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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2176: "Ausstieg aus dem Autowahn" - Interview mit Winfried Wolf


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 9 September 2017
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

"Ausstieg aus dem Autowahn" - ein Win-Win-Projekt

Dieselgate ist nur ein Auslöser für die wichtige Debatte über die Autogesellschaft. Im nachstehenden Interview skizziert Winfried Wolf den Umstieg in eine nachhaltige Mobilität.

Das Interview führte für die SoZ Paul Michel


SoZ: In der öffentlichen Diskussion im Gefolge der Enthüllung von "Dieselgate" trugen die Autokonzerne einige Schrammen davon. Als UmweltschützerInnen angesichts der Tatsache, dass den Bossen die eigenen Profite wichtiger sind als die Gesundheit und das Leben der Menschen, von "organisierter Kriminalität" von Seiten der Autobosse sprachen, wurde das auch von Teilen der bürgerlichen Presse aufgegriffen. Sind das lediglich rhetorische Floskeln von geringer Halbwertzeit oder hat sich an der Haltung gegenüber den Autokonzernen grundsätzlich etwas verändert? Sind jetzt die Chancen gestiegen, gegen die Bosse der Autoindustrie umweltverträglichere Mobilitätskonzepte durchzusetzen?

WW: Es wäre sicher überoptimistisch zu behaupten, in Bälde könnten umweltverträglichere Mobilitätskonzepte durchgesetzt werden. Allerdings haben wir es bei diesem wichtigen Thema mit einem deutlich veränderten politischen Klima zu tun. Der Auslöser ist dabei sicher das, was als "Dieselgate" bezeichnet wird, also der systematische, organisierte Betrug, den die deutschen, aber auch andere europäische Autokonzerne - angeführt vom Volkswagenkonzern - seit mindestens eineinhalb Jahrzehnten begingen, um die tatsächlichen Schadstoffemissionen der Diesel-Pkw zu verheimlichen. Doch dies war, wie gesagt, "nur" der Auslöser, lediglich der sprichwörtliche Tropfen, der ein Fass zum Überlaufen bringt.

Hinter "Dieselgate" stehen drei andere Vorgänge, ein objektiver Prozess und zwei subjektive Prozesse: Erstens ist da die Konkurrenz innerhalb der internationalen Autoindustrie zu nennen, insbesondere diejenige zwischen den europäischen Autokonzernen, die weitgehend von den drei deutschen Unternehmen VW, BMW und Daimler beherrscht wird, auf der einen Seite, und den US-amerikanischen Autokonzernen Ford und GM auf der anderen Seite. Der dritte große US-Autohersteller, Chrysler, spielt hier eine Sonderrolle, da er sich seit knapp einem Jahrzehnt unter Kontrolle von Fiat befindet.

Um es deutlich zu sagen: Die systematische Manipulation der Motorsoftware bei Dieselmotoren ist ein Verbrechen, das zum Tod von vielen Tausend Menschen beigetragen hat. Und die Strafe in Höhe von umgerechnet 20 Milliarden Euro, die allein in den USA zunächst der VW-Konzern dafür zu zahlen hat, ist in Gänze gerechtfertigt. Andererseits darf bezweifelt werden, dass die US-Behörden bei einem vergleichbaren Verbrechen in vergleichbarer Härte gegen ZUS-Autokonzerne vorgegangen wären. VW (mit Porsche und Audi), BMW und Daimler befanden sich, vor allem im Rahmen ihrer Kampagne "Clean Diesel", seit einem Jahrzehnt auf einem Siegeszug in der Weltautobranche. Sie erhielten nun im Gefolge von Dieselgate einen deutlichen Dämpfer. Dies kommt der Konkurrenz in Nordamerika, Japan und Südkorea zugute. Wobei sich alle zusammen vor allem auf dem chinesischen Markt in einem extrem harten Konkurrenzkampf befinden.

Zweitens gibt es einen deutlichen Wertewandel hinsichtlich des Statussymbols Auto. Dieser ist vor allem für Nordamerika und Westeuropa, ansatzweise auch in Japan, zu vermelden. Das Auto war - vor allem für Männer und hier wiederum für junge Männer - mehr als ein halbes Jahrhundert lang das wichtigste Statussymbol im "modernen" Kapitalismus. Es war Kultobjekt. Für die überwältigende Mehrheit der Menschen in den genannten Regionen war der Besitz eines Autos der Traum schlechthin, oftmals nahm dies den Charakter eines Fetischs an. Seit rund zwei Jahrzehnten gibt es hier diesen Wertewandel: Das Auto als Privat-Pkw hat, insbesondere bei jüngeren Menschen, dramatisch an Bedeutung verloren. Andere Konsumgüter, vor allem Smartphones, haben diesbezüglich längst einen höheren Rang erreicht. Der Pkw wird zunehmend als Mittel zum Zweck gesehen - wobei man dann, wenn es andere Möglichkeiten gibt (z.B. Bahn, neuerdings vor allem Fernbusse), auch auf das eigene Auto verzichten kann.

Drittens schließlich gibt es die bedrohliche Erwärmung des Klimas und die Verallgemeinerung der Erkenntnis, dass dabei die Autoindustrie bzw. der Verkehr mit Pkw und Lkw eine erhebliche Rolle spielt.


SoZ: Daran schließt sich meine nächste Frage an: Etwas befremdlich wirkt, dass in der aktuellen Diskussion der CO2-Ausstoß der Lkws und Pkws kein Thema ist. Der Stern schafft es, eine Titelgesichte zu "Sommer extrem - Starkregen, Hochwasser, Hitze, Dürre und gewaltige Gewitter - warum das Wetter in Zeiten des Klimawandels verrückt spielt" zu schreiben und kein Wort über den Anteil der PS-schweren Dreckschleudern an der Beschleunigung des Klimawandels zu verlieren. Sind also benzingetriebene Karossen das "kleinere Übel" gegenüber dem Diesel?

WW: Es gibt hier keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Benzin- und Diesel-Pkw. Und die Tatsache, dass mehr als 90 Prozent aller Lkw mit Diesel betrieben werden, was ja ebenfalls mit gewaltigen Mengen an Stickoxidemissionen und somit mit dem Tod von tausenden Menschen pro Jahr verbunden ist, wird ja nicht einmal thematisiert. Generell ist eine Gesellschaft, in der das Auto in der Mobilität der Menschen dominiert, mit verheerenden Folgen für Mensch, Natur, Umwelt, Städte und Klima verbunden. Nehmen wir nur die Tatsache, dass Jahr für Jahr in der EU mehr als 35.000 Menschen im Straßenverkehr getötet werden. Weltweit sind es mehr als eine Million Straßenverkehrstote pro Jahr. Das heißt, in einem Jahrzehnt wird in der EU die Bevölkerung einer Großstadt vernichtet. Und in derselben Dekade wird auf der Welt die Bevölkerung einer 10-Millionen-Mega-City ausgelöscht. Das sind ja keine "unvermeidbaren Opfer der Mobilität". Eine Mobilität, die auf umweltverträglicheren Verkehrsformen basiert, würde mehr als 90 Prozent dieser Verkehrstoten vermeiden.

Im übrigen gibt es ja auch bei Benzin-Pkw - wie bei allen Pkw - einen systematischen Betrug, der mit dem bei "Dieselgate" vergleichbar ist. Vor zwei Jahrzehnten wichen die Angaben des Kraftstoffverbrauchs, egal ob bei Diesel- oder bei Benzin-Pkw - noch um "nur" 10 bis 15 Prozent von den realen Werten ab. Inzwischen liegt die Differenz bei rund 40 Prozent. Was ja auch heißt, dass der Ausstoß so gut wie aller Schadstoffe um 40 Prozent über den offiziell behaupteten Werten (und damit oft auch über den gesetzlich vorgeschriebenen Grenzwerten) liegt.


SoZ: Die Medien berichten, dass zumindest in Deutschland die Nachfrage nach Diesel-Pkw deutlich eingebrochen sei. Ist das ein rein deutsches Phänomen oder könnte "Dieselgate" in Zeiten von Überkapazitäten in der Autoindustrie weitergehende Auswirkungen haben?

WW: Der Einbruch ist real. Und er ist ernsthaft - für die deutschen Hersteller und für einige andere europäische Hersteller auch bedrohlich. Der Anteil von Diesel-Pkw am gesamten Absatz lag vor zwei Jahrzehnten in der EU bei rund 15 Prozent. Er liegt heute bei mehr als 40 Prozent. Dieser Anteil stieg ziemlich exakt und nicht zufällig parallel mit dem großangelegten, weltweit betriebenen Betrug namens Dieselgate.

Wenn man Diesel-Pkw wirklich entsprechend den geltenden EU-Normen (Euro 6) "sauber" - also mit einem deutlich reduziertem NOx-Giftausstoß - haben will, müssen diese Pkw mit teurer Zusatztechnik und mit großen Tanks für den künstlichen Harnstoff ("Adblue") versehen sein. Das - und andere Faktoren - könnte Diesel-Pkw zum Auslaufmodell werden lassen. Zumal dann, wenn endlich auch Dieselsprit (und natürlich auch Kerosin) voll besteuert würde - was allein eine gewaltige Startinvestition für eine alternative Transportorganisation darstellen würde. Dies wiederum würde ohne Zweifel zu deutlichen Umsatzeinbußen, zu Produktionsumstellungen, zu teuren neuen Investitionen und zu einem Belegschaftsabbau in der europäischen Autoindustrie führen.

Dass es deshalb oder generell Überkapazitäten in der Autoindustrie gibt, möchte ich bezweifeln. Wobei ich jetzt von echten, nicht von technischen Überkapazitäten rede, solche, die für die Konzerne mit relevanten Verlusten verbunden sind. Sicher könnte man weltweit bei bestehenden Kapazitäten 30 Prozent mehr Autos pro Jahr herstellen. Doch eine solche Marge an Überkapazitäten gibt es in dieser Branche seit mehr als drei, wenn nicht seit fünf Jahrzehnten. Offensichtlich kann die Branche damit leben - sicherlich auch deshalb, weil es flächendeckende Kartelle gibt, was wiederum mit enormen Extraprofiten verbunden ist. Hätte jemand vor drei Jahren gesagt, VW würde mit einer Strafe von 20 Milliarden Euro belegt, so hätte es allerorten geheißen, dass der Konzern damit existenziell bedroht sei. Tatsächlich scheint VW diese größte Strafe aller Zeiten wegstecken zu können. Bislang zumindest - solange VW nur für seine verbrecherische Politik in den USA mit solchen Folgen konfrontiert wird. Die deutschen und die EU-Behörden schützen und schonen weiterhin VW & Co.


SoZ: Wann immer in den bürgerlichen Medien von Alternativen zum Diesel die Rede ist, wird fast ausschließlich das Elektroauto genannt. Was hältst Du von der Vorstellung, die bestehende Diesel- und Benzinerflotte durch E-Autos zu ersetzen?

WW: Die grundlegenden Systemnachteile, die den Verkehr mit Pkw charakterisieren, gelten auch für Elektro-Pkw. Der Flächenverbrauch ist auch hier gut viermal größer als im Fall eines Verkehrs mit öffentlichen Verkehrsmitteln (Tram, Busse, Sammeltaxen) oder mit der Eisenbahn. Die Zahl der Verkehrstoten und der durch den Straßenverkehr Verletzten bleibt die gleiche. Die Emission an Schadstoffen im allgemeinen und von klimaschädlichen Emissionen im besonderen ist - über den Lebenszyklus eines Autos hinweggesehen und angesichts der Tatsache, dass der Strom zu mehr als zwei Dritteln aus Kohle und Atomenergie kommt - mit dem von konventionellen Pkw vergleichbar. Dies haben mehr als ein Dutzend Untersuchungen von Umweltinstituten unter Beweis gestellt, die auch vom Umweltbundesamt bestätigt wurden.

Vor allem bleibt jedoch die krasse Ineffizienz, die der Pkw- und Lkw-Verkehr aufweist. Generell gilt: Je mehr sich das Auto durchsetzt, desto langsamer und ineffizienter wird der Verkehr. Würde man alle Pkw in Los Angeles - der Stadt mit der höchsten Pkw-Dichte (1100 Pkw auf 1000 Einwohner) und der höchsten Highwaydichte - durch schicke Elektroautos ersetzen, so bliebe es doch bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit des Autoverkehrs, die geringer ist als die eines - meinetwegen sportlichen - Fahrradfahrers, also von weniger als 18 km/h. Der Dauerstau bliebe derselbe - trotz der Existenz von acht- und mehrspurigen Highways.


SoZ: Du hast bereits Ende der 80er Jahre ein kleines Büchlein mit dem Titel "Sackgasse Autogesellschaft" geschrieben. Könntest Du skizzieren, wie beim Verkehr ein Umstieg von der Straße auf die Schiene, vom Individualverkehr zum öffentlichen Verkehr aussehen könnte/sollte?

WW: Ja, die Autogesellschaft war bereits damals, 1989, eine "Sackgasse". Und sie ist es heute - was man im übrigen ganz plastisch in China sehen kann. Dort bewegen sich in den großen Städten Hunderttausende mit Atemschutzmasken durch die Straßen; gleichzeitig aber ist dort das Auto weiterhin Fetisch, wie es in Westeuropa in der Periode 1950 bis 1975 der Fall war.

Grundsätzlich ist seit mehr als einem halben Jahrhundert bekannt, wie eine solche Alternative aussehen muss; sie besteht im wesentlichen aus fünf Elementen:

Erstens muss der motorisierte Verkehr generell drastisch reduziert werden, indem die Länge der einzelnen Wege im Personenverkehr reduziert werden. Das erfordert eine systematische neue "Strukturpolitik der kurzen Wege". Allein der Freizeitverkehr macht heute 50 Prozent aller Pkw-Kilometer aus - er ist im Wesentlichen das Resultat von Autostädten und damit zerstörter Urbanität. Eine Reduktion von Autoverkehr bedeutet zugleich eine enorme Reduktion von Pkw-Kilometern.

Zweitens gilt es, die nichtmotorisierten Verkehrsarten massiv zu fördern. Das Zufußgehen und Radfahren macht heute rund ein Drittel aller Personenwege aus. Dieser Anteil kann auf 60 und mehr Prozent erhöht werden. Das belegen bereits heute einzelne Städte wie Amsterdam, Njimegen und Münster. Das verdeutlichen auch die jüngeren Erfolge, wo sich selbst in Städten wie Berlin oder Stuttgart, in denen dies als aussichtlos galt, der Anteil der mit dem Rad zurückgelegten Wege in den vergangenen zwei Jahrzehnten mehr als verdoppelt hat.

Drittens muss der öffentliche Verkehr optimiert und in den Preisen massiv gesenkt werden; optimal sind Modelle mit Nulltarif. Dabei sollten vor allem schienengebundene Verkehrsmittel (S-Bahnen und vor allem Straßenbahnen) im Zentrum stehen. Der Bau von U-Bahnen sollte grundsätzlich gestoppt werden. Unterirdisch geführte Bahnen (U-Bahnen, S-Bahnen oder "Stadtbahnen" im Untergrund) sind 4-5 mal teurer als oberirdisch geführte Schienenwege und missachten, indem sie alle zu Kellerkindern machen, die Menschenwürde. Zürich mit seinem hervorragenden Tramnetz kann hier als beispielgebend angesehen werden.

Viertens gilt es, die Eisenbahn zu einer Flächenbahn und zu einer Bürgerbahn auszubauen. Hochgeschwindigkeitszüge sind hier ein Irrweg; wichtig ist ein integriertes Netz, die maximalen Geschwindigkeiten sollten 200 km/h nicht übersteigen. Es gilt der Grundsatz des integralen Taktfahrplans, optimal als Halbstundentakt: Das Netz besteht aus dichten Verkehrsknoten, in denen in der Regel die Züge jeweils kurz vor der vollen und kurz vor der halben Stunde ankommen und kurz nach der vollen Stunde bzw. kurz nach der halben Stunde abfahren - genauso, wie dies in der Schweiz seit mehr als einem Jahrzehnt mit großem Erfolg praktiziert wird.

Fünftens schließlich ist der Güterverkehr auf einen Bruchteil (weniger als ein Drittel des aktuellen) zu reduzieren und der verbleibende zu 75 oder mehr Prozent auf Schienen (Eisenbahn und Güter-Tram) zu verlagern. Auch das ist keine Utopie. Der überwiegende Teil des aktuellen Güterverkehrs ist allein deshalb existent, weil alle Verkehrsarten massiv subventioniert werden, sodass Transportkosten real kaum eine Rolle spielen und absurde Transporte und Transportwege entstanden sind. Die Transportintensität einer Ware von ein- und derselben Qualität hat sich in den vergangenen 25 Jahren mehr als verdoppelt; es stecken doppelt so viele Transportkilometer in ihr wie im Jahr 1990. Umgekehrt würde ein solcher Abbau des Güterverkehrs regionale Wirtschaften und kleinere Wirtschaftseinheiten fördern und auf diese Weise hunderttausende Arbeitsplätze schaffen.


SoZ: Das liefert das wichtige Stichwort Jobs. Es liegt ja auf der Hand, dass im Fall der Realisierung einer solchen alternativen Transportorganisation deutlich weniger Autos gebaut würden. Wie könnte eine Wende hin zu einer ökologisch verträglichen Mobilitätspolitik organisiert werden, ohne dass die aktuell in der Autoindustrie Beschäftigten die Leidtragenden sind?

WW: Die Debatte über Auto und Jobs ist eine vertrackte, verquere und verlogene. Zunächst einmal gibt es weltweit nur rund zehn Millionen Autojobs. Rund eine Milliarde Menschen in der Welt sind Kleinproduzenten in der Landwirtschaft, die im Rahmen des Siegeszugs der "modernen Zivilisation" und der Globalisierung ihre Jobs verlieren. Diese Autojobs befinden sich sodann in ganz wenigen Ländern. Bereits in den letzten 25 Jahren gab es einen drastischen Abbau von Autoarbeitsplätzen in Italien, Frankreich, Großbritannien und Spanien - weitgehend zugunsten von Osteuropa. Das hat hierzulande keinen geschert. Sodann bleibt die Zahl der Autojobs seit fast einem halben Jahrhundert konstant - weltweit und in der BRD. In Westdeutschland hatten wir in den 1970er Jahren eben diese rund 800.000 Jobs in der Autobranche, wie wir sie heute in Gesamtdeutschland haben - auch wenn sich zwischenzeitlich der Output verdreifacht hat. Die Autobranche ist diejenige Branche im Bereich der Massenfertigung, die sich am besten für eine weitgehend (90-Prozent-) Automatisierung eignet. Es wird also hier einen drastischen Jobabbau geben - selbst dann, wenn sich der Autowahn fortsetzt.

Des weiteren gibt es eine schräge Debatte über die Wertigkeit von Jobs. Autojobs gelten als wertvoll und verteidigenswert. Andere Arbeitsplätze sind nicht der Rede wert oder bilden angeblich ein Sparpotential. Wir haben in Deutschland rund 50 Prozent mehr Arbeitsplätze bei Lehrkräften und Erzieherinnen - 1,2 Millionen. Und es sind deutlich zu wenige: Laut GEW bräuchten wir 50 Prozent mehr solcher Arbeitsplätze, um wenigstens das Niveau zu erreichen, das in den skandinavischen Ländern noch existiert. Im Bereich der Eisenbahnen und Bahntechnik wurden in den vergangenen 25 Jahren in Europa mehr als eine Million Jobs abgebaut. Bereits in der Altenpflege arbeiten hierzulande mehr Menschen als in der Autoindustrie. Selbst im Tourismus in Deutschland arbeiten mehr Menschen als in der Autobranche. Was im übrigen massiv Devisen einbringt und volkswirtschaftlich - insoweit es ausländische Touristen sind - wie Export wirkt. Sind das unwichtige Jobs? Sollte und könnte man nicht diese massiv ausbauen?

Selbst wenn wir allein über den produktiven Sektor, die Industrie, reden, so arbeiten im Maschinenbau in Deutschland 25 Prozent mehr Menschen als in der Autoindustrie. Europaweit sind es doppelt so viele Menschen, die hier im Vergleich zur EU-Autobranche Beschäftigung finden.

Generell gilt: Das Geld, das die Gesellschaft für den Erhalt und den Ausbau der Autogesellschaft ausgibt, die mit Tod, Leiden und Zerstörung verbunden ist, ist Geld für Mobilität und Transport. Dieses Geld wird für eine kapitalintensive Produktion ausgegeben: viel Geld wird verwandt, um viel Kapital zu bewegen und relativ wenige Menschen zu beschäftigen. Der oben skizzierte Fünf-Punkte-Plan für eine alternative Transportorganisation, die Umwelt schützt, Gesundheit erhält und das Klima schont, würde ebenfalls ausschließlich Geld einsetzen, das (bislang) für Mobilität und Transport ausgegeben wird. Wir brauchen grundsätzlich kein "neues Geld" für diese Alternative. Doch es würde sich bei der Verwirklichung der alternativen Transportorganisation um eine sehr arbeitsintensive Form der Investitionen handeln: man würde für dasselbe Geld deutlich weniger totes Kapital bewegen und Millionen Menschen mehr beschäftigen können - und dies bei deutlich reduzierten Arbeitszeiten.

Der Ausstieg aus dem Autowahn ist aus Sicht der Menschen, der Natur, der Umwelt, des Klimas und der Gesamtwirtschaft, der Volkswirtschaft ein Win-Win-Projekt.

Das Interview erschien in gekürzter Fassung in der Printausgabe der SoZ vom September 2017.


Winfried Wolf ist aktiv im Bündnis Bahn für alle und Mitglied in der Bahnexpertengruppe Bürgerbahn statt Börsenbahn (BsB). Er ist u.a. Verfasser von verkehrswissenschaftlichen Büchern. 1986/87 und 2009 erschienen seine Standardwerke "Eisenbahn und Autowahn" bzw. "Verkehr. Umwelt. Klima. Die Globalisierung des Tempowahns". Im Juli 2017 erschien "abgrundtief + bodenlos. Stuttgart 21 und sein absehbares Scheitern" (320 S.; PapyRossa; 16,90 Euro).


Der Schattenblick veröffentlicht die ungekürzte Online-Fassung des Interviews.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 9, 32. Jg., September 2017, S. 5
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. September 2017

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