Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2127: Kampf um die Arbeitszeit - Eine Fragebogenaktion der IG Metall


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 3 · März 2017
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Kampf um die Arbeitszeit
Eine Fragebogenaktion der IG Metall

von Manfred Dietenberger


Die Arbeitgeber reden viel von mehr Zeitsouveränität für die Beschäftigten und behaupten, wenn Beschäftigte frei wählen können, wann, wie und wo sie arbeiten, dann ist das ein Zeichen für mehr Demokratie und direkte Mitbestimmung im Betrieb.

Diese Behauptung rang den hundert Betriebsräten, Vertrauensleuten und IG-Metall-Mitgliedern, die Mitte November 2016 zu einer Arbeitszeitkonferenz der IG Metall Bremen gekommen waren, nur ein gequältes Lächeln ab. Ihre Erfahrungen zeichnen ein ganz anderes Bild vom betrieblichen Alltag. Und auch die Umfrage, die die IG Metall Bremen im Oktober 2016 in Bremer Betrieben durchführte, kommt zu ganz anderen Ergebnissen.

Demnach arbeiten die Beschäftigten heute deutlich länger als 35 Stunden in der Woche. Mehrarbeit und Schichtarbeit nehmen kontinuierlich zu, Arbeitszeitkonten laufen über, Samstagsarbeit ist üblich, Sonntagsarbeit keine Ausnahme mehr. Viele geleistete Stunden werden nicht ausgeglichen, nicht bezahlt oder verfallen. Die Arbeitsbelastung der Beschäftigten steigt stetig, weil sich die Rahmenbedingungen für die zu leistende Arbeit verschlechtern, weil immer mehr Arbeit mit immer weniger Personal unter immer enger getakteten Zeitvorgaben geleistet werden muss.

Auch die Möglichkeit, über mobile und digitale Arbeitsformen mehr Selbstbestimmung der Beschäftigten über ihre Arbeitszeit zu erlangen, bleibt oftmals nur ein frommer Wunsch. Denn die von den Arbeitgebern geforderte Flexibilität richtet sich in der Regel nach den Anforderungen des Betriebs und sie kennt weder Feierabend, noch Wochenende oder Urlaubszeit.


Tarifliche Öffnungsklausel...

Darauf müssen die Gewerkschaften reagieren. Daher wird in der Metall- und Elektroindustrie in den kommenden Jahren die Hauptauseinandersetzung um die Dauer, die Lage und die Bezahlung der Arbeitszeit geführt und auch massiv gekämpft werden müssen.

Während es den Kapitalisten von Gesamtmetall um eine endgültige Abkehr «vom starren Achtstundentag» geht, schwebt der IG Metall eine neue Arbeitszeitkultur vor, in der die persönlichen Belange der Beschäftigten weit wichtiger genommen werden sollen als bisher.

Gesamtmetall-Präsident Rainer Dulger sagte im Dezember 2016: «Der Achtstundentag kann nicht mehr so starr sein wie bisher.» «Es muss einfach möglich sein, dass ein Mitarbeiter nachmittags um vier heimgeht, das Kind aus der Kita abholt, abends um 21 Uhr ins Bett bringt und sich dann noch mal zwei Stunden an die Arbeit setzt.» Hört sich verführerisch an.

Dulger begrüßte ausdrücklich die von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) vorgeschlagene Probephase über zwei Jahre. «Ich halte es für einen mutigen Schritt von Frau Nahles zu sagen, lasst das doch mal die Tarifpartner machen.» Ginge es nach Dulgers Vorstellungen, könnte ein neues Nahles-Gesetz z.B. so aussehen, «dass man eine tarifliche Öffnungsklausel vorsieht und sagt: Statt des Achtstundentags gilt eine Wochenarbeitszeit von x Stunden.» Beschwichtigend ergänzt er: bei klaren Grenzen für die maximale Länge der Arbeitszeit und Ruhezeiten müsse es aber bleiben.


...oder Arbeitsvolumen senken?

Die IG Metall verfolgt ein qualitativ anderes Ziel. Ihr Vorsitzender Jörg Hofmann bspw. könnte sich vorstellen, das Vollzeitarbeitsvolumen für Beschäftigte in besonderen Lebenslagen zumindest zeitweise zu senken. Wer Kinder erzieht, Angehörige pflegt oder sich beruflich fortbildet, sollte die Arbeitszeit in einem Korridor zwischen 28 und 35 Stunden wählen können und zum Lohnausgleich einen staatlichen Grundzuschuss sowie tarifliche Leistungen erhalten.

Um die Unternehmer nicht allzu arg in Rage zu bringen, schlägt er vor, diese Leistungen steuerfrei zu stellen und auch keine Abgaben an die Krankenkassen zu erheben. Womit diese Form von mehr Zeitsouveränität bzw. Arbeitszeitverkürzung von den Kollegen also selbst bezahlt werden würde.

Beide Vorschläge knüpfen an die berechtigten Interessen der Beschäftigten an. Deren Interessenlage ist aber längst nicht mehr homogen, sie ist durch die vom technischen Wandel verursachten Veränderungen im Produktionsprozess und die Deregulierung und Präkarisierung der Arbeit vielfältig gespalten. Nach Einschätzung der IG Metall wird Schichtarbeit mehr und mehr auch auf Angestelltenbereiche ausgeweitet. Starre, häufig mit falschen technischen Begründungen durchgesetzte Arbeitszeitregeln schafften eine Vielzahl von Problemen: «Mit Arbeitszeitmodellen, die mehr Selbstbestimmung erlauben, können viele Alltagsprobleme gelöst werden. So funktioniert auch Gleitzeit in der Produktion. Man muss es nur wollen und verschiedene Lebenslagen abbilden», so der IG-Metall-Vorsitzende Hofmann. Keinen Änderungsbedarf sieht Hoffmann bei dem von den Arbeitgebern ständig unter Beschuss genommenen Arbeitszeitgesetz. Es schütze vor Überforderung, regele die notwendigen Pausen und sehr zeitgemäß auch das «Recht auf Abschalten».


Die Fragebogenaktion

Die IG Metall sagt zurecht, sie will die Arbeitswelt gestalten, sicher, gerecht und selbstbestimmt. Um das gut machen und um die Wünsche der Beschäftigten aufgreifen zu können, fragt sie seit Mitte Januar 2017 ihre 2,3 Millionen Mitglieder, aber auch Nichtmitglieder, wo sie der Schuh drückt.

Die Befragung hat zwei Schwerpunkte. Der erste Schwerpunkt ist das Thema Arbeitszeit. Die IGM will wissen: Welche Erfahrungen machen die Kollegen momentan mit ihren Arbeitszeiten, wo hakt es und was wünschen sie sich? Die Ergebnisse der Befragung werden betrieblich, regional, nach einzelnen Branchen und bundesweit ausgewertet. Damit trägt die Befragung dazu bei, die laufende Arbeitszeitkampagne der IG Metall stärker betrieblich zu verankern.

Der zweite Schwerpunkt ist das Bestreben, auf das Wahljahr 2017 politischen Einfluss zu nehmen. Die Ergebnisse der Auswertung der Fragebögen sollen der IGM helfen, «ihre Vorstellungen für eine arbeitnehmerorientierte Politik, für einen Sozialstaat 4.0, öffentlich [zu] bekräftigen und uns mit diesem Votum der Beschäftigten stark und glaubwürdig in den Bundestagswahlkampf ein[zu]bringen.» Sprich, indirekte Wahlhilfe für die SPD zu leisten.

Die Fragebögen wurden mit einem erläuternden Text, einer Art Bedienungsanleitung, in die Betriebe geliefert. Bundesweit nehmen rund 13700 Betriebe an der Befragung teil. Befragt werden alle Beschäftigten, Mitglieder und Nichtmitglieder im Zuständigkeitsbereich der IG Metall. Mitglieder, die nicht im Betrieb befragt werden können, sowie Beschäftigte in Leiharbeit erhielten den Fragebogen als Beilage zur Februarausgabe von Metall. Rentnerinnen und Rentner sowie Arbeitslose erhielten eine Kurzversion des Fragebogens, ebenfalls in der Februarausgabe von Metall.

Im Betrieb wird die noch bis Ende Februar 2017 laufende Befragung durch ehren- und hauptamtliche Aktive durchgeführt. Sie gehen auf die Beschäftigten zu, verteilen die Fragebögen und sammeln sie wieder ein. Auch Aktionen vor Ort wurden da und dort dazu durchgeführt. Für jeden ausgefüllten Fragebogen spendet die IG Metall einen Euro für ein soziales Projekt in der jeweiligen Region. Welches Projekt die Spende erhält, wird vor Ort von den IG-Metall-Mitgliedern entschieden.

Es ist löblich, dass die IG Metall ihre Mitglieder selbst und nicht, wie sonst oft, per Meinungsumfrageinstitute abfragt. Dort wo die Kolleginnen und Kollegen mit dem Ausfüllen nicht allein gelassen werden, sondern Vertrauensleute ihnen die Bögen geben und mit ihnen über Sinn und Zweck der Befragung diskutieren, kann die Befragung auch mobilisierenden Charakter annehmen. Das würde unserem ollen Freund Karl Marx gefallen. Der hat schon 1880 vorgemacht, wie eine politisierende und mobilisierende Arbeiterbefragung organisiert werden kann.


KASTEN
Fragebogenaktionen können militanter sein
So hat Karl Marx sie angelegt

von Manfred Dietenberger

Der Fragebogen als Mittel der Untersuchung der Lage und Wünsche der arbeitenden Klassen geht auf Karl Marx zurück.

In der ersten Aprilhälfte 1880 verfasste Marx einen Fragebogen für Arbeiter auf Englisch (deutsch in MEW 19, S.230-237). Er erschien erstmals - in französischer Übersetzung und anonym - am 20. April 1880 in der Zeitschrift La Revue Socialiste, deren Herausgeber Benoît Malon Marx zu diesem Unternehmen angeregt hatte. Der Fragebogen wurden «in 25000 Exemplaren vervielfältigt und in mehreren Exemplaren allen Arbeitervereinen, allen sozialistischen und demokratischen Gruppen und Zirkeln, allen französischen Zeitungen und allen Einzelpersonen übersandt, die darum baten».

Dieser Fragebogen hatte eine doppelte Funktion. Er unterschied sich von den damals schon erhobenen Sozialenquêten des französischen Staates dadurch, dass Marx sich ausschließlich und direkt an die Arbeiter selbst wandte. «In der Hoffnung, dass wir die republikanische Regierung veranlassen könnten, dem Beispiel der monarchistischen Regierung Englands zu folgen und eine umfassende Untersuchung über die Taten und Untaten der kapitalistischen Ausbeutung zu eröffnen, wollen wir mit den geringen Mitteln, über die wir verfügen, eine solche Untersuchung beginnen. Wir hoffen dabei auf die Unterstützung aller Arbeiter in Stadt und Land, die begreifen, dass nur sie allein in voller Sachkenntnis die Leiden schildern können, die sie erdulden; dass nur sie allein und keine von der Vorsehung bestimmten Erlöser energisch Abhilfe schaffen können gegen das soziale Elend, unter dem sie leiden; wir rechnen auch auf die Sozialisten aller Schulen, die, da sie eine soziale Reform anstreben, auch die genaue zuverlässige Kenntnis der Bedingungen wünschen müssen, unter welchen die Arbeiterklasse, die Klasse, der die Zukunft gehört, arbeitet und sich bewegt.» (MEW 19, S.569f.)

Ein Blick auf ein paar Fragen macht deutlich, um was es Karl Marx und Genossen ging: «Berichten Sie über die Anzahl der Arbeitsräume, die den verschiedenen Zweigen des Gewerbes dienen, und beschreiben Sie jenen Teil des Arbeitsprozesses, an dem Sie mitwirken, nicht nur in technischer Hinsicht, sondern auch in bezug auf die Muskel- und Nervenanspannung, die die Arbeit erfordert, und die allgemeinen Auswirkungen auf die Gesundheit der Arbeiter.» So lautete etwa Frage 15 des Katalogs. Weitere Fragen waren: «Berichten Sie aus eigener Erfahrung von Unfällen, die Verletzungen bzw. den Tod von Arbeitern verursachten.» «Welche Bestimmungen und Strafen gibt es, um pünktliches Erscheinen der Arbeiter bei Beginn des Tagewerks oder nach den Mahlzeiten zu sichern?» «Werden Sie durch solche Verzögerungen bei der Lohnzahlung gezwungen, häufig das Pfandhaus in Anspruch zu nehmen, dort hohe Zinsen zu zahlen und obendrein Gegenstände zu entbehren, die sie nötig gebrauchen, oder müssen Sie bei den Kaufleuten Schulden machen und werden dadurch als Schuldner deren Opfer?» «Sind Ihnen jemals Fälle bekannt geworden, dass ein einfacher Arbeiter mit dem Geld, das er als Lohnarbeiter verdient hatte, sich im Alter von 50 Jahren zur Ruhe setzen konnte?»

Über das weitere Schicksal dieses Fragebogens wissen wir leider nicht viel. In der Revue Socialiste vom 5. Juli 1880 ist die Rede von einigen bereits eingegangenen Antworten, deren Veröffentlichung jedoch bis zum Eintreffen einer größeren Anzahl zurückgestellt werde. Leider kam es wohl nie dazu.

Im Gegensatz zum aktuellen Fragebogen der IG Metall, der sich der Arbeitswelt scheinbar neutral annähern will und ausschließlich darauf gerichtet ist, nützliche Informationen zu gewinnen oder eine Situation bzw. Tatsachen festzustellen, waren die Fragen bei Marx so gestellt, dass die Arbeiter über ihre konkrete Realität (kritisch) nachdenken mussten. Sie deuteten auch Möglichkeiten der Verbesserung an (z.B. Rente mit 50).

Das von Marx entwickelte Verfahren der Fragebögen wurde auch im sogenannten Operaismus, einer linken Bewegung in Norditalien in den 60er/70er Jahren, genutzt. Auch Günter Wallraff hat 1972 einen Fragebogen erstellt, mit dem Arbeiter mit der gleichen Absicht befragt werden konnten.

*

Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 3 , 32. Jg., März 2017, S. 10
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
SoZ-Verlag, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln
Telefon: 0221/923 11 96
E-Mail: redaktion@soz-verlag.de
Internet: www.sozonline.de
 
Die Soz erscheint monatlich und kostet 3,50 Euro.
SoZ-Probeabo: 3 Ausgaben für 10 Euro
Normalabo: 58 Euro
Sozialabo: 28 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. März 2017

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang