dort aufhalten - obwohl die Roma aus Rumänien und Bulgarien EU-Bürger/innen sind.

Auch die Brandrede, die Sarkozy in Grenoble zwei Tage nach dem Treffen hielt, rief nationalen wie internationalen Protest hervor. Hatte der Präsident doch unter anderem explizit vorgeschlagen, "Franzosen ausländischer Herkunft" bei bestimmten Straftaten auszubürgern, sie also gegenüber Franzosen, die "unsere eigene Abstammung" teilen, klar zu diskriminieren. Die Rede hatte den Tod des 27jährigen Karim B., der ein Kasino ausgeraubt hatte und Mitte Juli in Grenoble nach einem Schusswechsel durch die Polizei erschossen worden war, zum Anlass genommen und stellte einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Herkunft, Staatsbürgerschaft und Kriminalität her.

Dieses Vorhaben rief Ablehnung auch in bürgerlich-liberalen Kreisen hervor. Und Anfang September demonstrierten in ganz Frankreich rund 150.000 Menschen - Linke, Bürgerrechtlerinnen, Antirassisten, Mitglieder der Gewerkschaften CGT, CFDT oder SUD - gegen diese Pläne, gegen eine Staatspolitik, die sie als Verletzung fundamentaler "republikanischer Werte" betrachteten.

Mit solchen Protesten hatte die konservative Staatsführung natürlich gerechnet. Die erhoffte ebenso starke Mobilisierung der Wählerschaft auf der Rechten zugunsten der Vorhaben blieb jedoch aus, oder jedenfalls nutzte der Versuch zur Mobilisierung von (in der Gesellschaft ansonsten durchaus vorhandenen) Ressentiments Nicolas Sarkozy überhaupt nichts. Ende Oktober unterschritt er sogar die Dreißig-Prozent-Marke bei den Beliebtheitswerten.


Kampagnen und Affären

Die politische Masche wirkte einfach zu grob gestrickt: Sarkozy löste seine martialische Kampagne zu einem Zeitpunkt aus, als seine Regierung bereits unter erheblichen Rechtfertigungsdruck stand. Auf der einen Seite bereitete sie seit Ende Juni die "Reform" des Rentensystems vor, gegen die im Sommer und Herbst mehrere Millionen Menschen demonstrierten. Andererseits hatte die Korruptionsaffäre um die Multimilliardärin Liliane Bettencourt wegen Steuerhinterziehung und illegaler Finanzierung Sarkozys erheblichen politischen Schaden für die Regierung angerichtet. Ausgerechnet der Arbeits- und Sozialminister Eric Woerth, der die Renten"reform" durchboxen und den kleinen Leuten den "notwendigen Verzicht" predigen sollte, hatte als Schatzmeister Sarkozys 2007 die Briefumschläge mit dicken Geldbündeln (unter anderem) von Liliane Bettencourt eingestrichen. Daraus resultierte ein immenser "Glaubwürdigkeitsverlust".

Dass der Präsident ausgerechnet zeitgleich zu den Enthüllungen über die "Bettencourt-Woerth-Affäre" und zur Vorbereitung wirtschaftsliberaler "Reformen" seine Kampagne lancierte, sorgte dafür, dass diese vorläufig zum Rohrkrepierer wurde: In den Augen der meisten Franzosen erschien sie nur als erbärmliche parteipolitische Taktik. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Hetze (besonders gegen die Roma) nicht grundsätzlich auf Rückhalt in der Gesellschaft stoßen könnte. Dieser wurde aber nicht "aktiviert", da Sarkozys Trick den Leuten schon (allzu) klar wurde.

Die Regierung hatte in den letzten Monaten schon mehrfach Ressentiments zu entfesseln und zu ihren Gunsten zu kanalisieren versucht. So ließ sie Frankreich von Anfang November 2009 bis zum 8. Februar dieses Jahres - an dem das Experiment abgebrochen wurde - regierungsoffiziell über die "nationale Identität" debattieren und gab damit allerlei hässlichen "Instinkten" und Ressentiments öffentlichen Raum.

Seit dem Erfolg des Schweizer Referendums über ein Minarett-Verbot im November 2009 hatte sich die Debatte zusätzlich aufgeheizt. Nunmehr drehte sie sich fast unverhohlen um das "Problem" für die "nationale Identität", das durch die Einwanderer moslemischer Konfession entstehe. Ein Teil der Regierungspartei UMP zögerte zunächst, auf der Welle des Schweizer "Nein" zu surfen. Dennoch tat es ein wachsender Teil der konservativen Spitzenpolitiker unverhohlen. Allen voran Nicolas Sarkozy. Er wurde Anfang Dezember von einem UMP-Abgeordneten über die Abstimmung in der Schweiz und Schlussfolgerungen daraus für Frankreich mit diesen Worten zitiert: "Die Leute wollen nicht, dass ihr Land verunstaltet wird." Die "Identität des Landes" müsse "gewahrt bleiben."


Zwei Tendenzen des Rassismus

Ende November 2009 publizierte unterdessen die "Nationale Konsultativkommission für Menschenrechte" die jährliche Studie über den Rassismus in Frankreich. Sie belegt zwei große Tendenzen: Zum einen den sichtbaren Rückgang des offenen, "bekennenden" Rassismus. Zum Zweiten aber auch eine Verschiebung der Thematiken des potenziell rassistisch aufgeladenen Diskurses: Diese Entwicklung führt weg von generellen Affirmationen - wie der "Ungleichheit der Rassen" oder der Anwesenheit von allgemein "zu vielen Immigranten in Frankreich" - und hin zu eher "kulturell" verkleideten Problematiken - etwa den an die "Integration" von Einwanderern zu stellenden Anforderungen oder den "Platz des Islam" in der französischen Gesellschaft. Hinzu kommt eine stark präsente "Sicherheits"problematik.

Zum ersten Punkt: Ein Gradmesser des Rückgangs offen rassistischer Haltungen ist die Antwort in Meinungsumfragen darauf, ob man sich selbst als "eher", "ein wenig", "nicht sehr" oder "überhaupt nicht rassistisch" einstuft. Selbstverständlich bedeutet es in einer strukturell Rassismus beinhaltenden Gesellschaft, in der z.B. die Besitzer eines Staatsbürger-Ausweises (erst recht, wenn sie weißer Hautfarbe sind) Privilegien genießen, nicht, dass jemand in der Praxis antirassistisch wäre, wenn er/sie sich selbst als "überhaupt nicht rassistisch" einstuft. Dennoch vermögen solche Erfassungen des Meinungsklimas im Hinblick auf Veränderungen der Antworten im Zeitverlauf interessante Rückschlüsse zu liefern.

Bei der erwähnten bislang letzten Meinungsstudie des Instituts CSA erklärten sich nur noch drei Prozent als "eher rassistisch". 2000 waren es noch zwölf Prozent, ein Jahr später elf und 2008 noch fünf Prozent. Im November 2009 hingegen bezeichneten sich 54 Prozent als "überhaupt nicht rassistisch". Auch hier zum Vergleich: 2000 waren es nur 31, ein Jahr später 33 und 2008 52 Prozent.

Auch bei einigen ausgewählten Sachfragen zeigt sich 2009 ein weit verbreiteter Anspruch, nicht rassistisch zu erscheinen. So antworten 68 Prozent mit "Ja" auf die Frage, ob "Angehörige aller menschlichen Rassen einen Anspruch auf Gleichbehandlung haben", während weitere 20 Prozent darauf antworten, es gebe "gar keine Rassen". Nur noch acht Prozent antworten, es gebe "Rassen, die anderen überlegen sind", was während der Kolonialperiode eine weit verbreitete Auffassung war.

Es gibt also Ende 2009 eine relative Tabuisierung des (offenen) Rassismus im Vergleich mit früheren Perioden. Eine der Ursachen dafür war wohl der Mangel an "Dynamik" der extremen Rechten, die 2007 bis 2009 eine erhebliche Krise durchlief, nachdem Nicolas Sarkozy ihr bei der Präsidentschaftswahl 2007 und danach Millionen Wähler abwerben hatte können. (Allerdings ist der rechtsextreme Front National seit dem Winter 2009/10 wieder mächtig in der öffentlichen Meinung emporgestiegen.)

Hinzu kommt aber als viel allgemeiner wirkender Faktor die wachsende "Vermischung" der französischen Bevölkerung vor allem in der jungen Generation, in der der Anteil der Menschen migrantischer Herkunft in den letzten 20 Jahren (jedenfalls in den städtischen Zonen und Ballungsräumen) beträchtlich angewachsen ist. Ohne eine starke, das rassistische Potenzial in der Bevölkerung bündelnde rechtsextreme Bewegung gilt diese "Vermischung" in breiter werdenden Kreisen der Bevölkerung inzwischen als "normal".


"Zu viele Ausländer"

Aber dieser generelle Rückgang des offenen und aggressiven Rassismus bedeutet keineswegs, dass nun eitel Sonnenschein herrscht. Denn in derselben Studie kommt zugleich ein meist ökonomisch, vor allem in der Konkurrenz um Arbeitsplätze und Sozialleistungen begründetes Unbehagen an einer wachsenden Zahl von Migranten zum Ausdruck. So erklären 47 Prozent der Befragten ihr tendenzielles (und 22 davon ihr volles) Einverständnis zu der Aussage, insgesamt lebten "zu viele" Einwanderer im Lande.

Im Jahr 2000 hatten 59 Prozent dieser Aussage zugestimmt. 2004 ging dieser Wert deutlich auf 38 zurück, doch Ende 2005 beantworteten erneut 56 Prozent die Frage zustimmend - damals hatten die heftigen Riots in den französischen Vorstädten stattgefunden. Derzeit dürfte neben der Erinnerung an solcherlei Phänomene und dem generellen rassistisch überfrachteten Diskurs von der "Inneren Sicherheit" auch die Wirtschaftskrise eine erhebliche Rolle spielen.

Daneben ziehen vor allem "kulturelle" und religiöse Faktoren die Aufmerksamkeit eines wachsenden Teils der Gesellschaft auf sich. So stimmen 50 Prozent der Aussage zu, viele in Frankreich lebenden Immigranten täten nicht genug, um sich in das Land zu integrieren (während 36 Prozent die Blockaden eher bei der Mehrheitsgesellschaft erblicken). Die Zahl derer, die Integrationsdefizite vor allem auf Seiten der Einwanderer sehen, ist jedoch in (kleineren) Kommunen mit ausgesprochen niedrigem Anteil an Migranten mit durchschnittlich 60 Prozent sehr viel höher als in städtischen Zonen oder gar im Raum Paris (19 Prozent). Im Blickpunkt stehen dabei zuerst die Roma und danach Muslime. Erstere werden durch 69, letztere durch 44 Prozent als ganz oder zum Teil "außerhalb der Gesellschaft stehende" Gruppe genannt.

Raute

Reiz des Reisens

von Sonja Gansberger

Wenn wir uns mit der Geschichte des Reisens beschäftigen, dann finden wir hier vielleicht den Ursprung, die Entwicklungsgeschichte und die Struktur unseres Wissens, die für unsere heutige mobile Gesellschaft charakteristisch sind. (...) Mobilität ist die früheste, prähistorische "conditio humana"; (...) wenn wir unsere Gegenwart verstehen wollen, dann müssen wir verstehen, welche Funktion die Mobilität in der Geschichte hatte: Sie war eine immer auf Veränderung gerichtete Kraft, die Persönlichkeiten, soziale und kulturelle Landschaften verändert (...).

(Leed 1993: 18)

Dem Reisen liegt oft die Motivation der Aneignung des Exotischen, des Fremden, oder die Lust, sich mit anderen Landschaften, Kulturen, Zivilisationen auseinanderzusetzen, zugrunde.

Reiseerfahrung hat in erster Linie mit der räumlichen Veränderung zu tun, der/die Reisende löst sich aus seinem/ihrem gewohnten Lebensumfeld und liefert sich dem Unbekannten, der ebenso bedrohlichen wie faszinierenden Fremde, aus.

Dieses Gefühl der Faszination und Unbekanntheit, wenn nicht sogar Bedrohlichkeit, übertrug sich in früheren Zeiten oft auch auf die Reisenden selbst, denn nicht nur in der Fremde begegnete man dem Fremden mit Neugier, auch die Heimgekehrten wurden mit anderen Augen gesehen. Man erwartete sich von diesen zu welterfahrenen gereiften, routinierten Menschen besondere Kenntnisse und Fähigkeiten, die sie sich in der Fremde erworben hatten und die sie in ihrer Heimat aus der Masse herausheben und zu Ratgebern in fremden, ungewohnten Situationen machen würden. Die Bereicherung der individuellen Erfahrung des Gereisten in der Fremde gereicht auch den Zuhausegebliebenen zum Vorteil.


"Wir sind viele - und einander ewig fremd"

Für moderne TouristInnen ist das "Risiko", durch neue Erkenntnisse im Zusammentreffen mit fremden Kulturen das eigene Weltbild verändern zu müssen, minimal. Was vor einigen Dekaden den Wert des Reisens als Weg zu einer tieferen Selbstwahrnehmung ausmachte und die eigene Identität am tiefsten prägte, wird heute aus den verschiedensten Gründen oft bewusst vermieden: In der fremden Umgebung neue kulturelle Praktiken zu erkennen und anzuerkennen, die offene Konfrontation und Kommunikation mit der Bevölkerung des bereisten Landes zu suchen, und vor allem seine aus der eigenen Kultur übernommenen Überzeugungen und Vorstellungen zu überdenken. Dies könnte der Gewinn jeder Reise sein, damit die Textzeile "Wir sind viele - und einander ewig fremd" des Songs "Wir sind Viele" auffindbar im Album "Kapitulation" der Band Tocotronic nicht immerwährende Wirklichkeit bleiben muss.

In der heutigen Zeit bieten Urlaubs- und Erholungsreisen nur bedingt Möglichkeiten für einen authentischen Erlebnis- und Erfahrungsraum. Diese Veränderung des Reisens von der Bildung zum Konsum wirft viele Fragen auf.

Wie viel lässt sich im Zuge einer von Reiseexperten geplanten Reise tatsächlich vom Fremden kennenlernen? Wie stark kann man sich auf die kulturellen, gesellschaftlichen Verhältnisse während eines meist auf wenige Tage/Wochen begrenzten Aufenthaltes überhaupt einlassen? Und bringt man wirklich für diese Lern- und Beziehungsarbeit während eines "Erholungsurlaubes" die nötige Energie auf? Haben sich die Intentionen der Reisenden geändert, steht nicht mehr die bewusste Auseinandersetzung mit dem Ungewohnten, Fremden und die dadurch möglicherweise Veränderung/Weiterentwicklung der eigenen Identität, sondern das "Sammeln" von Destinationen und dazugehörigen Devotionalien im Vordergrund?


Backpacking - Reisen als Ausbildung

Oft wird der Individualtourismus als die wahre, der bereisten Kultur am aufmerksamsten gegenübertretende Variante gesehen. Individuelles Reisen hat allerdings viele Ausprägungen und ist keine Garantie für bewusstes, nicht konsumorientiertes Reisen, sondern fungiert allzu oft als Vorreiter des Massentourismus. Die ersten Wohnwagen- oder Tramper-IndividualistInnen erlebten subjektiv noch Pionierverhältnisse, sie gaben aber Muster vor, die Tausenden anderen zum Bedürfnis wurden.

Der Rucksacktourismus (Backpacking) ist eine Variante des Individualtourismus. Der Ausgangspunkt dieser Praxis liegt in den gesellschaftskritischen Jugendbewegungen der westlichen Welt in den 1960er Jahren, als erstmals massenhaft junge Menschen nach Asien reisten und den sogenannten Hippie Trail (die Reiserouten der Hippies in den 1960er und 1970er Jahren von Europa über Land nach Südostasien) begründeten. Auch wenn er in der damaligen Form nicht mehr existiert und sich die AkteurInnen und die Form des Backpacking verändert haben, wird die heutige Variante ideologisch immer noch, sowohl von den Reisenden selbst als auch in der Außenwahrnehmung, auf diese Zeit zurückbezogen.

Moderne Uniformierung der Reisedestinationen (Hotels, Flughäfen, Verkehrsmittel, Verpflegung, Unterkünfte) macht auch vor Backpackern nicht halt, wird von diesen in gewissen Bereichen sogar erwünscht bzw. bevorzugt. Diese logistischen Knotenpunkte werden als Anknüpfungspunkte an Traveller-Netzwerke genützt, und um ihre Reiserepräsentationen via diverse Online-Plattformen (wie Facebook, Myspace, StudiVZ, Twitter usw.) zu verbreiten und zu aktualisieren. Nach der Rückkehr werden diese in weiterer Folge zu Bausteinen der neuen, welterfahrenen Identität.

Auf Reisen erworbenes Wissen wird dezidiert als Wissen über globale Zusammenhänge betrachtet und durch die Nutzung digitaler Medien von Backpackern global verteilt und re-produziert.

Die in der Studie aus dem Jahr 2005 von Jana Binder dazu befragten Backpacker nennen Eigenschaften wie Offenheit, Kommunikationsfreudigkeit, Selbstständigkeit und Entschlossenheit als Mehrwert und Nutzen, den sie für ihre Zukunft erworben haben und von dem sie nach ihrer Rückkehr "profitieren" werden. Sie setzen die Fähigkeiten gleich mit Schlüsselqualifikationen für die Positionierung in spätmodernen Gesellschaften und Ökonomien wie Interaktionskompetenz, Flexibilität, Fokussierung und Rationalisierung von Problemen. Die ursprünglich als hedonistisch eingestufte Praxis des Backpackings wird nunmehr "intellektualisiert" oder professionalisiert. Backpacking gilt offensichtlich als Teil der Ausbildung - für das Leben und als Surplus für den Berufseinstieg. Reisen und Karriere behindern sich nicht gegenseitig, auch längere Reisen stellen keine "Lücken" im Lebenslauf dar bzw. lassen sich sogar positiv in die (Erfolgs-)Biographie einfügen. Die Reise dient der Profilierung der eigenen Arbeitskraft im westlichen Kapitalismus, nicht der produktiven Befremdung zur Anregung der Reflexion über die Relativität und Historizität der eigenen Kultur. Vielmehr wird das Bereiste bewusst in der Schublade des Exotischen gelassen, um das Eigene nach der Heimkehr bestärkt im Beruf auszuleben.

Schon die Grand Tour, die im 17. Jahrhundert ihre Blütezeit hatte, diente den jungen Adeligen und dem privilegierten Bürgertum zur Vertiefung der Bildung und zur Horizonterweiterung. Die Reise stellte ursprünglich den Abschluss der Erziehung dar und sollte der Bildung der Reisenden den "letzten Schliff" geben, indem sie Kultur und Sitten fremder Länder kennenlernen, neue Eindrücke sammeln und für das weitere Leben nützliche Kontakte knüpfen.

Die Praxis des Backpacking ist möglicherweise als die zeitgenössische, kulturelle und soziale Entwicklung dieser Tradition zu sehen. Menschen kommen weit herum, aber kommen sie dadurch auch weiter? Nicht beruflich, sondern menschlich. Denn eine Frage ist: Wozu sammeln sie Eindrücke; und eine weitere wäre: Warum sollen diese Erfahrungen überhaupt einem bestimmten Zweck dienen?


Literatur

Binder, Jana (2005): Globality - Eine Ethnographie über Backpacker, Münster.
Leed, Eric J. (1993): Die Erfahrung der Ferne - Reisen von Gilgamesch bis zum Tourismus unserer Tage, Frankfurt am Main.

Raute

Strangestories

Fremd bin ich und fremd ist mir

An einem windigen Herbsttag im letzten 0er Jahr des 21. Jahrhunderts betrat ich vom Trittbrett des Linienbus 16a aus, ohne mir dessen in jenem Moment bewusst zu sein, das Fremde. Der global vereinheitlichte Konsumschleusenlook des Flughafens hatte mich noch kurz zuvor in touristischer Scheinvertrautheit empfangen und der Kontakt meiner Schuhsohlen mit dem Asphalt der Upper Dorset Street ließ mich glauben, dort angekommen zu sein, wo ich das folgende halbe Jahr verbringen würde. Doch das stimmte so nicht.

Es stimmte so nicht, weil die Wirklichkeit und ich noch weit voneinander entfernt waren. Und das gleich mehrdimensional. Die Distanzen zwischen mir und dem Verstehen des (semi-)öffentlichen Transportsystems, der Vorgehensweise beim Lebensmitteleinkauf oder den Gepflogenheiten beim Pubbesuch gehörten, trotz ihrer Größe, zu den geringeren. Am breitesten war die Wirkung des Sprachunterschiedes, denn hier bestand eine gravierende Differenz zwischen dem mir vertrauten Englisch und dem tendenziell fiesen Dialekt der Menschen von Dublin Stadt, like. Ehe ich mich versah, stand ich unter dem Einfluss eines Phänomens, das die Sozialanthropologie als Infantilisierung kennt, ich war wieder Kind. Das meint, meine Kenntnisse des lokalen Alltags, insbesondere eben des Regionalsprechs, beschränkten sich anfangs auf die eines etwa Fünfjährigen. Ich hatte keinen Platz in der Gesellschaft vor Ort und diese keinerlei Interesse mir bei der Findung eines solchen behilflich zu sein.

Zu den Folgen des Einflusses dieses Phänomens gehörten zwar auch gesteigertes Gieren nach Neuem und ein Lern- und Aufnahmevermögen, das mich selbst überraschte, doch besonders in den ersten Tagen wogen die emotionalen Aspekte wesentlich schwerer: Einsamkeit, Heimweh und das verführerische Verlangen, mich unter germanophone, lautscheinlich weniger fremde Menschen zu mischen. Zu meinem Glück war ich in der ökonomischen Lage, mir die Zeit zu leisten, die nötig war, um die Infantilisierung zu meinem Vorteil nutzen, um in der mir fremden Gesellschaft (im Eiltempo) heranwachsen zu können. Und so verhielt sich die mehrdimensionale Distanz indirekt proportional zur Menge der Zeit, die ich vor Ort verbrachte: sie schrumpfte.

Auch in der Gedankenwelt abseits und jenseits des Kapitalismus war ich einmal fremd. Und jede, die, und jeder, der diese Welt alternativer Konzepte zum ersten Mal betritt, ist es und wird bei dieser Begegnung mit ihr oder ihm fremden Ideen infantilisiert, fühlt sich einsam, hat Heimweh nach dem bequemen Leben. Manche treten sofort wieder die Rückreise in die gewohnten Gefilde kapitalistischer Vorstellungen an, andere mischen sich unter Lippenbekenner.

Das Fremde ist überall, fremd bin ich und fremd ist mir an jedem Tag. Wer damit umgehen kann und wer nicht, zeigt sich an vielen Aspekten der persönlichen Lebensgestaltung.

Stephan Hochleithner


*


Wenn aus einem Fremdkörper ein Resonanzkörper wird

Für mich als geborene Entdeckerin ist das Fremde, die Fremde, der Fremde das Um-und-Auf. Gäbe es nur das Alltägliche, das Gewohnte, das sattsam Bekannte wäre ich längst verhungert und verdurstet. Der Alltag hat immer die Tendenz grau zu sein, zum Trott zu werden und man selbst zum Trottel. Daher ist es notwendig, öfter die Spur zu wechseln. Sich auf Abwege zu begeben. Die ausgetretenen Trampelpfade zu verlassen und die "dunklen Gassen" in Augenschein zu nehmen. An jedem alt bekannten Ort gibt es Neuland zu entdecken. Wenn ich von einem Sidestep zurück auf die gewohnte Bahn kehre, habe ich immer ein Fußgefühl, als hätte ich die ungewohnten Schi- oder Eislaufschuhe wieder gegen normales Schuhwerk getauscht.

Leben ist Bewegung. (Jede Zelle braucht Wärme, Licht und Bewegung.) Im Alltag ist die häufigste Bewegung allerdings nur das unsinnige auf der Stelle Treten im Hamsterrad, ein rasender Stillstand. - Natürlich passieren manchmal auch mitten im Alltagsgedränge die wundersamsten Dinge, - immer dann, wenn man absolut nicht darauf gefasst ist. Entdeckungen halten sich an keine Zeit- oder Stadtpläne, sie fallen einfach vom Himmel. Aber auffallend oft ist Musik im Spiel. Diese lockt Entdeckungen offenbar an. Schleier werden leichter gelüftet. Überhaupt: wer mit einem Brennglas vor der Seele lebt, erkennt seine Resonanzkörper oft auf den ersten Blick.

Im Alltag verliert man sich leicht. Verzettelt und zerstreut. In der Fremde glückt die Besinnung, die höchste Aufmerksamkeit, die intensive Wahrnehmung des Fremden und seiner Selbst. Einfach weg sein, um endlich ganz da zu sein. Raum und Zeit haben. Nichts tun, nichts müssen, nichts wollen - dann ist alles möglich. Ganz besonders in jener Fremde, in jener Kultur, in der ich mich gefunden habe, in die ich immer wieder "nach Hause" und zu mir komme. "Auf Reisen überrascht jeder Augenblick, überrasche ich mich selbst - als Unbekannter im Unbekannten. ... Reisen: die schweifende Libido. ... Das Paradoxon: Sich loslassen, um sich zu finden". Vertraute Worte von Bernhard Hüttenegger, dem leidenschaftlich Reisenden und Schreibenden.

Ganz und gar fremd sind mir indes Reisende, die wegfahren, aber via Handy und Laptop nicht von zu Hause loskommen. Die sich in Gesellschaft von ihresgleichen bewegen, die sich all inclusive in heimatlicher Enklave befinden. Ereignisreich, aber erfahrungsarm ist das Leben. Action, Event und Glückspille sind das höchste der streng kalkulierten Gefühle. Wenig gefragt: Neugierde, Überraschungsmomente, Erstaunliches, gar Ungeheuerliches. Sich einlassen auf die Fremde, auf die Sprache, die Kultur, die Mentalität. Alles ist einerlei, alles wird wahllos konsumiert, vom Preis diktiert, Last Minute ausgewählt. "Aber Reise soll Verschwendung sein, Hingabe der Ordnung an den Zufall, des Täglichen an das Außerordentliche, sie muss allerpersönlichste, ureigenste Gestaltung unserer Neigung sein - wir wollen sie darum verteidigen gegen die neue bureaukratische, maschinelle Form des Massenwanderns, des Reisebetriebs. ...so wird jede Reise zur Entdeckung nicht nur der äußeren, sondern auch unserer eigenen inneren Welt." Dieser Einwand stammt aus dem Jahr 1926. Stefan Zweig hat ihn im Aufsatz "Reisen oder Gereist-Werden" formuliert.

Wenn einer eine Reise tut, dann soll er was erzählen können. Wer den Reiseberichten von Johann W. Goethe, Stefan Zweig, Joseph Roth, Patrick Leigh Fermor oder Bernhard Hüttenegger folgt, staunt: welch Intensität und welch Reichtum an Erlebnissen und Erkenntnissen. Begegnungen mit Natur, Kultur, Architektur, Literatur und den Menschen. Geschichte und Geschichten höchst lebendig, anschaulich, lehrreich. Die Leserin erfährt viel über "das wahre Glück", über diesen "Einklang von Selbst-Vertrauen und Fremde, von Ich und Welt, von Bewegung und Einkehr", über das "Reisen, Gehen, Schreiben, Lesen" als "höchste Souveränität", als "die Bewegung des Welt erfahrenden Individuums". So drückt es Hüttenegger aus.

Maria Wölflingseder


*


Auf die Spur kommen

Der Fremde. Die Fremde. Das Fremde. Also fremd ist das für mich nicht. Wenn mir denn nun die verschiedenen Varianten und Verwendungen des Begriffes "Fremde" durchaus nicht fremd sind, was ist dann eigentlich das Fremde am Fremden?

Nun ja, fremd ist nichts, Nichts ist fremd und so war das eigentlich schon immer. Das Nichts zu umschreiben soll nicht Gegenstand meines Kommentars sein, und das Fremde entfaltet sich bei näherer Betrachtung eigentlich als weniger fremd, als noch davor, und deshalb ist es wohl eher die Wahrnehmung des Neuen als unbekannt, die uns befremdet, und wieder zum Gewohnten, Vertrauten führt, oder derartiges hervorbringt.

Dem Fremden auf die Spur zu kommen und es besser verstehen zu lernen ist sowohl interessant, als auch gesellschaftlich relevant und macht neugierig.

So manch einer könnte bei neugieriger Betrachtung der oft fremd anmutenden Begriffe Ökonomie und Politik auf Marx und seinen Gebrauch des Begriffes Entfremdung stoßen.

Da mir dies nicht fremd zu sein scheint, fühle ich mich gerade fast schon ein bisschen entfremdet, und beende nun lieber diesen literarischen Arbeitsprozess, um weiterhin das Fremde kennen zu lernen, den Fremden, oder die Fremde, unentfremdet und doch stets Fremdes hervorbringend.

Herbert Schindler

Raute

Entfremdung?

von Günther Anders

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

Raute

Erhebet euch Geliebte, wir brauchen eine Tat!*

Zu den studentischen Protestaktionen im Herbst 2009

von Erich Ribolits

Geschrieben steht: Im Anfang war das Wort!
Hier stock' ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
ich muss es anders übersetzen,
wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.
Bedenke wohl die erste Zeile,
dass deine Feder sich nicht übereile!
Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
Es sollte steh'n: Im Anfang war die Kraft!
Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,
schon warnt mich was, dass ich dabei nicht bleibe.
Mir hilft der Geist! Auf einmal seh' ich Rat.
Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!"

Johann Wolfgang Goethe, Faust


Im Wintersemester 2009/10 haben Studierende fast aller österreichischer Universitäten, sowie Studierende in vielen anderen europäischen Ländern und in Nordamerika durch Hörsaalbesetzungen, Demonstrationen und andere Aktionen auf die ihrer Meinung nach gegebenen und voranschreitenden bildungsfeindlichen Bedingungen an Universitäten aufmerksam zu machen versucht. Diese Protestaktionen wurden von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zwar sehr unterschiedlich wahrgenommen und kommentiert, fanden aber insgesamt ein äußerst breites Echo. Sehr erstaunlich war dabei allerdings, dass von den an österreichischen Universitäten tätigen Bildungswissenschafter/innen nur vereinzelt Stellungnahmen zu den Protesten und ihren Zielsetzungen abgegeben wurden. Aktiv bei den Aktionen in Erscheinung getreten ist nahezu niemand aus der hiesigen Szene der Bildungstheoretiker/innen. Die Zurückhaltung der "offiziellen Hüter/innen der Bildungsidee", erscheint deshalb bemerkenswert, weil sich die Aktionen der Studierenden von allem Anfang an nicht bloß gegen formale Hindernisse des Studierens wie Studienplatzbeschränkungen, unzureichende Lehrveranstaltungsangebote oder mangelhaft ausgestattete Hörsäle gerichtet hatten. Der Protest fokussierte viel mehr die fortschreitende Ausrichtung der Studien an ökonomischen Verwertungsvorgaben und ein damit verbundenes Untergraben von Studienbedingungen, die Bildung im Sinne einer umfassenden Förderung kritischer Individuen ermöglichen. Damit wurden Kritikpunkte angesprochen, die durchaus Reaktionen von Bildungswissenschafter/innen erwarten hätten lassen.

Eine Spitzenforderungen der demonstrierenden Student/innen lautete "Bildung statt Ausbildung" und schloss damit an prominente bildungstheoretische Diskussionen an. In den Veranstaltungen, Aussendungen und Publikationen im Rahmen der Protestaktionen wurde immer wieder thematisiert, dass Lernprozesse, die dem Ziel verpflichtet sind, nicht bloß funktionierende Gesellschaftsmitglieder heranzuzüchten, sondern Selbstbewusstsein und Mündigkeit zu initiieren, andere strukturelle Bedingungen erforderlich machen, als sie aktuell an den hiesigen Universitäten herrschen und durch die Vorgaben des Bolognaprozesses noch vorangetrieben werden. Über weite Strecken ging es somit um Themen, die ganz offensichtlich mit Überlegungen und Forschungsbereichen der Bildungswissenschaft korrelieren. Zudem konnte die Protestaktion gewissermaßen selbst als Beleg dafür genommen werden, dass sich die beteiligten Studierenden - indem sie sich mit der Rolle von passiven Konsument/innen der "Ware Wissen" nicht zufrieden geben, sondern die Bedingungen ihres Wissenserwerbs kritisch hinterfragen - im Sinne des bildungstheoretisch legitimierten Zieles der reflektierten, sich selbständig ihres Verstandes bedienenden Persönlichkeit, gewissermaßen als Adepten der Bildung outen.


Konsequenzlose Bildungstheorie...

Die noble Zurückhaltung, derer sich österreichische Bildungstheoretiker/innen im Zusammenhang mit den Student/innenstreiks befleißigten, war allerdings durchaus kein Zufall, in diesem Verhalten spiegelte sich letztendlich nur ein Grundwiderspruch wider, der für bürgerliche Bildung symptomatisch ist. Die angesprochene Abstinenz machte bloß kenntlich, was den bürgerlichen Bildungsbegriff seit seiner Etablierung kennzeichnete: ein Idealisieren der auf Wissenserwerb aufsetzenden Fähigkeit zur Reflexion und Kritik bei gleichzeitiger kategorischer Ablehnung jeder aus der Reflexion resultierenden Aktion. Bildung - das begriffliche Kürzel für jene Qualitäten, die die Angehörigen der bürgerliche Klasse für ihre Aufgaben in Wirtschaft und Verwaltung befähigt und ihnen zugleich das Selbstbewusstsein zum Kampf um die Überwindung der Feudalordnung vermittelt hatte (vgl. Adorno 1959, 98) - hatte in der Phase ihres Entstehens eine durchaus gesellschaftspolitisch-progressive Konnotation. Als Korrelat der Aufklärung war sie untrennbar mit dem Ideal der Überwindung der Herrschaft des Menschen über den Menschen verbunden. In jenem Bedeutungsgehalt allerdings, mit dem der Bildungsbegriff aus den gescheiterten bürgerlichen Revolutionen Mitteleuropas hervorgegangen ist, ist er bloß noch Ausdruck des realpolitisch abstinenten und abgehoben räsonierenden Citoyens. Seine Potenz als Triebkraft konkreter gesellschaftlicher Veränderungen ist ihm genau von denen (wieder) genommen worden, die ihn dafür benutzt hatten, um für sich eine besondere gesellschaftliche Stellung zu reklamieren. Was als Bildungsbegriff von den Ideen der Aufklärung übrig blieb, nachdem der Versuch der Angehörigen des Bürgertums gescheitert war, durch einen emanzipatorischen (Kraft-)Akt die Machtverhältnisse umzuwälzen, korreliert mit einem Untertanengeist, der sich vom gesellschaftlichen Status quo verächtlich distanziert und sich ihm zugleich widerstandslos unterwirft. Es ist kein Zufall, dass Bildung ein spezifisch deutschsprachiger Begriff ist, dem ein Äquivalent in anderen Sprachen weitgehend fehlt. Im Bildungsbegriff spiegelt sich eine in dieser Form nur in den deutschsprachigen Ländern Mitteleuropas entstandene geschichtliche Situation wider: die politische Schreckstarre der bürgerlichen Klasse nach ihrer (vorläufigen) Niederlage.

Dort, wo den angestrebten Veränderungen der Machtverhältnisse durch revolutionäre Umwälzungen tatsächlich nachhaltige Erfolge beschieden gewesen waren, wie z.B. in England und Frankreich, wäre ein Aufrechterhalten der Idee einer Gesellschaft aufgeklärter, "ohne Status und Übervorteilung" (ebd., 97) zusammenlebender Menschen kontraproduktiv gewesen - auch die sich nunmehr etablierende bürgerliche Form von Herrschaft wäre damit ja infrage gestellt gewesen. Dagegen konnte die bürgerliche Klasse in den deutschsprachigen Ländern den Bildungsbegriff nicht so einfach fallen lassen. Nachdem ihr Kampf um politische Emanzipation in einer Niederlage geendet hatte, wurde dieser als Identität stiftende Größe für sie sogar besonders wichtig. Letztendlich blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als die gesellschaftsplolitische Ausrichtung der Bildungsidee klammheimlich zu entsorgen, zugleich Bildung als (bloße) Geisteskultur aber umso mehr zu idealisieren. Dementsprechend wurde der Zusammenhang zwischen Bildung und gesellschaftlicher Realität gekappt und Bildung in den privaten, quasi außergesellschaftlichen Raum verbannt. Die Hoffnung auf eine "bessere Welt" - der Nährboden der Bildungsidee - wurde individualisiert und zur Selbsterlösung umgedeutet (vgl. Foerster 2009, 22ff). Aus der Vorstellung von Bildung als gesellschaftsverändernder Kraft mutierte zum Bildungsbürger - einer Karikatur der ursprünglichen kämpferischen Idee.

Die konkrete bildungspolitische Entwicklung - die Organisation der Wissensvermittlung und das gesellschaftliche Umgehen mit Wissen - wurde durch Tradieren des solcherart kastrierten Bildungsbegriffs in weiterer Folge kaum beeinflusst, sie nahm mehr oder weniger denselben Gang wie in den anderen Ländern auch. Allerdings wurden dergestalt die Weichen dafür gestellt, dass Bildung zu jenem Zerrbild verkommen konnte, das Adorno später als "sozialisierte Halbbildung" geißelte. Die Reduktion der Bildungsidee zur schöngeistigen Pflege der Kritik bei gleichzeitiger Abkoppelung von jedweder konkreten Einmischung in gegebene Herrschaftsverhältnisse ermöglichte in der Folge zweierlei: Zum einen konnte sie für das Bildungsbürgertum weiterhin die Legitimation dafür abgeben, sich besser als jene zu dünken, die nur zum bloßen Funktionieren in Arbeitswelt und Gesellschaft "ausgebildet" sind. In diesem Sinn wurde Bildung zum "Leitmotiv derjenigen, die von den Ausdünstungen der proletarischen Existenz nicht betroffen waren und damit die griechische Scheidung von Muße und Denken einerseits und banausischer Zweckmäßigkeit und Sorge um die Lebensführung andererseits" (Hans-Jochen Gamm, 1979, 90) fortsetzen konnten. Und zum anderen konnte Bildung trotz revolutionärer Herkunft und vordergründig reklamierter kritischer Konnotation weitgehend problemlos dem Aufrechterhalten des gesellschaftlichen Status quo in die Hände arbeiten. Tatsächlich ist die im deutschen Begriff festgehaltene Bedeutung von Bildung Ausdruck einer zutiefst konservativ-antirevolutionären Haltung und stellt schlichtweg genau das Gegenteil jener Idee dar, die anfänglich so attraktiv für das nach Macht strebende Bürgertum war: Der Vorstellung, eine auf unhinterfragt geltenden Prämissen beruhende gesellschaftliche Ordnung durch reflektierte Erkenntnis für Alle überwinden zu können.


...ist konsequente "Aufklärung"

Die der bürgerlichen Bildung immanente Präferenz für die konsequenzlose Reflexion und die Skepsis gegenüber der politischen Aktion sind aber offenbar nur zum Teil das Resultat historischer Entwicklung, zu einem gewissen Grad waren sie schon im Gedankengut der Aufklärung angelegt. So lässt sich zum Beispiel auch im wohl prominentesten Text zur Charakterisierung des gegen Aberglaube und Absolutismus gerichteten Denkens, in Immanuel Kant's "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung" - verfasst lange vor den bürgerlichen Revolutionen und ihrem Scheitern in den deutschsprachigen Ländern Europas - unschwer eine derartige Haltung erkennen. Kein Zitat dient häufiger als Begründung für pädagogische Bemühungen als jenes "Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen", das Kant 1784, wenige Jahre vor der Französischen Revolution, zum Wahlspruch der Aufklärung erklärt hatte. Seine entsprechende Abhandlung beginnt mit den berühmten Worten: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen" (Kant 1784, 481).

Die Ausführungen Kants gelten gemeinhin als die griffigste Erklärung dafür, was unter Aufklärung zu verstehen sei, und in der Regel werden sie auch dafür verwendet, um das Ziel von Bildung zu erklären bzw. diese von einem auf bloßes Funktionieren unter vorgegebenen Bedingungen fokussierten Lernen abzugrenzen. Vielfach wird der Text als radikale Aufforderung zur Kritik interpretiert, sowie dafür, sich (politisch-gesellschaftlichen) Gegebenheiten, deren Legitimation sich einer vernünftigen Argumentation entziehen, mutig entgegenzustellen. Tatsächlich geht diese Interpretation allerdings in einer ähnlichen Form zu weit, wie die Vorstellung, dass (nachrevolutionäre) bürgerliche Bildung irgend etwas mit selbstbewusster Auflehnung gegen aufgeherrschte Bedingungen des Daseins zu tun hätte.

Kant lag wohl nichts ferner, als ein Aufruf zum Widerstand. Viele seiner Texte belegen, dass sich sein Appell zum Einsatz der kritisch prüfenden Vernunft tatsächlich nur auf die theoretische Auseinandersetzung mit den Zuständen beschränkte. Ganz im Sinne des berühmten deutschen Volksliedes: "Die Gedanken sind frei" forderte er - wie er selber schreibt - "die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag", nämlich die "Freiheit des Vernunftgebrauchs". Und damit auch diese keinesfalls falsch verstanden würde, nahm er wenige Sätze nach seinem flammenden Appell zum Selberdenken gleich eine grundsätzliche Einschränkung vor: Nur der - wie er es nannte - "öffentliche Gebrauch der Vernunft [...], den jemand als Gelehrter [...] der Leserwelt macht" soll seiner Meinung nach frei sein, der "Privatgebrauch" hingegen - worunter er den Gebrauch der Vernunft im Rahmen eines "anvertrauten bürgerlichen Postens oder Amtes" verstand - "darf sehr enge eingeschränkt" sein. Und wenn auch unserem, durch und durch in bürgerlichen Vorstellungen verhafteten Denken die Kant'sche Argumentation nur allzu schnell einleuchten mag, dass "es sehr verderblich sein [würde], wenn ein Offizier, dem von seinem Oberen etwas anbefohlen wird, im Dienst über die Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit dieses Befehls laut vernünfteln wollte", sollte es doch stutzig machen, dass nur wenige Sätze nach seinem "Sapere aude", von Kant ganz rigoros gefordert wird, dass alle, die durch ihr Amt in irgend einer Form "dienstverpflichet" sind - somit also alle, deren Funktionieren für den geordneten Ablauf des bürgerlichen Staates erforderlich ist - "gehorchen" müssen!

Aber es kommt sowieso noch wesentlich deutlicher: In seinem gegen Hobbes gerichteten Ausführungen im Text: "Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis", lässt Kant keinen Zweifel, dass er absolut nichts davon hält, sich staatlichen Vorgaben real zu widersetzen und sein Appell zum Mut des Vernunftgebrauchs keinesfalls zu irgend einer Form aktiven Widerstands führen soll. Er führt aus: "Wenn also ein Volk unter einer gewissen itzt wirklichen Gesetzgebung seine Glückseligkeit einzubüßen mit größter Wahrscheinlichkeit urteilen sollte: was ist für dasselbe zu tun? soll es sich nicht widersetzen? Die Antwort kann nur sein: es ist für dasselbe nichts zu tun, als zu gehorchen. [...] Hieraus folgt: daß alle Widersetzlichkeit gegen die oberste gesetzgebende Macht, alle Aufwiegelung, um Unzufriedenheit der Untertanen tätlich werden zu lassen, aller Aufstand, der in Rebellion ausbricht, das höchste und strafbarste Verbrechen im gemeinen Wesen ist; weil es dessen Grundfeste zerstört. Und dieses Verbot ist unbedingt, so daß, es mag auch jene Macht oder ihr Agent, das Staatsoberhaupt, so gar den ursprünglichen Vertrag verletzt und sich dadurch des Rechts, Gesetzgeber zu sein, nach dem Begriff des Untertans, verlustig gemacht haben, indem sie die Regierung bevollmächtigt, durchaus gewalttätig (tyrannisch) zu verfahren, dennoch dem Untertan kein Widerstand, als Gegengewalt, erlaubt bleibt" (Kant 1977, 154/156).


Die Intelligenz denkt, die Macht lenkt

Auch wenn im ersten Anschein ein anderer Eindruck entstehen mag, so steht Kants strikte Ablehnung jeglichen Widerstands gegen die Autorität des Staates durchaus nicht im Widerspruch zu seiner vielzitierten Aufforderung zum Selberdenken. Denn auch dort geht es ihm ja nicht darum, dass Menschen durch den Erwerb von Wissen und dessen sachlogischer Verknüpfung ein Bewusstsein ihrer eigenen Interessen erlangen und befähigt werden, die konsequent zu verfolgen. Offenbar ist Aufklärung für Kant gar nicht so sehr eine Frage von (richtigem) Wissen, sondern eine der Haltung - sie erschöpft sich für ihn dementsprechend im Mut zum eigenständigen Denken. Es geht ihm gar nicht um den Erwerb von Wissen, das Menschen ermächtigt, indem es sie den Bedingungen ihres Daseins selbstbewusster gegenübertreten lässt, sondern einzig um die Fähigkeit, "sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen".

Eines ist allerdings wohl klar: Der Blödsinn, den sich Menschen aufgrund der verschiedensten, an sie herangetragenen - vielfach sehr fraglichen und in ihrer ideologischen Konnotation kaum je offengelegten - "Informationen" zusammenreimen, mag damals nicht kleiner gewesen sein als heute - selber und mit dem eigenen Verstand gedacht haben denselben die Menschen aber allemal! Zwar wurde damals genauso wie heute verhindert, dass die Angehörigen jener Gesellschaftsgruppe, die heute gerne verniedlichend als "Verlierer" bezeichnet werden, die gesellschaftlichen Machtverhältnisse hinterfragen und Schritte zu ihrer Veränderung unternehmen. In derartiger Ohnmacht wurden und werden diese Menschen allerdings nicht gehalten, indem ihr eigenständiges intellektuelles Verarbeiten von Informationen in irgendeiner Form unterbunden wird, sondern indem verhindert wird, dass sie sich ihrer spezifischen Interessen und eines damit im Zusammenhang stehenden Bedarfs an Wissen überhaupt bewusst werden.

Die daraus resultierende treue Ergebenheit in das gesellschaftliche System ist aber letztendlich genauso Produkt einer "selbst vorgenommenen" Denkleistung wie die Vorstellung, dass die Positionsverteilung in der Gesellschaft letztendlich schon irgendwie "gerecht" vonstatten gehe und jene, die in den "verantwortungsvollen Positionen" sitzen, dies deshalb tun, weil sie tatsächlich in der Lage seien, ihre Vernunft besonders "selbständig" zu gebrauchen.

Für Kant ist es allerdings sowieso eine ausgemachte Sache, dass das einfache Volk überhaupt nicht legitimiert ist, über die Richtigkeit von Maßnahmen der gesellschaftlichen Einscheidungsträger zu urteilen. Und wie schon dargestellt, hat auch der gelehrte Bürger für ihn ohne Widerstand zu gehorchen, praktische Kritik ist auch ihm verboten, ihm bleibt allerdings die Möglichkeit zur theoretischen Kritik. Röttgers fasst die diesbezüglichen Aussagen Kants folgendermaßen zusammen: "Der öffentliche Gebrauch der Vernunft, die 'Freiheit der Feder', ist das einzige Palladium der Volksrechte. Sie ist die einzige Bedingung der Aufklärung, und der Kritiker darf nicht per se als unruhiger und gefährlicher Bürger verfemt werden. Der kritische Philosoph bereitet durch seine Kritik die Gewährung von Freiheiten vor, doch nicht dadurch, daß er das Volk reif zur Freiheit macht, denn eine Reife zur Freiheit kann eigentlich nur in der Freiheit selbst geschehen, sondern dadurch, dass er vor der Regierung als Anwalt der Vernunft auftritt" (Röttgers 1975, 51f).

Die philosophisch-gelehrte Auseinandersetzung ist für Kant das Residuum der Kritik - sie stellt für ihn so etwas wie Bittgesuche im Namen der Vernunft dar. Interessen und Interessensunterschiede kommen in den Ausführungen Kants nicht vor, dementsprechend ist (Gelehrten-)Kritik nur in der Dimension eines akademischen Hinweises denkbar, dass der Vernunft durch die Regierenden in irgendeinem Punkt nicht ausreichend Rechnung getragen worden wäre. Für das (Fuß-)Volk sind die kritischen Ausführungen der Gelehrten selbstverständlich sowieso nicht bestimmt, dem ungebildeten Volk steht in gelehrten Diskussionen kein Mitspracherecht zu - es könnte dadurch nur verwirrt werden (vgl. Röttgers 1975, 54). Das Kant'sche "Sapere aude" bezieht sich nur auf die philosophisch Gebildeten, für die von ihm die Freiheit reklamiert wird, quasi die Faust in der Hosentasche ballen zu dürfen, dabei aber stets bedacht darauf zu sein, dass deren Kraft nur ja nicht praktisch wird. Die Botschaft lautet: Denkt, was ihr wollt, räsoniert eventuell auch in den erlaubten Bahnen, aber pariert nichtsdestotrotz genau in jener Form, die der Aufrechterhaltung der Herrschaft dienlich ist!


Mündigkeit - die moderne Herrschaftsform

Nicht der Mut, der erforderlich ist, um sich der Zwänge bewusst zu werden, durch die die eigene Lebenssituation geprägt ist, sowie den Zusammenhang derselben mit den politischen Bedingungen zu hinterfragen und - darauf aufbauend - um die Durchsetzung der eigenen Interessen zu kämpfen, wird von Kant eingefordert. Der von ihm geforderte Mut beschränkt sich auf die Selbstverständlichkeit des freien Meinens, die er selber ausdrücklich für völlig ungefährlich für den Fortbestand der gesellschaftlichen Ordnung bezeichnet. "Ein größerer Grad von bürgerlicher Freiheit scheint der Freiheit des Geistes des Volkes vorteilhaft, und setzt ihr doch unübersteigliche Schranken" - "bei [dieser] Freiheit [brauchen die Herrschenden] für die öffentliche Ruhe und Einigkeit des gemeinen Wesens nicht das mindeste besorgt zu sein." (Kant, 1784, 492) Und es stimmt wohl: "Geistesfreiheit verträgt sich nicht nur, sie braucht die wirkliche Unfreiheit, um so recht zu blühen! Genau genommen redet Kant, wenn er über Aufklärung, Meinungsfreiheit, Verstand, über Mut oder Bequemlichkeit beim Einsatz desselben doziert, über nichts von all dem: er redet über eine moderne Herrschaftstechnik [...]. Er redet über die Herrschaftstechnik am und im Bild des ihr entsprechenden Objekts, dem mündigen Bürger. Diesem Konstrukt entspricht es wesensmäßig zu gehorchen, sich dabei aber Seines zu denken und Verantwortung für das zu übernehmen, was er sowieso muss." (Gegenstandpunkt 2004) Kant entwarf in seinem Text zur Frage, was Aufklärung sei, nichts anderes als das der Herrschaftsform der Moderne entsprechende Ideal des Menschen - den Bildungsbürger. Und die gängige Bezugnahme der Bildungstheorie auf die Kant'sche Argumentation macht nur allzu offensichtlich, worauf das bildungstheoretische Leitbild "Mündigkeit" tatsächlich abzielt.

Und genau dieses Verhalten ist es ja auch, dessen sich die universitären Bildungswissenschafter/innen im Zusammenhang mit den zunehmend bildungsfeindlicheren Bedingungen an Universitäten nahezu durchwegs befleißigen. Ich habe an anderer Stelle schon ausgeführt, welcher absurde Widerspruch sich beispielsweise im Zusammenhang mit der aktuellen Umgestaltung der Universitäten im Verhalten der an den dortigen bildungswissenschaftlichen Instituten Beschäftigten zeigt (Ribolits 2009, 125f). Der in den letzten Jahren rapid voranschreitende Umbau der Universitäten zu Wirtschaftsunternehmen, in denen Forschung und Lehre nur mehr in der Dimension von Waren ins Blickfeld gelangen, die möglichst kostengünstig produziert und möglichst teuer verkauft werden, wird von den "Anwält/innen der Bildungsidee" ja durchaus kritisch wahrgenommen. In wissenschaftlich-theoretischen Auseinandersetzungen wird von ihnen auch immer wieder darauf hingewiesen, dass die vorangetriebenen Veränderungen im Sinne bildungstheoretischer Erkenntnisse massiv zu hinterfragen seien. Und in der Regel finden Texte, in denen das Unterwerfen der Universität unter ökonomische Kalküle als Todsünde an der akademischen Bildung gegeißelt wird, in der pädagogischen scientific community große Anerkennung.

Allerdings zeitigt diese theoretische Kritik keinerlei praktische Konsequenzen! Ganz im Sinne der Kant'schen Forderung, dass man im bürgerlichen Amte zu parieren habe, werden auch an den bildungswissenschaftlichen Instituten die der Verbetriebswirtschaftlichung der Universitäten geschuldeten Vorgaben widerspruchslos erfüllt. Brav wird durch die Expert/innen für Bildungsfragen das umgesetzt, von dem sie am allerbesten wissen, dass es der von ihnen vertretenen Idee des kritischen Individuums diametral entgegenläuft! Man unternimmt keine widerständigen Aktionen, legt sich nicht quer, lässt sich nicht einmal die kleinste Insubordination zuschulden kommen, sondern beschränkt sich auf das philosophisch-gelehrte Räsonieren. In Abwandlung des Kant'schen Zitats lässt sich formulieren: Es ist so bequem, mündig zu sein!


Widerstand ist "unvernünftig"

Und es ist nicht nur bequem, es ist durchaus auch vernünftig, sich derart zu verhalten! Denn außer dass man sich Probleme einhandelt, erreicht man mit Protestmaßnahmen gegen die im Detail kritisch wahrgenommenen Auswirkungen eines wohl zumeist grundsätzlich sowieso akzeptierten politisch-gesellschaftlichen Systems - für das es in den Dimensionen der bürgerlichen Vernunft ja auch keine Alternativen gibt - mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit ja wirklich nichts. Unter kalkulatorischen Gesichtspunkten macht es tatsächlich keinen Sinn, "gegen den Stachel zu löcken" - der Aufwand steht in keiner vernünftigen Relation zur Erfolgswahrscheinlichkeit. Jene, die sich auf das gelehrte Räsonieren zurückziehen und sich aus der konkreten Auseinandersetzung nobel heraushalten, können also durchaus in Anspruch nehmen, sich ihrer Vernunft selbständig bedient zu haben. Der angeblich von George Bernhard Shaw stammende Ausspruch "Der vernünftige Mensch passt sich der Welt an; der unvernünftige besteht auf dem Versuch, die Welt sich anzupassen" hat schon seine Richtigkeit. Allerdings hatte Shaw auch noch hinzugefügt: "Deshalb hängt aller Fortschritt vom unvernünftigen Menschen ab" - eine Aussage, die letztendlich das gesamte aufgeklärte abendländische Weltbild konterkariert.

Denn auch wenn der Begriff Fortschritt zwischenzeitlich seinen Glanz eingebüßt hat und uns heute möglicherweise nicht mehr optimal geeignet erscheint, um eine Veränderung des Status quo in Richtung eines Lebens zu umschreiben, das dem Attribut "gut" eher gerecht wird als das aktuelle, hatte Shaw dennoch recht, wenn er eine derartige Veränderung an das Überschreiten der Grenzen des vernünftig Geltenden knüpft. Jede vernünftige Argumentation baut auf unbeweisbaren - letztendlich irrationalen - Eingangsprämissen auf, die die jeweils gegebenen Machtstrukturen stützen.

Die argumentativ gewonnene "Wahrheit ist" - wie es Foucault ausdrückt - "von dieser Welt [und nichts Ewig-Endgültiges - E.R.]; in dieser wird sie aufgrund vielfältiger Zwänge produziert, verfügt sie über geregelte Machtwirkungen" (Foucault 1978, 51). Widerstand gegen den politisch-gesellschaftlichen Status quo impliziert - im Gegensatz zu Bemühungen um dessen Modernisierung oder Optimierung - somit immer auch, sich den Prämissen der geltenden Vernunft zu widersetzen. Widerstand ist die konkrete Folge des Hinterfragens der "Wahrheit auf ihre Machteffekte hin [...] und der Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse" (ebda.). In diesem Sinn kann es als durchaus geschickte Strategie des im 18./19. Jahrhundert an die Macht drängenden Bürgertums gesehen werden, an der Vorstellung der Aufklärung, dass Vernunft etwas objektiv Überhistorisches sei - sich also in allen Subjekten zu allen Zeiten in gleicher Form artikuliert -, anzuschließen und eine vernünftig geordnete Gesellschaft zu postulieren.

Den um ihre politische Emanzipation kämpfenden Bürger/innen ging es dabei selbstverständlich nicht um eine abstrakte Verankerung des Vernunftprinzips, sondern darum, das gesellschaftliche Machtzuweisungskriterium zu ihren Gunsten zu verändern. Der Appell zur Vernunft diente ihnen bloß als Vehikel für das Erreichen einer Gesellschaftsordnung, in der Privilegien und Macht nicht durch die qua Geburt determinierte Standeszugehörigkeit, sondern über das Erbringen ökonomisch orientierter Leistungen unter Konkurrenzbedingungen legitimiert werden. Eine derartige Gesellschaftsordnung entsprach ihren Interessen, sie zu einer besonders vernünftigen hochzustilisieren, ebenfalls.


"Bildung als Praxis der Freiheit"

Dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen Privilegien und Macht auf sich konzentrieren können, liegt nicht in einer mehr oder weniger gegebenen Verwirklichung objektiv gegebener Vernunft begründet, sondern darin, dass diese Gruppen ihren Interessen entsprechende gesellschaftliche Regeln erwirken konnten, indem sie diese im allgemeinen Bewusstsein als vernünftig verankerten. Macht und geltende Vernunft sind zwei Seiten derselben Medaille, weshalb mit dem (bloß) vernünftigen Argument der Macht auch nicht beizukommen ist. Gegen sie lässt sich nur das eigensinnige Interesse ins Treffen bringen.

Die bürgerliche Errungenschaft des öffentlich-vernünftigen Argumentierens gefährdet die Macht nicht, letztendlich stützt sie diese in ihrem Bestand sogar ab. Emanzipation von der Macht - sowie vom aktuell als vernünftig Geltenden - erfordert ein anderes Vorgehen: Es geht darum, sich der eigenen Lage innerhalb der gesellschaftlichen Gegebenheiten und der daraus resultierenden Interessen bewusst zu werden sowie praktische Schritte zu deren Durchsetzung zu tun. Emanzipation korreliert mit Eigensinn und verwirklicht sich in der Aktion. In letzter Konsequenz ist nicht das wortreich vorgetragene Argument der Beleg dafür, dass ein Mensch auf dem Weg ist, Souverän seiner Selbst zu werden, sondern die verantwortete Tat. Wenn Bildung an Selbstermächtigung orientiert ist - an der anwachsenden Fähigkeit, sich von Herrschaft befreien zu können - greift sie somit zu kurz, wenn sie sich in der (vernünftigen) Reflexion erschöpft, sie muss dann auch die Aktion implizieren.

Auch der Initialakt der Menschwerdung erschöpfte sich ja nicht in der theoretischen Kritik, sondern inkludierte die mutige und in ihren Folgen nicht wirklich kalkulierbare Tat. Die biblische Geschichte vom Verlassen des Paradieses, mit der sich der Mensch in allegorischer Form seine Besonderheit gegenüber anderen Lebewesen zu erklären versuchte, handelt nicht von Paradiesbewohner/innen, die sich damit begnügten, larmoyant über das einschränkende Gebot der obersten Machtinstanz zu jammern. Die Schlange - Verführer/in zum Zweifel am Status quo und dazu, nicht einfach zu gehorchen, sondern Dinge kritisch zu hinterfragen - argumentierte gegen das Verbot des Essens vom Baum der Erkenntnis zwar intellektuell, vollzogen wurde der emanzipatorische Schritt aber erst mit der widerständigen Tat.

Und das, wozu die Schlange die Menschen animierte, hat durchaus die Dimensionen dessen überschritten, was im Horizont der paradiesischen Bedingungen als vernünftig gelten musste. Die Selbstermächtigung des Menschen zum autonomen und selbstverantwortlichen Lebewesen - symbolisiert durch die Tat, mit der er sich aus dem Getto des Paradieses herauskatapultierte - beruhte auf seiner durch kritische Reflexion genährten Sehnsucht nach dem uneingeschränkten Leben und der Fähigkeit, den Status quo durch bewusstes Handeln überwinden zu können. Dass die Paradiesgeschichte üblicherweise negativ - als "Vertreibung" aus dem Paradies und als "Sündenfall" - interpretiert wird, ist wohl kein Zufall. Der hier beschriebene dramatische Schritt des Verlassens der umhegten Sphäre war aber die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass sich der Mensch auf den Weg machen konnte, ganz Mensch zu werden - es gibt keine Freiheit, ohne sich selbst aufs Spiel zu setzen!

"Bildung als Praxis der Freiheit" (Paulo Freire) ist Synonym für den immer wieder neuen Ausbruch aus dem Paradies der Unmündigkeit auf der Basis der den Menschen kennzeichnenden Sehnsucht nach Selbstbestimmung. Sie stellt das niemals endende und in seinen Folgen auch niemals völlig abschätzbare Bemühen dar, jedwede Form von Herrschaft zu überwinden. Ein derartiges Bildungsverständnis "bestreitet, dass der Mensch abstrakt, isoliert, unabhängig und unverbunden mit der Welt existiert" (Freire, 1973, 66), er kann sich ihr somit ohne praktisch-konkrete Schritte zur Veränderung auch nicht kritisch im tatsächlichen Sinn gegenüberstellen. Wenn (menschliches) Bewusstsein und Welt als Korrelate und nicht als unabhängig voneinander existierende Größen begriffen werden, ist offensichtlich, dass ein Entkoppeln von Reflexion und Aktion dem Aufrechterhalten des Status quo in die Hände spielt und somit zwingend reaktionär ist. An Emanzipation orientierte Bildung ist demgemäß als bloß theoretische Kritik von Macht und Herrschaft nicht möglich, sie impliziert stets auch die Aktion - den praktischen Widerstand. Das um die Aktion kastrierte, den misslungenen bürgerlichen Revolutionen entwachsene Zerrbild von Bildung ist allerdings nicht bloß Reduktion, es dient dem Aufrechterhalten der herrschenden Verhältnisse und stellt somit letztendlich die Negation jeder tatsächlichen Selbstbefreiung dar!


Anmerkung

(*) Aus einem Liedtext von André Heller

Literatur

Adorno, Theodor W.: Theorie der Halbbildung (1959). In ders.: Gesammelte Schriften Band 8. Soziologische Schriften I, S. 93-121

Foerster, Manfred J.: Bildungsbürger, nationaler Mythos und Untertan. Betrachtungen zur Kultur des Bürgertums. Shaker Media, Aachen 2009.

Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, dt. von Walter Seiter, Merve, Berlin 1978.

Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. Rowohlt TB-Verlag, Reinbek bei Hamburg 1973.

Gamm, Hans-Jochen: Allgemeine Pädagogik. Die Grundlagen von Erziehung und Bildung in der bürgerlichen Gesellschaft. Rowohlt TB-Verlag, Reinbek bei Hamburg 1979.

Gegenstandpunkt, Online-Version, GegenStandpunkt Verlag 2004, http://www.gegenstandpunkt.com/mszarx/phil/kant/aufklar.htm (22.7.2010)

Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil, Diogenes Taschenbuch 20439.

Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Biester, Johann Erich/ Gedike, Friedrich (Hg.): Berlinische Monatsschrift. 1784. Zwölftes Stück, Dezember (http://de.wikisource.org/wiki/Beantwortung_der_Frage:_Was_ist_Aufklärung).

Kant, Immanuel: Werke in zwölf Bänden. Band 11, Frankfurt a.M. 1977.

Ribolits, Erich: Bildung ohne Wert. Wider die Humankapitalisierung des Menschen. Löcker, Wien 2009.

Röttgers, Kurt: Kritik und Praxis. Zur Geschichte des Kritikbegriffs von Kant bis Marx. De Gruyter, Berlin/New York 1975.

Raute

Rückkopplungen

Verstummen

von Roger Behrens

Schon einmal war ich da, das war vor einigen Jahren im Frühjahr. Die Bäume waren noch nicht sehr grün, weshalb man von hier aus am gegenüberliegenden Ufer das Autobahnviadukt sehen konnte. Der Verkehr war als das Rauschen von Motoren zu hören und mischte sieh mit dem Zwitschern der Vögel. Wie damals ein kleiner Spaziergang von Klagenfurt aus. Diesmal war Sommer. Und wieder stand ich hier, vor dem Komponierhäuschen von Gustav Mahler, mitten im Wald, mit Blick auf den Wörther See. Freundlicherweise hat mich die Aufsicht hereingelassen, ohne dass ich Eintritt zahlen musste. Die Aufsicht: ein junger Mann, der im buchstäblichen Sinne sympathisch wirkte, nämlich als echter Fan sich bereit erklärt zu haben schien, alles Leiden, was an der Person und Kunst Mahlers haftet, noch einmal auf sich zu nehmen. Ihm fehlte ein Arm, er wirkte abwesend, ist eher irgendwo bei Mahler, über dessen Leben, Werk und Wirken er mitfühlend erzählt. Mahler hatte hier einige Symphonien fertiggestellt. "Und die Kindertotenlieder", fügt der Mann mit trauriger Stimme hinzu, "Mahler sind ja damals schreckliche Dinge passiert".

Das Häuschen wurde nicht als Arbeitsraum wieder hergestellt, sondern als Ausstellungsraum: Keine Möbel, mit denen Mahler da gehaust haben mag, keine Utensilien, keine Instrumente oder dergleichen. Die Ausstellung besteht mithin aus Informationstafeln, Collagen von Fotos, Programmzetteln, alten Zeitungsberichten und Reproduktionen von Cover-Artworks berühmter Schallplattenaufnahmen. Alles ist ein bisschen auf alt gemacht, die Bildtafeln sind in Holz gerahmt, die Flächen mit beige-braunen Leinen bespannt. Gleichwohl gibt es hier auch die dem einfühlsamen Kult angemessene Technik: Eine HiFi-Anlage beschallt den Raum. Mit seinem einzigen Arm schob der junge Mann - anscheinend nur für mich, denn ich war der einzige im Häuschen - die Fünfte in den CD-Spieler. Er spielt einen Auszug aus dem ersten Satz, springt dann zum vierten Satz: Adagietto - Visconti hatte es für seine Verfilmung von Thomas Manns "Der Tod in Venedig" verwendet und damit berühmt gemacht.

Um Neunzehnhundert zeichnet sich drastisch ab, dass die bürgerliche Gesellschaft mit dem idiotischen Vorhaben, ihr humanistisches Ideal als fortschreitenden Kapitalismus zu realisieren, gescheitert ist. Zugleich aber passiert auch der Aufbruch der Moderne, die alltäglichen Errungenschaften der sich etablierenden Konsumgesellschaft, die Mode und die Warenwelt als Lebensweise verändern den Alltag der Menschen. Dies ist die Ambivalenz der Moderne, von der Mahlers Musik wie keine andere Zeugnis gibt.

Gustav Mahler, 1860 in Böhmen geboren, 1911 in Wien gestorben, war zwar kein Avantgardist - ohnehin schlägt die Musik erst später ihren radikal-avantgardistischen Weg ein (nämlich dort, wo sie auf den Film stößt, sich auf den Rundfunk und den Sound der Straße einlässt ...) -, er war aber doch musikalischer Wegbereiter, von der ersten Symphonie, uraufgeführt 1889, bis zur unvollendeten 10. Symphonie. Das Komponierhäuschen am Wörther See diente Mahler als Refugium von 1901 bis 1907. Hier komponierte er die 5., 6. und 7. Symphonie, schließlich die 8., die u.a. wegen der drei Chöre, fünfzig Streicher, vierzig Bläser, Fernorchester, Orgel, Harmonium etc. die "Symphonie der Tausend" genannt wird. Sie beginnt bombastisch mit dem Pfingsthymnus "Veni, Creator Spiritus". Indes - der erste Satz der 5. Symphonie: ein Trauermarsch, "In gemessenem Schritt. Streng. Wie ein Kondukt."

Mahler ist in diesen Jahren, nach seiner Zeit als erster Kapellmeister am Stadttheater in Hamburg (1891 bis 1897), Hofoperndirektor in Wien. Bis 1907; im Juli dieses Jahres stirbt seine Tochter Maria Anna. Das Komponierstübchen am Wörther See, ebenso wie die dortige Villa an der Südufer Straße, wird Mahler nie wieder betreten. Im Dezember 1907 reist Mahler aus Wien ab, tritt seine Stelle als Leiter der New Yorker Philharmoniker an der Metropolitan Opera an. Mahler geht es gesundheitlich schlecht, diagnostiziert wird eine Herzkrankheit. Auch psychisch ist einiges im Argen, vor allem die Liebe zu seiner Frau Alma. 1910 konsultiert Mahler in Leiden den Psychoanalytiker Sigmund Freud; an Alma telegrafiert er danach: "Aus Strohalm Balken geworden." Freud selbst erinnert sich später an diese immerhin nur einen Nachmittag dauernde Kurzanalyse: "Ich hatte Anlass, die geniale Verständnisfähigkeit des Mannes zu bewundern. Auf die symptomatische Fassade seiner Zwangsneurose fiel kein Licht. Es war wie wenn man einen einzigen, tiefen Schacht durch ein rätselhaftes Bauwerk graben würde."

Mahler notiert: "Man komponiert nicht, man wird komponiert." Die handschriftliche Bemerkung ist stark vergrößert auf Plexiglas gebracht, hängt wie ein Motto, ein Leitmotiv, oberhalb der Bilderrahmen, fast unter der Decke. "Komponieren" heißt wörtlich "zusammensetzen". Die Musik setzt den Menschen zusammen, ja sie erscheint als Rettungsversuch, die hoffnungslos zerrissene Person zusammenzusetzen, die Bruchstücke zusammenzufügen, irgendwie also zusammenzuhalten, was beständig auseinander treibt: Das Ganze ist nur noch in Teilen zu haben, in Fragmenten das ist die Signatur der Romantik, die Mahler musikalisch in ihrer Spätphase definiert; der Übergang zur Zweiten Wiener Schule, zur Atonalität und schließlich Zwölftonmusik kündigt sich hier an. Doch nicht nur der Komponist, also Mahler, wird durch diese Musik komponiert, sondern schließlich auch der Hörer. Und wo solche monumentalen Kompositionen wie die Mahlers nicht mehr gelingen können, bleibt das Zusammengesetzte irgendwie unfertig, das komponierte Subjekt unvollständig.

Mithin hört das unvollständige Subjekt auch unvollständig. So scheint schließlich heute Mahlers Musik selbst unvollkommen, bruchstückhaft, fragmentarisch - nicht nur wegen der tatsächlich unvollendeten 10. Symphonie, die Mahler in Skizzen entwirft: "Erbarmen: O Gott, warum hast du mich verlassen" oder "Vernichte mich, dass ich vergesse, dass ich bin!". Die Musik scheint ohnehin unvollständig, gerade am Wörther See, an diesem eigentlich sehr trostlosen, vom Glück verlassenen Ort. Ich stehe vielleicht zehn, fünfzehn Meter vom Komponierhäuschen entfernt, höre den Tieren zu. Auch draußen hängen Boxen, und ab und zu gibt es ein paar Fetzen, noch immer aus dem Adagietto der Fünften. Und dann wird es ruhig, und plötzlich klar, dass in vielen Momenten die großen, dynamischen Werke, die monumentalen, klanggewaltigen Symphonien Mahlers die leiseste Musik der Welt sind, nämlich das Verstummen ankündigen, nicht nur einer Epoche, sondern aller Zeiten.

Raute

"lasst euch nicht erwischen"

Zum Tod des Aramis (1950-2010)

von Franz Schandl

"die gestundete zeit ist abgelaufen. die schmerzen sind zu groß geworden. ich mache ein klassische ende". - Dass es so kommt, hat man wissen können, wenn man ihn kannte, das es so schnell kommt und dass es jetzt kommt, davon ahnte ich nichts. Ende September ist aramis in den Freitod gegangen.

Persönlich hatten wir uns ja erst 2007 kennen gelernt, und auch seitdem nur vier Mal getroffen, wenngleich wir doch nicht wenige Briefe gewechselt haben und vor allem viele Texte und Kataloge, Broschüren und Zeitschriften hin- und hergegangen sind. Zuletzt begegneten wir uns am 21. August im südsteirischen Pößnitz am Weingut der Menhards. Er schien guter Laune, vielleicht etwas überdreht. Aber was sagt das schon und was will ich mutmaßen, es waren nur einige Stunden und viele Leute, die Musik spielte und für intensivere Kontakte war keine Zeit.

Hand anlegen, das war seins. Es war aber keine Arbeit, die er verrichtete, sondern es war im wahrsten Sinne ein Werk, das er im Laufe der Jahre da schuf. Ein Gesamtwerk, ja ein Gesamtkunstwerk, das sich nicht einschränken lassen wollte: Dazu gehörten Bild und Text, Montage und Musik, Bühne und Schloss, Feld und Scheune, Wiese und Weg. Wer die "Pirsch" 2008 gesehen, nein besser: miterlebt hat, der konnte wissen und spüren, worum es ging. Um den Versuch einer befreienden Darstellung des Lebendigen in dessen Vielfalt.

Da war Wille und Stil, von der Kleidung bis zur Handschrift. Überall Sinnlichkeit. Überall Vitalität. Überall Radikalität. Seine Briefe selbst sind kleine Kunstwerke von hoher Achtsamkeit und großer Akribie. "ich gehöre nicht zu denen, die der ansicht sind, 'über geschmack könne man nicht streiten'", ließ er ausrichten.

Was war er eigentlich, dieser Hans Peter Sagmüller? Ein Maler? Ein Restaurator? Ein Gärtner? Ein Ofenbauer? Ein Museumsdirektor? Alles und nichts von dem. Schön ist es, wenn die Frage nach dem Was verunglückt, und sich die nach dem Wer aufdrängt? Also: Wer war aramis? Antworten darauf sind nicht ganz so leicht wie die Frage. Aber die ist richtig und wird uns auch weiter beschäftigen.

aramis hat also nicht nur ein Werk geschaffen, sondern ist selbst Bestandteil dieses Gesamtkunstwerkes gewesen. Er war nicht nur die Bilder, die Installationen, die Kataloge, die Briefe, die Öfen, die Gärten, das Museum. Dieses hat ihn jetzt ganz aufgenommen. Das Schloss atmet ihn. In allen Ritzen und Ecken hockt er. Seine Energie wird noch lange zu spüren sein. Er ist da, wo er gewesen. Das hier ist sein Anwesen. Wenn der Begriff "Anwesen" einen Sinn macht, dann da, wo aramis sich wirklich wesentlich hinterlassen hat.

Das Kunstwerk ist vom Lebenswerk und der Künstler nicht vom Menschen zu trennen. Das stimmt zwar auch im Allgemeinen, aber auf aramis bezogen, stimmt es im ganz Besonderen. Und das Werk selbst wird sich als Schatz erweisen. Nicht nur als Kunstschatz, sondern als Lebensschatz. "Jede Wiedergabe, Vervielfältigung und Verbreitung unserer Publikationen ist im Sinne der Bereicherung des allgemeinen geistigen Lebens erwünscht. Es gibt kein geistiges Eigentum. Es sei denn, als Diebstahl. Der Geist weht, wo er will. Jede Geschäftemacherei ist dabei auszuschließen. Wir danken den Toten und den Lebendigen für ihre Zuarbeit und arbeiten andrerseits nach Kräften zu." Sagt aramis. Sage ich auch.

aramis war ein aufmerksamer aber ganz eigener Mensch, empfindsam und emotional, er ließ sich von allerlei berühren und er berührte auch. Heftig! Seine Haltung war keine Zurückhaltung. Seine Sicht war nicht die Vorsicht. Mich hat er ganz einfach zu sich zitiert, sehr freundlich, aber doch auch sehr bestimmt. Er wollte jemanden kennen lernen, der so verrückt ist wie er selbst. Er wollte das und ich folgte. Ich denke, es hat uns beiden gut getan, vor allem hat der gegenseitige Zuspruch einiges an Freude bereitet.

aramis hat gelebt, nicht nur exisiert. "Ich bin" konnte da einer sagen, ohne dass dies eine Zumutung gewesen wäre. Individuen, die sind wir nicht, die müssen wir erst werden. Aber ein Stück weit sich vorwagen, wird man von allen verlangen dürfen. aramis hat sich weit vorgewagt, ja sein ganzes Leben bestand in diesem Wagnis, dieses sich selbst setzende Ich nicht nur zu propagieren, sondern auch zu praktizieren. Das ist oft schmerzhaft, auch für die anderen. Aber ohne diese Versuche sind wir Konfektionsware, abgeschmacktes Elend. Nicht nur elendig, sondern elendiglich.

Ich habe kaum jemanden in meinem Leben getroffen, dem ich ein stärkeres Ego bescheinigen würde als dem Linder Schlossherrn. Das hatte viele Vorzüge, aber auch einige Nachteile. Zu starke Gewissheit trägt den Keim der Verlorenheit: "mit dem meisten will ich gar nichts mehr zu tun haben", schrieb er. So kam es schon vor, dass die Erbitterung über die Zustände umschlägt in eine Verbitterung gegenüber den Menschen. Die Erbitterung, die soll man teilen, die Verbitterung aber nicht. Hier bedroht und beschädigt sich die Ästhetik des Aufstands, der aramis sich leidenschaftlich hingegeben hat, auch immer selbst. aramis war sein Leben lang ein Aufständischer, nicht bloß ein Aufsässiger, einer, der wie alle wirklichen Aufständischen darunter leidet, dass es ihrer so wenige gibt. "mich werden sie nicht fangen", behauptet er im Oktober 2008, "lasst euch nicht erwischen".

Hand anlegen, das war seins. Er legte jedenfalls überall Hand an, auch an sich. Auf den Tod hat er nicht gewartet, er ist auf ihn zugegangen: "Hier bin ich, aramis."


Erweiterte Fassung einer Trauerrede, die der Autor am 9. Oktober 2010 auf Schloss Lind gehalten hat.

Weitere Details siehe: www.schlosslind.at

Raute

Hegemon China?

von Thomas Konicz

Wohl noch nie in der Geschichte des kapitalistischen Weltsystems konnte eine derartig stürmische Umwälzung eines Landes oder einer Region beobachtet werden, wie sie derzeit China erschüttert. Im Folgenden wird ein theoretischer Bezugsrahmen skizziert, der uns in die Lage versetzen soll, den Charakter und die Tendenz des stürmischen Auf- und Umbruchs der Volksrepublik China zu erfassen. In Anlehnung an Theoreme und Diskussionsbeiträge aus dem Umfeld der Weltsystemtheorie wird argumentiert, dass die Modernisierungsdynamik in China letztendlich auf einen epochalen Umbruch zustrebt, der nur als Widerspruch begriffen werden kann: Das Reich der Mitte ist dabei, die Vereinigten Staaten als die globale kapitalistische Hegemonialmacht abzulösen. Doch zugleich ist dieser Umbruch im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise nicht mehr möglich.

Die Weltsystemtheorie begreift den globalen Kapitalismus nicht als ein geschichtsloses Kontinuum, sondern als Resultat eines konkreten sich wandelnden geschichtlichen Expansionsprozesses. Er entwickelt sich demnach im Zuge der europäischen Expansion seit dem 15. Jahrhundert, in deren Verlauf nach und nach alle Regionen in das entstehende System eingegliedert werden. Zugleich formt sich auch die die Welt prägende globale Machtstruktur aus: Sie besteht aus einem hoch entwickelten Zentrum, aus einer Art entwickelter, halbabhängiger Semiperipherie und aus der abhängigen und unterentwickelten Peripherie. Seit seiner Entstehung ist die bürgerliche Gesellschaft durch einen Mehrwertabfluss von der Peripherie ins Zentrum und hier insbesondere zu den Hegemonialmächten charakterisiert.

Die Expansion verläuft in Hegemonialzyklen: eine Macht erringt eine dominierende Stellung innerhalb des Systems, nach einer gewissen Dominanzperiode geht diese Macht in den imperialen Abstieg über und schließlich wird sie von einem neuen Hegemon abgelöst. Giovanni Arrighi identifizierte vier Hegemonialzyklen: "Einen genuesisch-iberischen Zyklus, der die Spanne vom 15. bis ins frühe 17. Jahrhundert abdeckte; einen holländischen Zyklus vom späten 16. bis ins späte 18. Jahrhundert; einen britischen Zyklus von der Mitte des 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert und einen US-amerikanischen Zyklus vom späten 19. Jahrhundert bis zur letzten finanziellen Expansion." (Arrighi Giovanni, Adam Smith in Beijing, S. 292)


Territoriale Progression

Auffällig ist die "Progression" der Hegemonialmächte, die mit der globalen Expansion des kapitalistischen Weltsystems einhergeht. Sie verläuft von den italienischen Stadtstaaten mit "ihrer kosmopolitischen Geschäftsdiaspora" über den niederländischen "Protonationalstaat (die Vereinigten Provinzen) und ihren amtlich zugelassenen Aktiengesellschaften zu einem multinationalen Staat (Großbritannien) und seinem den Globus umspannenden tributpflichtigen Empire bis hin zu einem Nationalstaat von Kontinentalgröße (den USA) und seinem weltumspannenden System transnationaler Konzerne" und Militärstützpunkte. (op.cit., S. 297)

Ein jeder Hegemonialzyklus hat nach Arrighi zwei Phasen: Zuerst findet eine Phase des imperialen Aufstiegs statt, die durch eine "materielle Expansion", also durch die Dominanz des Handels oder der warenproduzierenden Industrie der neuen Hegemonialmacht geprägt ist. Nach dem Ausbruch einer - durch Überakkumulationsprozesse ausgelösten - ökonomischen "Signalkrise" setzt die Phase des imperialen Abstiegs ein, die mit einer finanziellen Expansion und der Dominanz der Finanzindustrie einhergeht und dem absteigenden Hegemon nochmals eine letzte ökonomische und imperiale Blütezeit beschert.

Schließlich gibt es eine Niedergangsphase, in der der alte Hegemon von der kommenden, aufsteigenden Hegemonialmacht abgelöst wird. Diese Progression von Hegemonialmächten ist laut Arrighi ein direktes Resultat der Expansion des kapitalistischen Weltsystems, da diese immer mehr Ressourcen zur Aufrechterhaltung ihrer Hegemonialposition mobilisieren müssten. Der Wechsel zwischen zwei Hegemonialzyklen gehe deswegen oftmals mit einer Verschuldung der absteigenden Hegemonialmacht bei dem aufsteigenden Hegemon einher, wie Arrighi am Beispiel der zunehmenden ökonomischen Abhängigkeit Großbritanniens von den USA während des Ersten Weltkrieges darlegt. Großbritannien bildete ein riesiges Handelsdefizit gegenüber den USA aus, "die Munition und Nahrungsmittel im Wert von Milliarden von Dollar an die Alliierten lieferten, aber wenige Güter dafür erhielten." Ähnlich agierte übrigens auch Großbritannien in seiner Rolle als "Bankier" der Antinapoleonischen Koalition rund hundert Jahre zuvor.

Maßgeblich angetrieben wird diese Abfolge von Hegemonialzyklen durch den Prozess der Kapitalakkumulation. Arrighi verwendet deshalb den Begriff der "systemischen Zyklen der Akkumulation". Die materielle Expansion ist durch ein hohes Wachstum und hohe Profitraten im Handel und der Produktion gekennzeichnet, wodurch die Profite "mehr oder weniger routinemäßig in die weitere Expansion reinvestiert" würden. Den Übergang von der materiellen zur finanziellen Phase der Expansion einer Hegemonialmacht markiert die besagte "Signalkrise", die durch Überakkumulationsprozesse ausgelöst werde: "Im Laufe der Zeit jedoch führt die Investition einer stetig anwachsenden Masse von Profiten in Handel und Produktion zu einer Kapitalakkumulation weit über das hinaus, was in den An- und Verkauf von Waren reinvestiert werden kann, ohne die Gewinnspannen drastisch zu verringern." Das Kapital fließt in den Finanzsektor, es findet eine krisenhafte, spekulationsgetriebene Akkumulation von überschüssigem Kapital in "liquider Form" in der Finanzsphäre statt. (op.cit., S. 292ff.) Die Hegemonialmacht, die zuvor als "Werkstatt der Welt" ihre dominante Stellung erlangt, verwandelt sich in den "Finanzplatz der Welt". Es ist nicht zuletzt die globale Investitionstätigkeit des Weltfinanzzentrums der im Abstieg befindlichen jeweiligen Hegemonialmacht, die als ökonomische Initialzündung fungiert und die Phase der "materiellen Expansion" des aufsteigenden Hegemons auslöst.


Das Kapital als prozessierender Widerspruch

Welche Ursachen lösen diese systemischen Überakkumulationskrisen aus? Die Abfolge von Hegemonialmächten geht auch mit einem Wechsel des Akkumulationsregimes - also der dominierenden Sektoren innerhalb der Ökonomie - des Kapitalismus einher. Bei der kapitalistischen "Keimform" des genuesisch-iberischen Zyklus handelte es sich um ein "transnationales Handels- und Finanznetzwerk" von "Diaspora Kapitalisten", das Arrighi zufolge sich darauf beschränkte, die "kriegerischen und staatsbildenden Aktivitäten" der iberischen Herrscher "geschäftlich und finanziell zu ermöglichen". Der holländische Zyklus ist von der Dominanz des Handelskapitals geprägt. Mit dem Aufstieg Großbritanniens ging die industrielle Revolution einher: "Während der holländische Umschlagplatz tatsächlich einer des Handels war, war der britische Umschlagplatz auch ein Industrieller, die Werkstatt der Welt." Die USA erlebten im Gefolge des gesamtgesellschaftlichen Durchbruchs von Fordismus und Taylorsystem ihren imperialen Aufstieg. Technologische Durchbrüche mannigfaltiger Art und eine durch die gesamtgesellschaftliche Anwendung des Taylorsystems rasch ansteigende Produktivität wie auch Massenkaufkraft traten in Wechselwirkung.

Um diesen Wandel von Hegemonialmächten und Akkumulationsregimes zu verstehen, hilft vielleicht die Bestimmung des Kapitalverhältnisses als eines "prozessierenden Widerspruchs" wie sie von Marx geprägt wurde. Da gibt es einerseits den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit: Das Kapital ist bekanntlich in der Produktion beständig bestrebt, die Kosten der Ware Arbeitskraft zu senken, obwohl gerade hierdurch gesamtgesellschaftlich seine Möglichkeiten zur Realisierung des erzeugten Mehrwerts auf dem Markt durch Kaufkraftverluste verringert werden. Ein weiterer fundamentaler, aus der permanenten konkurrenzvermittelten Steigerung der Produktivität resultierender Widerspruch trägt hingegen zu einer latenten Instabilität des Gesamtsystems bei. Durch Produktivitätssteigerungen können einzelne Kapitalisten in einem Industriezweig Konkurrenzvorteile (Extraprofite) erzielen, bis diese neuen Produktionstechniken verallgemeinert werden. Hiernach beginnt das Spielchen von vorne - wieder finden Innovationen bei einzelnen Unternehmen statt, die später nachgeahmt werden und zu allgemeinen Produktivitätssteigerungen führen. Hieraus resultiert eine beständig steigende Produktivität und die Abnahme der notwendigen Arbeitskräfte in einem gegebenen Industriezweig. Je länger ein solcher Industriezweig (zum Beispiel Textilindustrie oder Schwerindustrie) besteht, desto stärker wandelt sich seine Reproduktionsstruktur von einer arbeitsintensiven zu einer kapitalintensiven Produktion.

Dieser Widerspruch kann nur im "Prozessieren", in einer permanenten Expansionsbewegung aufrechterhalten werden, die bislang in drei Dimensionen vonstatten ging. Zum einen ist die "periphere" oder "äußere Expansion" des kapitalistischen Weltsystems zu nennen, die in der Eingliederung peripherer Regionen in den Weltmarkt zwecks Kapitalexport und Rohstoffimport durch imperiale Mächte bestand. Hinzu kommt die "technologische Expansion", da der technologische Fortschritt - der in den bestehenden Industriezweigen zu Rationalisierung führt - auch zur Herausbildung neuer Wirtschaftszweige beiträgt, die wiederum Arbeitskräfte verwerten und Felder zur Kapitalverwertung eröffnen. Daneben bestehen noch Möglichkeiten der "inneren Expansion", bei der neue Gesellschaftsfelder der Kapitalverwertung erschlossen werden (Kulturindustrie, Tourismus, Massenkonsum). Die von Arrighi diagnostizierten Signalkrisen treten nur dann ein, wenn diese mehrdimensionale Expansionsbewegung nicht mehr ohne weiteres möglich ist. Sobald der Kapitalverwertung keine neuen Felder der Expansion zur Verfügung stehen, verlagert sie sich in die Sphäre der Finanzmärkte. Dies ist seit den 70er Jahren in allen avancierten Ländern des kapitalistischen Zentrums - insbesondere beim Hegemon USA - der Fall.


China künftiger Hegemon?

Aufgrund der obigen Ausführungen scheint tatsächlich nur noch China als ein künftiger Hegemon in Frage zu kommen. Die Parallelen zu früheren Hegemonialzyklen sind unübersehbar: Zum einen ist da die von Arrighi konstatierte Progression von Hegemonialmächten, bei der eigentlich nur noch das Reich der Mitte über potenziell höhere Ressourcen - vor allem in Bezug auf seinen Binnenmarkt - gebietet als die USA. Diese Tendenz zur Progression, zum beständigen Anwachsen der Hegemonialmacht in der Geschichte des kapitalistischen Weltsystems könnte man auch als eine weitere, vierte Form der Expansion deuten, mittels derer der "prozessierende Widerspruch" abgefedert wird, der dem Kapital innewohnt. Man könnte von einer "hegemonialen Expansion" sprechen, in deren Verlauf immer größere Territorien und auch Menschenmassen zur Aufrechterhaltung der Stellung einer Hegemonialmacht - wie auch der Kapitalakkumulation - notwendig sind.

Längst schon wird China im veröffentlichten Diskurs aufgrund seines - potenziell! - riesigen Binnenmarktes als die kommende Konjunkturlokomotive der Weltwirtschaft gehandelt. Dadurch würde das Reich der Mitte in die Rolle schlüpfen, die von den USA in den vergangenen Jahren eingenommen wurde. In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts gab es eine Signalkrise, die zu der "Finanzialisierung" der Wirtschaft der USA führte. Auf diese systemische Überakkumulationskrise, die aus der Erschöpfung des fordistischen Modells resultierte, folgte der Aufbau des Finanzsektors, der die USA (durch Defizitbildung) tatsächlich für eine gewisse Zeit zu einer Scheinblüte führte. Die Dominanz der Wallstreet ging mit einer schleichenden Deindustrialisierung weiter Teile der USA Hand in Hand. Es war nicht zuletzt amerikanisches Kapital, das China als Billiglohnstandort nutzte und somit wichtige Impulse zur Initiierung der Phase der "materiellen Expansion" der Volksrepublik zulieferte.

Der Aufstieg der chinesischen (Export-)Industrie und die (schuldenfinanzierte) Scheinblüte der USA, die durch die Dominanz des Finanzsektors ermöglicht wurde, bedingen sich gegenseitig. Das riesige Handelsdefizit der USA gegenüber China dokumentiert dies. Dieser Prozess wird auch von einer ausufernden Verschuldung des absteigenden Hegemons USA begleitet. Peking kaufte im enormen Umfang US-Staatsanleihen auf, wodurch de facto China den amerikanischen "Krieg gegen den Terror" mitfinanzierte. Auch hier sind die Parallelen zur ausartenden Verschuldung Großbritanniens in den Vereinigten Staaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts unübersehbar.

Die halsbrecherische Geschwindigkeit, mit der China wächst, ist größtenteils gerade dieser Krisensymbiose zwischen den USA und dem Reich der Mitte geschuldet. Das vor allem durch Investitionstätigkeit gesteigerte Wachstum Chinas ist nur deswegen möglich, weil der chinesische Staat zuvor ungeheure Devisenreserven aufgrund des Handelsüberschusses mit den USA akkumulieren konnte. Umgekehrt bedeutet dies auch: Diese enorme Geschwindigkeit der chinesischen Industrialisierung verweist auf die ungeheuren Dimensionen der systemischen Überproduktionskrise, die sich in den Zentren des kapitalistischen Systems aufgebaut hat - und nun in diesem wahnwitzigen chinesischen Wachstum ein Ventil gefunden hat. Das seit der "Finanzialisierung" des Kapitalismus in den 80ern in "liquide" Form übergangene Kapital fließt vermittels des ungebrochenen pazifischen Defizitkreislaufs nach China, wo es durch umfassende - zumeist staatliche - Investitionstätigkeit für den Aufbau einer für Akkumulationsprozesse erforderlichen Infrastruktur verwendet wird.


Automobilmachung Chinas?

Bemerkenswert ist in diesem Kontext aber vor allem das Fehlen eines neuen Akkumulationsregimes, auf das sich eine Hegemonialstellung der Volksrepublik stützen könnte. Neben dem Exportsektor, dessen Außenhandelsüberschüsse letztendlich zur enormen staatlichen Investitionstätigkeit in China beitragen, wird dessen wahnwitziges Wachstumstempo binnenwirtschaftlich vor allem durch den Ausbau der Automobilindustrie befördert. In der Tat gilt ein Großteil der Investitionstätigkeit in China auch dem Aufbau einer entsprechenden Verkehrsinfrastruktur, wie sie auch in den fünfziger und sechziger Jahren in den westlichen Industrienationen aus dem Boden gestampft wurde.

Das Wachstum des chinesischen Automobilsektors ist historisch wohl einmalig. 2009 steigerte China seine Produktion gegenüber dem Vorjahr um ca. 3,5 Millionen Einheiten auf 13,8 Millionen Kraftfahrzeuge. Damit ist die Volksrepublik mit weitem Abstand - vor Japan, den USA und Deutschland - der größte Fahrzeughersteller der Welt. In Japan wurden 2009 rund 7,9, in den USA 5,7 und in der BRD 5,2 Millionen Autos fabriziert. (Verzehnfachung in zehn Jahren). Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch, dass ein Großteil dieser Produkte in China bleibt, da im vergangenen Jahr nur knapp 370.000 in China gefertigte Autos exportiert wurden. Es findet eine "innere Expansion" kapitalistischer Verwertungsfelder auf dem chinesischen Binnenmarkt statt, die sich in denselben Bahnen bewegt, wie in den fünfzigerjahren in den USA, Japan und Westeuropa. Mit einem Unterschied: China ist mit 1,3 Milliarden Menschen der bevölkerungsreichste Staat der Welt. Die "Progression" zwischen der absteigenden Hegemonialmacht USA und dem potentiellen Nachfolger China besteht nicht in einer territorialen Vergrößerung, sondern gerade in diesem Mehr an "menschlichen Ressourcen", die dem Verwertungsprozess in fordistischer Tradition als Produzenten und Konsumenten fungieren könnten. Selbst bei dem in der Volksrepublik herrschenden, sehr niedrigen Anteil des privaten Konsums am Bruttoinlandsprodukt, der 2008 in etwa bei 33 Prozent lag (zum Vergleich: in der BRD sind es 55 Prozent in den USA sogar 70 Prozent), werden in China seit über einem Jahr pro Monat im Schnitt mehr als eine Million Kraftfahrzeuge abgesetzt.


Innere und äußere Schranken

Dennoch - oder gerade wegen der Dominanz des fordistischen Industrialisierungsregimes - wird China aller Voraussicht nach nicht mehr die Vereinigten Staaten als neue Hegemonialmacht beerben können. Der Weltsystemtheoretiker Minqi Li verweist in seinem Werk "The Rise of China and the Demise of the Capitalist World-Economy" auf die vielfähigen Hürden und auch Grenzen, auf die sowohl China als auch das kapitalistische Weltsystem derzeit stoßen. Zum einen würde der Aufstieg Chinas die hierarchische Aufteilung des Weltsystems in Zentrum, Semiperipherie und Peripherie sprengen, da dies zu einer massiven Verschiebung der Machtverhältnisse führen würde, die diese Dreiteilung der Welt im Endeffekt aufheben würden. Chinas Aufstieg würde einerseits einen massiven Nivellierungsprozess zulasten der Zentren auslösen und auch eine forcierte Verelendung der Peripherie mit sich bringen. China verfügt auch nicht über die militärischen Kapazitäten, um im Gefolge der Auseinandersetzungen als neuer Hegemon hervorgehen zu können, die aus solch einer fundamentalen Erschütterung des Weltsystems resultieren würden.

Der potenzielle riesige Binnenmarkt Chinas bringt auch fundamentale Nachteile mit sich, da im Reich der Mitte ein besonders ungünstiges Verhältnis zwischen natürlichen Ressourcen und der enormen Einwohnerzahl herrscht. China kann allein schon deswegen nicht in die Rolle der USA als globale Konjunkturlokomotive schlüpfen, weil der damit einhergehende Energie- und Rohstoffverbrauch an natürliche Grenzen stößt. Es ist schlicht nicht so viel fossile Energie verfügbar, wie notwendig wäre, damit auch Chinas Bevölkerung ein ähnliches Konsumniveau erreicht, wie es jahrzehntelang in den USA vorherrschte.

Die bisherige rasante Industrialisierung Chinas ist - wie ausgeführt - von einem exportfixierten Industriesektor und enormer staatlicher Investitionstätigkeit geprägt, die im Endeffekt eine "Produktion von Raum" (David Harvey) zur Optimierung künftiger Akkumulationsprozesse betreibt. Hier wirkte das chinesische Konjunkturprogramm, das mit einem Umfang von circa 750 Milliarden US-Dollar in etwa 14 Prozent des chinesischen BIP entsprach, als zusätzlicher Konjunkturtreibstoff. Dieser Industrialisierungsprozess verläuft aber im binnenwirtschaftlichen Kern - also jenseits der staatlichen Infrastrukturprojekte, die durch die Exportüberschüsse finanziert werden - entlang der besagten fordistischen Verlaufsformen, die vor allem von der "Automobilmachung der Gesellschaft" (Robert Kurz) im Westen getragen wurden. Dieses geschieht derzeit in China aber auf einem weitaus höheren allgemeinen Produktivitätsniveau, als es in den fünfziger Jahren in Europa, Japan oder den USA vorherrschte. Es resultiert eine zusätzliche Instabilität dieses Prozesses: Er ist gewissermaßen "prekär". Dieses hohe Produktivitätsniveau trägt zu einem regelrechten Wachstumszwang der chinesischen Industrialisierung bei. Selbst die Führung in Peking gibt die minimale jährliche Wachstumsrate mit ca. acht Prozent an - unterhalb dieser Marke drohen die bereits bestehenden sozialen Spannungen außer Kontrolle zu geraten. Was wird passieren, wenn die schuldenfinanzierte amerikanische Nachfrage endgültig wegbricht, die immer noch den chinesischen Exportsektor am Leben erhält? Die Außenhandelsüberschüsse Chinas, die 2009 merklich sanken, sind erneut im Steigen begriffen. Offensichtlich gewinnt der pazifische Defizitkreislauf gerade deshalb wieder an Dynamik, weil die stimulierenden Effekte des besagten chinesischen Konjunkturpakets langsam abflauen, dass bei Krisenausbruch von Peking aufgelegt wurde. Somit liegt die Vermutung nahe, dass selbst das chinesische "Wirtschaftswunder" auf eine defizitäre Finanzierung angewiesen ist - entweder geschieht dies über die Defizite der USA aus dem pazifischen Defizitkreislauf, oder über die Konjunkturprogramme Pekings.

Es ist absehbar, dass dieser halsbrecherische Industrialisierungsprozess aufgrund der systemischen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Widersprüche mittelfristig nicht aufrecht erhalten werden kann. Bei dem Übergang in einen chinesischen Hegemonialzyklus stößt das kapitalistische Weltsystem an seine systemischen und ökologischen Grenzen.

Raute

Immaterial World

Fight ACTA, Create Commons!

von Stefan Meretz

Waren müssen knapp sein, um verkauft zu werden. Sind sie es nicht, so werden sie künstlich knapp gemacht: Die Ernte wird vernichtet, die Haltbarkeit reduziert und das Nachmachen oder Kopieren verboten. Der Staat regelt, überwacht und unterbindet die Nutzung von Gütern, Fertigkeiten und Wissen in Form von Gesetzen. Aus Sicht des Kapitals sind diese Gesetze leider in den Ländern verschieden. Das erschwert die Verfolgung der sogenannten Produktpiraten und Raubkopierer.

Bislang wurden für die globale Vereinheitlichung der juridischen Verknappungsinstrumente gerne UN-Organisationen in Anspruch genommen. Die "Weltorganisation für geistiges Eigentum" (WIPO) dient dazu, entsprechende Urheberechtsverträge auszuhandeln, um die Ansprüche der Inhaber immaterieller Monopolrechte durchzusetzen. Diese sitzen meistens im Norden.

In UN-Organisationen gilt in der Regel das Prinzip "ein Land, eine Stimme". Mit dem zunehmenden Beitritt von Ländern aus dem globalen Süden konnten diese Länder Verschärfungen der WIPO-Verträge verhindern und ihre Interessen nach Schutz des traditionellen Wissens vor unerlaubter Aneignung (Stichwort "Biopiraterie") auf die Agenda setzen. Der Versuch der Nord-Länder, die Aufgabe in den Bereich des Freihandelssystems GATT zu verschieben, um dort das "Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums" (TRIPS) durchzusetzen, wurde von den Süd-Ländern ausgebremst.

Mit dem Handelsabkommen ACTA (Anti-Counterfeiting Trade Agreement) nehmen die Nord-Länder nun einen neuen Anlauf, ihre Ziele der Durchsetzung von Immaterialgüter-Monopolrechten zu erreichen. Um den Einfluss des Südens möglichst herauszuhalten, wurden die Verhandlungen geheim geführt. Die US-Regierung deklarierte sie gar zum Staatsgeheimnis. Insider "leakten" die entsprechenden Dokumente dennoch: Sie stellten die Entwürfe komplett ins Internet.

Mit ACTA soll die komplette Packung der sogenannten "geistigen Eigentumsrechte" völkerrechtlich verbindlich vereinbart werden. Die Liste ist lang: Urheberrecht, Patente, Markenrecht, Gebrauchs- und Geschmacksmuster, geografische Herkunftsbezeichungen ("Champagner") usw. Drei Punkte fielen schnell als besonders krass auf: Provider-Haftung, Three-Strikes-Methode und Umgehungsverbot.

Mit Provider-Haftung ist die Verpflichtung von Providern gemeint die Kund_innen - also alle Netznutzer_innen - auszuschnüffeln, ob sie den gemieteten Netzzugang für illegale Aktivitäten verwenden. Damit ist vor allem die Verbreitung von Musik und Filmen über Tauschbörsen gemeint. Die Provider sollen ihre Kunden mit der Three-Strikes-Methode selbst bestrafen. Nach drei Verstößen gegen das Urheberrecht wird der Netzzugang gesperrt. Das Umgehungsverbot zielt darauf ab, das Verbreiten von potenziell zum Knacken von Kopierschutz nutzbarer Software zu illegalisieren. Brisant ist hier, dass eine Verfolgung einsetzt, obwohl gar keine Urheberrechtsverletzung vorliegt.

Vor allem aufgrund des Drucks von außen durch NGOs und Proteste der Süd-Länder wurden zahlreiche "radikale" Verschärfungen wieder aus den ACTA-Entwürfen gestrichen. So wurde die Provider-Haftung entfernt, und auch von Three-Strikes ist nicht mehr die Rede. Doch über schwammige Soll-Bestimmungen befürchten Internetdienste-Anbieter, dass "private Internet-Cops" durch die Hintertür doch wieder eingeführt werden. Und auch wenn Three-Strikes nicht mehr erwähnt wird, sind monetäre Bedrohungen für "Urheberrechtsverletzer" durch leichter durchsetzbare "Schadenersatzansprüche" massiv gewachsen.

Auch liberale Urheberrechts-Befürworter sehen die "Balance" zwischen den Interessen der Verwerter "geistigen Eigentums" und den Interessen der Nutzer_innen massiv zu Gunsten der Eigentums-Lobby verschoben. Sie sind jedoch keinesfalls gegen die Verwertung von Kreativität, sie wollen sie nur durch einen breiten gesellschaftlichen Konsens abgesichert sehen. Auch die Süd-Länder sind nur insofern gegen verschärfte Regeln des "geistigen Eigentums", als sie weiterhin kostengünstig Generika (wirkstoffgleiche Medikamentenkopien) produzieren sowie Technologien und Medieninhalte nutzen wollen.

In dem Maße wie Aufsteiger-Länder wie China, Indien und Brasilien selbst neue Technologien entwickeln, steigt die Interessenkongruenz mit den Nord-Ländern. Darauf setzen auch die ACTA-Prozessdesigner. Sie wollen einen möglichst klaren "Schutz für geistiges Eigentum" festschreiben und fordern dann Entwicklungs- und Schwellenländer auf, sich dem Abkommen anzuschließen. Wirtschaftliche Daumenschrauben des Nordens sollen dann die Beitrittslust befördern.

Dieses Spiel konkurrenter Partialinteressen geht am Ende zu Lasten der Menschen in allen Ländern, gleichwohl in unterschiedlicher Schärfe. Während unbedarfte Käufer eines Mobilspielzeugs, das Plagiat-Chips enthält, sich plötzlich Schadenersatzforderungen gegenüber sehen, kann die Verteuerung von Medikamenten aufgrund der erzwungenen Schließung einer Generika-Fabrik im Süden ein Todesurteil für viele Menschen bedeuten.

Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es? Zunächst gibt es noch Chancen den ACTA-Prozess zu blockieren (vgl. stopacta.info). Sollten die ACTA-Verhandlungen abgeschlossen sein, so ist eine wichtige nächste Hürde die Ratifizierung in den Vertragsländern bzw. insgesamt in der EU. Hier hat das EU-Parlament die Möglichkeit, die Zustimmung zu verweigern. Druck auf Abgeordnete könnte verbreitete Vorbehalte in eine Ablehnung verwandeln. Vorbild dafür ist die Zurückweisung von Software-Patenten im Jahr 2005.

Doch eine Blockade ist nur eine Verzögerung. In der kapitalistischen Logik muss die Verwarenformung von immer mehr Lebensbereichen voranschreiten. Die auch in der kritischen Öffentlichkeit weitgehend akzeptierte Ideologie des "geistigen Eigentums" ist die Grundlage dafür. Sie muss dechiffriert werden als das, was sie ist: die künstliche Verknappung reichlich vorhandener Ergebnisse menschlicher Lebenstätigkeit.

Jede Entwarenformung bedeutet für Einzelne jedoch immer auch einen monetären Einkommensverlust. Dieser kann nur aufgefangen werden, wenn es uns gelingt, solidarische Commons-Strukturen aufzubauen, die für die Beteiligten die Notwendigkeit reduziert, monetäre Einkünfte zu erzielen. Entwarenformung und Commons-Aufbau müssen Hand in Hand gehen.

Raute

Zur politischen Ökonomie von Kopie und Kopierschutz - Teil 1

von Stefan Meretz

Warum gibt es einen Kopierschutz? Was schützt er vor wem? Schlichte Fragen, deren spontane Antworten auf die vorherrschende Denkform in der Warengesellschaft verweisen: Das "geistige Eigentum" müsse nun einmal vor Diebstahl geschützt werden, denn ein jeder schließe auch seine Haustür ab, damit der Fernseher nicht weggetragen werde.

Mal abgesehen davon, dass das uns so vertraute Haustürabschließen keineswegs weltweit die Regel ist, ist auch die Analogie zur stofflichen Welt unangemessen. Sie ist willkürlich erzeugt, sie ist ideologische Form. Die digitale Kopie tastet das Original nicht an, sie nimmt nichts weg, sondern fügt der Welt höchstens etwas hinzu. In vielen asiatischen Gesellschaften ist gar die Kopie etwas Edles, Anzustrebendes. Der Kopist ahmt den Meister nach, will die Nachahmung, die Kopie, perfektionieren, will den Meister überbieten, um selbst Meister zu werden. Hierin steckt ein Verständnis der Kumulation menschlichen Wissens, das westlichen Gesellschaften abgeht. Umgekehrt ist die "westliche" ideologische Form der "Raubkopie" in vielen asiatischen Ländern schlicht nicht verständlich. Aber auch hierzulande kann das Alltagsbewusstsein der "Generation Handy" nur noch schwer nachvollziehen, wem denn etwas verlustig geht, wenn eine digitale Kopie zum persönlichen Vergnügen erstellt wird - wovon auch immer.

Lässt sich das, was in den Denkformen brüchig wird und anderswo sich noch nicht vollständig durchgesetzt hat, die Ideologie des "geistigen Eigentums", der "Raubkopie" und mithin des "Kopierschutzes", auch auf die politisch-ökonomische Verfasstheit der bürgerlichen Gesellschaft zurückführen?

Eine zunächst erforderliche inhaltliche Bestimmung dessen, was Kopie genannt werden kann, wird aus der begrifflichen historisch-logischen Rekonstruktion ihrer Genese im Kapitalismus gewonnen. Es geht dabei nicht um eine Geschichtserzählung, sondern um die begriffliche Abbildung des logischen Nacheinanders von notwendigen Entwicklungsschritten. Die Rekonstruktion ist mithin auch nicht zu verwechseln mit der Geschichte der Rechenmaschine. Danach werden die gewonnenen Begriffe der Kopie auf ihre ökonomische Form hin untersucht, womit wir dann in der Lage sind, Begriff und Bedeutung des Kopierschutzes aufzuklären.

Beginnen wir also mit der Kopie. Was ist eine Kopie? Die Kopie ist Ergebnis einer Reproduktion, einer Realisation eines Vorgestellten oder dem Nachmachen eines bereits Hergestellten. Im Englischen wird das auch sprachlich deutlich: "copy" als Substantiv bedeutet nicht nur "Duplikat", sondern auch "Exemplar".

Begriffliche Abgrenzungen sind erforderlich. War bisher von der digitalen Kopie die Rede, so soll nun der Blick geweitet und die Formen der physischen und analogen sowie digitalen Reproduktion unterschieden werden. Dabei ist jeweils die Seite des Produkts und des Produktionsprozesses zu betrachten.


Die physische Kopie

Das Nachmachen oder Nachahmen eines stofflichen Produkts gilt als Plagiat, wenn die fremde Urheberschaft nicht offenbart, sondern als die eigene vorgeführt wird, und es gilt als Fälschung, wenn eine mit dem Hersteller des Nachgemachten identische Urheberschaft behauptet wird, die Kopie sich also als Original ausgibt. Das Nachgemachte entspricht jedoch nie vollständig dem Ausgangsgegenstand, Original und Kopie weisen stets nicht nivellierbare stoffliche Differenzen auf. Es wird mithin nicht die Sache selbst reproduziert, sondern vor allem die Idee, indem das Nachgemachte in seiner Physis möglichst dem Original angenähert wird.

Das Nachmachen setzt Wissen um den Herstellprozess voraus, das beim Kopisten vorhanden sein muss, da sonst die Kopie nicht gelingt. Die Kopie ist mithin stets als Prozess und Resultat zu begreifen. Auf der Seite des Prozesses geht es um das Produktionswissen und auf der Seite des Resultates um den Produktzweck.

Plagiat und Fälschung wurden schon historisch früh geächtet, während die offenbarte Kopie als das Nachmachen ohne falsche Urheberschaftsbehauptung erst mit dem Aufkommen der Warengesellschaft delegitimiert wurde. Was als akzeptable und verwerfliche Kopie gilt, ist Resultat gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und nicht substanziell zu begründen. Heute sind etwa Nachahmerprodukte zulässig, wenn sie viele Eigenschaften eines "Originals" repräsentieren, nicht jedoch alle.

Historisch fällt die unmittelbar physische Kopie sowohl in die Phase der vorkapitalistischen, handwerklichen Reproduktion von Artefakten wie in die der Manufaktur-Produktion im beginnenden Kapitalismus. Der intendierte Zweck des Produkts - wofür es da sein soll - ist hier noch vollständig als Produktionswissen auf Seiten der tätigen Personen konzentriert. Die Manufaktur unterscheidet sich von der handwerklichen Produktion durch die formale Unterordnung der Arbeit unter ein Kapital, das sich die Waren und damit den Mehrwert aneignet, während der Handwerker über seine Arbeit noch selbst bestimmt und sein Produkt selbst verwertet.

Die gesellschaftliche Bedeutung wird als realisierter Zweck im Produkt vergegenständlicht, das Produktionswissen bleibt als intendierter Zweck hingegen flüchtig, da es außer in symbolischen Repräsentanzen - Entwürfe, Pläne, Modelle - fast keine stofflichen Fixierungen erfährt. Das verändert sich fundamental mit der industriellen Revolution. Die Kopien als Ergebnisse des ungenauen manuellen Reproduktionsprozesses besitzen eine so unterschiedliche individuelle physische Qualität, dass sie als Unikate anzusehen sind. Unmittelbar physisches Kopieren führt also auch in dieser Hinsicht stets zu individuellen Produkten, gleichsam stofflichen Originalen. Allein der Zweck wird mit jeder neuen Realisation vervielfältigt.


Kopie und Kopierschutz im Medium des Stofflichen

Die handwerkliche Kopie als wiederholtes Herstellen des gleichen Produkts war implizit dadurch begrenzt, dass der Handwerker Wissen über den Herstellprozess besaß, das dem fertigen Produkt nicht ohne weiteres anzusehen war. Dieser mehr oder minder große Wissensvorsprung konnte durch andere manuelle Kopisten jedoch aufgeholt werden. Zünfte, Gilden und herrschaftlich vergebene Privilegien fungierten hier als "Kopierschutz".

In dem Maße, wie mit der industriellen Revolution Werkzeuge und Prozesswissen "in" die Maschinerie transferiert wurden, wuchs die Bedeutung des vergegenständlichten Wissens. Die manuelle Produktkopie konnte mit dem industriell gefertigten Produkt nicht mehr konkurrieren, da ihre Herstellung zu aufwändig war. Das Kopisten-Interesse richtete sich nun auf die (Kopier-)Maschinerie selbst. Diese wiederum, d.h. ihre Bau- und Funktionsweise, musste geheim gehalten werden, da sie in gegenständlicher Form einen wesentlichen Teil des Kopierwissens repräsentierte. Oft waren es die Kopisten des maschinell verkörperten Kopierwissens, die als "late adaptors" Fehler in der ursprünglichen Maschinerie vermeiden und diese verbessert kopieren konnten. Experten auf diesem Gebiet waren etwa deutsche Firmen, die den technologischen Vorsprung englischer Produzenten aufholen und schließlich überflügeln konnten bis sie selbst ihren Vorsprung mit staatlicher Hilfe gegen andere Kopierbegehren zu sichern wussten. Zentrales Mittel war das Patent, die staatlich abgesicherte befristete Monopolgarantie der Verwertung.

Ökonomisch erweisen sich die stofflichen Massenkopien als ganz normale Waren. In getrennter Privatproduktion hergestellt, werden sie auf dem Markt gegen Geld getauscht und erlangen auf diese Weise gesellschaftliche Geltung und Allgemeinheit. Der Markt fungiert als Indirektion, der die Privatarbeiten miteinander vermittelt und gesellschaftlich verallgemeinert. Vermittlungsmaßstab ist dabei nicht die Nützlichkeit, sondern der Wert, also der für die Produktion der Waren gesellschaftlich durchschnittlich erforderliche Arbeitsaufwand. Damit erzwingt der Markt als Mittler der Privatarbeiten die Aufspaltung in Gebrauchswert (der Nützlichkeitsabstraktion) und Wert (der Arbeitsabstraktion). Gesellschaftliche Allgemeinheit erlangen die Waren vermittels ihrer Arbeitsabstraktion, der abstrakt-allgemeinen Arbeit.


Die analoge Kopie

Mit der Industrialisierung beginnt die Epoche der kapitalistischen Massenproduktion. War die handwerkliche Kopie aufgrund ihrer je individuell unterschiedlichen reproduktiven Qualität - wie das Original selbst - ein Unikat, so ist das Massenprodukt aufgrund der in der Maschine vergegenständlichten und damit objektivierten "Handwerkertätigkeit" strukturell gleichförmig. Nicht eine stoffliche Vorlage ist Vorbild für die singuläre handwerkliche Reproduktion, sondern eine objektivierte algorithmische Produktionslogik definiert das beliebig oft hervorzubringende Produkt.

Der intendierte zu vergegenständlichende Zweck liegt also nicht mehr als lebendiges Erfahrungswissen beim Handwerker vor, sondern wird als ingenieurmäßig zergliedertes und resynthetisiertes Wissen "in" eine Maschinerie implementiert. Das Wissen um den intendierten Zweck ist vom Menschen in die Maschine gewandert und kann nun als analoge Stoff-Kopie massenhaft realisiert werden. Das Massenprodukt als Analogkopie ist also multipler Träger des immer gleichen Gebrauchszwecks, der als Doppelverhältnis von Gebrauchswert und Wert schließlich in die Warenzirkulation eingeht. Was hier kopiert wird, ist der Gebrauchszweck, aber nicht die Produkt-Inkarnation. Trotz Gleichförmigkeit sind die einzelnen Kopien nicht identisch, sondern nur analog. Es bleibt jedes einzelne Produkt "Individuum" mit je eigener "Biographie" der Vernutzung.

Die Massenproduktion ist eine Voraussetzung für die Entwicklung hin zu stoffneutralen Produkten. Während bei stofflich gebundenen Produkten Nützlichkeit und gesellschaftliche Bedeutung unmittelbar in ihrer physischen Beschaffenheit aufgehen, sind stoffneutrale Produkte solche, bei denen die physische Gestalt nur als Träger von Relevanz ist. Hiermit sind vor allem Wissensprodukte gemeint. Analoge Kopien beziehen sich somit nicht nur auf stofflich gebundene Massenprodukte, sondern auch auf prinzipiell stoffneutrale Inhalte auf stofflichen Trägermedien. Produktzweck und -bedeutung werden nun nicht mehr von der stofflichen Beschaffenheit des Trägers, sondern vom getragenen Inhalt bestimmt.

Der Text eines Buches mag als gebundene Ausgabe oder als Paperback erscheinen und unterschiedliche ästhetische Qualitäten aufweisen, der Text selbst ist davon jedoch in der Regel nicht betroffen. Vergleichbares gilt für Musik oder Film, die zur Aufzeichnung verschiedene Trägermedien verwenden. Da hier nichtstofflicher Inhalt und stofflicher Träger getrennt sind, ist zwar ein Plagiat am Inhalt erkennbar, eine Fälschung hingegen nicht so ohne weiteres. So musste auch erst der Begriff des Raubdrucks geschaffen werden, um in der frühen Neuzeit den Nachdruck gut verkaufter Bücher zu ächten, da es noch kein exkludierendes Verwertungsrecht gab. Auch das Zitat als sozial zulässige Form der Reproduktion entstand in diesem Kontext. Während zunächst gar die Urhebernennung nicht obligatorisch war (etwa im Musikzitat), ist sie heute rechtlich abgesicherte Pflicht (Texte) oder muss gesondert erlaubt und ggf. lizensiert werden (Musik etwa bei der GEMA bzw. AKM).

Die auf separate Träger transferierten Inhalte können sich nun ihrerseits auf die Produktion selbst beziehen. Damit können algorithmisches Produktionswissen und die maschinelle Form, die dieses Wissen annehmen kann, gegenständlich getrennt werden. Frühe Beispiele sind Jacquard-Webstühle, bei denen ein Teil der Produktionslogik in Form von gelochten und zusammengebundenen Holzbrettchen oder Pappkarten getrennt von der Maschine vorliegt und je nach intendiertem Zweck gewechselt werden kann. Die Maschine erzeugt ihre Prozessschritte durch unmittelbar mechanisches Auslesen der Karten-Löcher. Das Webmuster als Teil des Gebrauchszwecks ist nun von der Maschine in eine externe Repräsentanz gewandert.

Die Lochkarten des Jacquard-Webstuhls sind stoffabhängig. Sie können zwar aus Holz (wie anfangs) oder aus Pappe (wie später) oder einem anderen Material (etwa Kunststoff) bestehen, doch sie müssen den physischen Anforderungen der maschinellen Auslesemechanik genügen. Die Neutralität gegenüber dem Stoff bezieht sich hier also auf den Inhalt, auf das sich von der Maschine emanzipierte algorithmische Produktionswissen. Die Maschine repräsentiert nun nicht mehr einen spezifischen Gebrauchszweck, sondern ist diesem gegenüber tendenziell neutral. Wer nur das Produktionswissen kopieren will, muss nun nicht mehr die Maschine nachbauen, sondern nur noch die gelochten Brettchen. Doch diese Reproduktionen müssen zur Maschine passen, für die sie gemacht sind, was die Materialwahl eng begrenzt und eine bestimmte Qualität der analogen Kopie voraussetzt, die nicht unterschritten werden darf, damit die Lochbrett-Kopie mit einer baugleichen Maschine ebenfalls funktioniert. Insofern ist der automatische Webstuhl immer noch eine Spezialmaschine, allein das Produktspektrum (das Webmuster) hat sich erweitert. Diese zweckbezogene Stoffneutralität in Bezug auf den Wissensinhalt bei gleichzeitiger Stoffabhängigkeit des Wissensträgers wird erst im digitalen Zeitalter überwunden.


Fortsetzung im nächsten Heft.

Raute

Dead Men Working

Sucharbeit

von Peter Samol

Maria Wölflingseder hat mich gebeten, in dieser Ausgabe den Text für ihre Kolumne zu schreiben. Dazu gekommen ist es, weil ich auf einen Roman gestoßen bin, der die Erfahrungen mit sogenannten "arbeitsfördernden Maßnahmen", wie sie Maria häufig an dieser Stelle beschreibt, zum Thema hat. Das Buch stammt aus demjahr 2006 und trägt den Titel "Schule der Arbeitslosen", verfasst von Joachim Zelter, der es mit einem anderen Roman ("Der Ministerpräsident") auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2010 geschafft hat.

Die Schule der Arbeitslosen ist eine private Bildungsstätte, die unter dem Fantasienamen "Sphericon" agiert und im Gebäude einer stillgelegten Fabrik mitten in einem niedergegangenen Industriegebiet angesiedelt ist. Am 1. September 2016 findet sich dort eine neue Gruppe schwer zu vermittelnder Langzeitarbeitsloser für eine dreimonatige Bildungsmaßnahme ein. Hier hergebracht hat sie ein Bus mit dem Logo der Bundesagentur für Arbeit und dem Slogan "Deutschland bewegt sich". Den Teilnehmern und Teilnehmerinnen werden Hoffnungen auf ein irgendwie geartetes Weiterkommen dank des Konzepts von "Sphericon" gemacht. Konsequent gilt dabei die Ideologie, wonach die Ursache der Arbeitslosigkeit in persönlichen Unzulänglichkeiten zu suchen sei. Als Erstes müssen sie lernen, dass sie ab jetzt nicht mehr auf Arbeitssuche sind, sondern "Sucharbeit" leisten, die wiederum aus Recherchearbeit, Bewerbungsarbeit, Training von Vorstellungsgesprächen etc. besteht. Bei der Recherchearbeit lernen die Trainees, dass Arbeit die Menschheit nicht mehr verfolgt, sondern vielmehr gilt: "Wir verfolgen sie. Wir fahnden nach ihr. Mit allen Mitteln." (S. 34) Die entscheidenden Fahndungshinweise entnimmt man keineswegs den Stellen-, sondern vielmehr den Todesanzeigen, um anschließend den Hinterbliebenen auf der Suche nach weiteren Informationen ("Wo hat der Verblichene zuletzt gearbeitet?") auf den Leib zu rücken. Bewerbungsarbeit besteht vor allem im Frisieren des eigenen Lebenslaufs: "Lebensläufe sind Fiktionen. ... Wen interessiert die Wahrheit?! Keine Ihrer Wahrheiten wird Ihnen irgendeine Stelle einbringen. Keine!" (S. 66) Ein gelungener Lebenslauf ist das, was gewesen sein sollte, nicht was wirklich gewesen ist. Beim Training der Vorstellungsgespräche gilt es schließlich, eine lebendige und funktionierende Vorstellung des optimierten Lebenslaufes abzuliefern und mit echter (!) Begeisterung vorzutragen.

Selbstverständlich muss man bei alldem immer der Erste sein wollen: "100 Mal Silber ... Das ist 100 Mal verpasst! 100 Mal gescheitert! ... Es gibt nur diese eine Stelle!" (S. 137) Alle Übungen werden unter drangsalierenden Umständen vollzogen und bewegen sich ständig an der Grenze zur Gehirnwäsche. Die Zudringlichkeiten hören auch jenseits der Übungen nicht auf. "Sphericon" ist ein System mit diktatorischen Zügen. Natürlich wird keine offene Gewalt angewendet. Vielmehr werden menschliche Bedürfnisse wie Nahrung, Schlaf, Freizeit und selbst Sexualität für zeitgemäße Manipulations- und Bestrafungszwecke instrumentalisiert.

Das Essen erhalten die Joblosen aus Automaten. Dazu benötigen sie "Bonus Coins", deren Menge wöchentlich je nach Mitarbeit vom Kursleiter gutgeschrieben wird. Wer zu wenig Einsatz zeigt, wird "downcoined" und muss den Gürtel enger schnallen. Das Motto "Nur wer arbeitet, soll auch essen" gilt auch für die Sucharbeitenden. Jedem werden sieben Stunden Nachtschlaf zugestanden ("Wenn sie nur lernen, zeitig aufzustehen, hat sich die Maßnahme bereits gelohnt." S. 39). Ferner gibt es zwei "Weekend-Suiten", die mit Doppelbetten versehen sind. Paare können sich hier für eine Nacht zurückziehen. Allerdings nicht öfter als drei Mal. Schließlich sollen Fähigkeiten und Mut zur Kontaktanbahnung auch in diesem Bereich geübt werden.

Auch eine Propagandasendung kommt zum Einsatz. Im Fernsehen ist ausschließlich die Serie "Job Quest" zu sehen. Jede Folge hat eine verzweifelte Arbeitssuche zum Thema, die stets mit Happy End abschließt. Eine härtere Serie mit dem Titel "Job Attack" ist bereits in Planung. Wer bei alldem Terror immer noch Anpassungsschwierigkeiten hat, findet sich in Zimmer 101 wieder. Hier kommen alle verbleibenden Probleme unter psychologischer Aufsicht schonungslos auf den Tisch. (Bekanntlich ist in Orwells Roman "1984" Zimmer 101 jener Raum, in dem die schlimmsten Folterqualen auf den Delinquenten warten.)

Von den Trainees wird nicht weniger verlangt als die völlige Preisgabe des eigenen Lebens. Das ist bestenfalls Rohstoff, der je nach Bedarf in eine passende Erfolgsgeschichte umzudichten ist. Notfalls bis zur Unkenntlichkeit. Als sich in der Protagonistin Karla Meier eine Person findet, die dazu nicht bereit ist, reagiert das System konsequent. Als hätte sie eine ansteckende Krankheit, wird sie von den anderen isoliert und für den Rest der Zeit getrennt untergebracht. Zur gleichen Zeit kommt es zu einer exzessiven Steigerung der Übungsmaßnahmen, als sich plötzlich die Option für eine echte Stelle ergibt. Es handelt sich um nichts anderes als eine brandneue Trainerstelle bei "Sphericon" selbst, die an eine oder einen der aktuellen Maßnahmeteilnehmenden vergeben werden soll. Von da an tobt ein Konkurrenzkampf, der in der Art einer Casting-Show à la "Deutschland sucht den Superstar" ausgetragen wird. Dass es sich letztlich um ein reines Pyramidenspiel nach dem Motto "Arbeitslose werden darauf trainiert, einen Job als Arbeitslosentrainer zu ergattern" handelt, ficht niemand an.

Das Buch ist eine ausgesprochen bissige Satire. In seiner konsequenten Beantwortung der Frage, was dem menschlichen Strandgut der strukturellen Arbeitslosigkeit noch alles blüht, erinnert es gleichermaßen an Franz Kafka wie an George Orwell. Wie in Kafkas "Prozess" werden die Betroffenen einer gnadenlosen Prozedur unterzogen, die innerhalb einer absoluten Diktatur à la Orwells "1984" stattfindet, die den Menschen vollkommen erfasst.


Joachim Zelter: Schule der Arbeitstosen,
Klöpfer & Meyer, Tübingen 2006, 206 Seiten, ca. 20 Euro.

Raute

Auslauf

Entwertet die Werte!

von Franz Schandl

Allenthalben ist von Werten zu reden. Von Werten, die wir haben, oder welchen, die wir brauchen, von Wertewandel und Werteverfall und vor allem und unablässig von der Wertegemeinschaft. Denn die benötigen wir, unbedingt. Auch allen Ausländern würde sie artig bekommen. Dass die Leute vor solchen Debatten nicht einfach davon laufen oder lauthals auflachen, lässt schließen, dass das implizite Bekenntnis zu den bürgerlichen Leitwerten trotz Verdruss ungebrochen gegeben ist. Das Aroma der bürgerlichen Grabkammer verkauft sich noch immer als das edelste Parfüm dieser Welt. Auf ewig soll es so riechen.

Der Wertekonsens mag zwar keine richtige Überzeugung sein, aber solange er als synthetische Voraussetzung in Verwendung steht, hält er die Reflexion fest im Griff. Der Wert, der steht hoch im Kurs. Kein Konkurs vermag ihn erschüttern. Dass wir etwas wert sein sollen und dazu Werte brauchen, kann das anders sein? Nein, es ist das Selbstverständlichste auf der Welt, den abstrakten Prinzipien des Bürgertums zu huldigen: Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, das wärmt die Seele, das sind doch Werte für ewig! Nicht?

Das Zentrum der Werte bildet - das Wort verrät es durch seinen Singular - die ökonomische Kategorie selbst, der Wert. Der Glaube an ihn ist die gemeine Basis diverser Ausdünstungen unserer Befangenheit. Alle Bereiche sollen durch Werte dem Wert angepasst sein. Man denke nur an all die befallenen Begriffe wie Wertschätzung, Wertschöpfung, Bewertung oder wertvoll. Auch das Selbstwertgefühl ist in seiner Konstitution nie etwas anderes gewesen als die von außen geprägte Werteinschätzung des Selbst, wobei das Selbst die Rückbezüglichkeit schon in sich trägt. Es ist ein abstraktes Sich, kein konkretes Ich, ein Subjekt, dessen Selbstwert immer an Verwertung orientiert sein muss.

Die Achtung der Menschen erfolgt nicht direkt, sondern über die jeweiligen Wertigkeiten der Rollen und ihrer Masken am Markt. Akzeptiert wird, wer sich verwertet. Jeder Wer ein Was! Und wer kein Was, ein Nichts! Dieses Selbstwertgefühl sinkt rapide, wird der Einzelne vom Kapital nicht anerkannt. Nicht nur Arbeitslose spüren das, die aber ganz besonders.

Die Frage, welche Werte wir brauchen, ist einfach zu beantworten: Keine! Nicht Werte brauchen wir, sondern Freude und Freundschaft, Bewusstsein und Reflexion, Kooperation und Verantwortung, Lust und Liebe. Gesellschaftskritik, die sich unter diesem Level positioniert, ist keine. Sie ist höchstens Weltverbesserung, wo diverse Verschönerungsvereine via Demokratie uns einen "guten Kapitalismus" (Robert Misik) bescheren möchten: Dort eine Steuer und da ein Verbot und hier eine Förderung und noch ein Recht und ein Radweg dazu, was sonst soll man wollen? Und ist Rot-Grün kein Fortschritt? Oder gar eine Strukturreform? - Welch gnadenlose Vergeudung des Daseins!

Die Frage, die sich stellt, ist ja an Banalität kaum zu unterbieten: Wollen wir gut sein oder wollen wir etwas wert sein? Und wer meint, das sei das Selbe, hat Selbiges nicht reflektiert, sondern nur einen automatisierten Reflex der objektivierten Gegebenheiten in Gang gesetzt. Wir jedenfalls wollen uns gewinnen und die Welt noch dazu. Gegen das Kapital - für das gute Leben! Es gäbe schon viel her, dieses Leben, ließe es sich in vollen Zügen genießen, wenn da nicht...

Der Markt ist uns nicht geheuer, sondern ein Ungeheuer. Völker sowieso. Und arbeiten gehen wollen wir auch nicht. Wenn die Streifzüge Sinn machen, dann nur als Substanzialisierung des Werteverfalls. Wir sind also nicht ein obligater und abgeklärter Ruck in die Mitte. Unser Programm ist geradewegs die Entwertung der Werte.

Raute

AutorInnen

Günther Anders, 1902-1992. Philosoph; in Breslau geboren, emigrierte 1933 nach Paris, 1936 in die USA, lebte seit 1950 in Wien. Engagierte sich in der internationalen Anti-Atombewegung und gegen den Vietnamkrieg. Zahlreiche philosophische, journalistische und belletristische Publikationen; langjähriger Autor des FORVM.

Roger Behrens, 1967. Lebt in Hamburg, Weimar und Belo Horizonte. Studium der Philosophie und Sozialwissenschaften. An mehreren Universitäten, bei testcard und Zeitschrift für kritische Theorie tätig.

Andreas Exner, 1973. Streifzüge-Redakteur.

Sonja Gansberger, 1977. "Spätberufene" Studentin der Kultur- und Sozialanthropologie im Endspurt und bald 2-fache Mutter. Lebt, lernt und arbeitet in Wien.

Severin Heilmann, 1976. Streifzüge-Redakteur.

Stephan Hochleithner, 1984. Studiert Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien, ist aktiv im HammockTreeRecords Kollektiv. Streifzüge-Redakteur.

Tomasz Konicz, 1973. Studierte Geschichte, Soziologie, Philosophie in Hannover, Wirtschaftsgeschichte in Poznan, wo er wohnt. Freier Journalist mit Schwerpunkt Osteuropa.

Stefan Meretz, 1962. Berliner. Informatiker. Schwerpunkte: Freie Software und Technikentwicklung. Aktiv u.a. bei Oekonux und Wege aus dem Kapitalismus; "Traforat" der Streifzüge.

Necati Mert, 1944. Aufgewachsen in der Türkei am östlichen Schwarzen Meer, seit 1969 in Deutschland. Herausgeber der Zeitschrift Die Brücke - Forum für antirassistische Politik und Kultur in Saarbrücken.

Karl Pleyl, 1956. Lebt in Wien, Lehrer.

Peter Pott, 1937. Bis 2002 Professor für Politik und Philosophie an der FHS Bielefeld. Lebt in der Kommune Kleekamp in Westfalen. peter-pott.de, kommune-kleekamp.de

Markus Pühringer, 1970. Studium der Volkswirtschaft; lebt in Linz, arbeitet bei den Grünen OÖ. Friedens-, Umwelt- und globalisierungskritische Bewegung.

Erich Ribolits, 1947, lebt in Wien. Pensionist, weiterhin aktiv als Bildungswissenschafter an der Universität Wien. Zuletzt veröffentlicht: "Bildung ohne Wert. Wider die Humankapitalisierung des Menschen", Wien 2009.

Peter Samol, 1963. Studium der Soziologie und Philosophie in Marburg, lebt als freier Journalist und hauptberuflicher Vater in Herford.

Franz Schandl, 1960. Streifzüge-Redakteur.

Herbert Schindler, 1990. Lebt und studiert in Wien Politik- und Musikwissenschaft.

Bernhard Schmid, 1971. Lebt seit 1992 in Paris. Journalist, seit 2007 Jurist bei einer Antirassismusorganisation.

Maria Wölflingseder, 1958. Streifzüge-Redakteurin.

Raute

IMPRESSUM

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Auflage: 1500

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Quelle:
Streifzüge Nr. 50, Dezember 2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Dezember 2010