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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2055: Stuttgart 21 in Turbulenzen


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 7/8 Juli/August 2016
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Stuttgart 21 in Turbulenzen
Statt der anfänglich behaupteten 2,8 Milliarden Euro soll das Projekt 9,8 Milliarden Euro kosten - der Bahnvorstand räumt Fehler ein

Von Paul Michel


Nach der jüngsten Bestandsaufnahme der Bahn ist die angepeilte Inbetriebnahme des Tiefbahnhofs Stuttgart 21 Ende 2021 in Gefahr. Einem internen Bericht der Bahn zufolge kann die Bauzeit bis zu zwei Jahre länger dauern. Außerdem wird es - wen wundert's - teurer.


Bislang liegt der vom Aufsichtsrat festgelegte Finanzierungsrahmen bei 6,5 Milliarden Euro. Von den Projektpartnern sind knapp 6 Mrd. Euro als Investitionsbudget genehmigt. Bei dem Projekt sind laut Bahn-Gutachten seit Ende 2012 durch externe Faktoren Kostenrisiken in Höhe von 623 Millionen Euro hinzugekommen. Der vorgesehene Puffer von 500 Mio. Euro sei dadurch fast aufgebraucht. Bahnvorstand Volker Kefer musste deswegen bereits gehen. Bei den Koalitionsverhandlungen nach der Landtagswahl hieß es, in Gesprächen mit der Bahn halte man am Ziel fest, sich nicht über die vom Land zugesagten 930 Mio. Euro hinaus an dem Milliarden-Vorhaben zu beteiligen.

"Kein Problem! Alles läuft nach Plan!" Das war die PR-Strategie der Deutschen Bahn, seit sie im Vorfeld der Aufsichtsratssitzung vom März 2013 die Kostensteigerung von 4,5 Mrd. auf 6,5 Mrd. Euro einräumen musste. Jeder Hinweis auf Mängel beim "Jahrhundertprojekt" wurden seither von DB-Vorstand Volker Kefer in seiner unwiderstehlichen Art hinweggelächelt oder als Hirngespinste einer kleinen bornierten Gruppe unverbesserlicher Fortschrittsgegner abgetan.

Dank tatkräftiger Unterstützung der von den Grünen geführten baden-württembergischen Landesregierung und unkritischer Medien war diese Strategie durchaus erfolgreich. Überdies ist es den Betreibern von Stuttgart 21 gelungen, die eigenen Reihen zu schließen. Seit 2013 gab es praktisch keine "Indiskretionen" aus dem Apparat mehr. Wenn es überhaupt Nachrichten zu Stuttgart 21 gab, dann waren es "gute Nachrichten", d.h. solche, die von den Betreibern in die Welt gesetzt wurden.


Die skeptischen Fragen häufen sich

Weil die Medien kein Interesse daran hatten, brachten es Berichte der S21-Gegner - etwa über grobe Sicherheitsmängel beim Brandschutz oder die Tatsache, dass die Gleisneigung bei Stuttgart 21 sechsmal so stark ist wie erlaubt - nur zu Kurzmeldungen. Warnungen vor ungelösten technischen Problemen beim Tunnelbau und Hinweise auf die voranschreitende Kostenexplosion wurden schlicht ignoriert. Im Landtagswahlkampf von Baden-Württemberg im März 2016 war Stuttgart 21 kein Thema. Zumindest bei der überwiegenden Mehrzahl der Menschen in der schwäbischen Provinz verfing der Spruch von Landesvater Wilfried Kretschmann: "Der Käs' isch gessa."

Im Dezember 2015 legte das renommierte Verkehrsplanungsbüro Vieregg-Rössler ein neues Gutachten über die zu erwartenden Kosten vor, das es in sich hatte: Vieregg-Rössler geht von 9,8 Mrd. Euro für Stuttgart 21 aus. Das Projektbüro der DB bezeichnete diese Berechnungen in der gewohnten Arroganz als "fernab der Realität". In der Vergangenheit waren allerdings nicht die Expertisen von Vieregg-Rössler, sondern die Ankündigungen der Bahn "fernab der Realität" gewesen: 2008 hatte Vieregg-Rössler Kostensteigerungen auf 6,9 Mrd. Euro prognostiziert. Der Bauherr Bahn hatte damals mit Gesamtkosten von 2,8 Mrd. gerechnet und die Solidität seiner Annahmen betont. Ende 2012 musste Bahnchef Rüdiger Grube eine Kostenexplosion bis zu 6,5 Mrd. Euro einräumen.

Bei einem Teil der regionalen Presse scheint das arrogante Abbürsten des Gutachtens von Vieregg-Rössler durch die Bahn aber doch Wirkung gezeigt zu haben. Möglicherweise erkannten einige Journalisten regionaler Medien gewisse Parallelen zum Verhalten der Bahn ihnen selbst gegenüber. Jedenfalls fällt auf, dass in der einstmals eindeutig pro S21 ausgerichteten Stuttgarter Zeitung häufiger als früher skeptische Fragen zu S21 zu lesen waren. Selbst in bundesweiten Medien war nach langer Sendepause wieder Kritisches zu S21 zu vernehmen. Im ZDF-Magazin Frontal gab es am 24. Mai 2016 einen Bericht über den "Schrägbahnhof" S21, dessen Bahnsteig ein Gefälle habe soll, das sechsmal so stark sei wie offiziell zulässig.

Im Vorfeld der Aufsichtsratssitzung der Deutschen Bahn vom 15. Juni 2016 wurde es für die Bahn zunehmend schwieriger, ihre Vertuschungsstrategie aufrechtzuerhalten. Das lag zum einen daran, dass die realen Probleme (Terminverzögerungen, Probleme mit dem Fundament der Halle) immer offenkundiger und ihr Totschweigen immer schwieriger wurde. Hinzu kam die größere Skepsis einiger Medien gegenüber der Pressepolitik der Bahn.

Vor allem aber drohte der Bahn plötzlich Gefahr von einer Baustelle, die scheinbar gar nichts mit Stuttgart 21 zu tun hat: Der Bahnvorstand hatte wegen Defiziten im Güterverkehr entschieden, ein Viertel aller Güterbahnhöfe zu schließen und 2100 Arbeitsplätze abzubauen. Dadurch hatte er die ansonsten handzahmen Führer der Gewerkschaft EVG verärgert. Die riefen nicht nur zu Protesten vor dem Bahntower am Potsdamer Platz anlässlich der Aufsichtsratssitzung vom 15. Juni auf.

Der EVG-Vorsitzende Alexander Kirchner, stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender und Wortführer der Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat, meldete plötzlich öffentlich auch Unbehagen angesichts der Informationspolitik der Bahn zum Thema Stuttgart 21 an. Er, von dem bisher noch nie ein kritisches Wort zu S21 zu hören war, verlangte plötzlich eine unabhängige Überprüfung des Sachstands beim Stuttgarter Bauprojekt. Somit drohte die Gefahr, dass einer der Mitwisser ausscheren und womöglich aus dem Nähkästchen plaudern könnte.


Keine Bereitschaft zum Umdenken

In dieser für die Bahn unangenehmen Gemengelage entschloss sich der Vorstand zum Eingeständnis, der Bau werde "ein bisschen teurer" (500 Millionen) und seine Fertigstellung werde sich um zwei Jahre verzögern. Die jetzt zugegebenen "Probleme" erfüllen zwar nach wie vor den Tatbestand der Schönfärberei. Aber angesichts der bisher von der Bahn praktizierten "Null-Problem"-PR wirken sie doch wie ein Paukenschlag.

Ungeachtet dessen betonen sowohl das Bahnmanagement wie deren Projektpartner, das Land Baden-Württemberg und die Stadt Stuttgart, in öffentlichen Erklärungen ihren Willen, Stuttgart 21 weiterzuführen.

Die Bahn schwadroniert von Einsparungsmöglichkeiten, erwägt aber offenbar gleichzeitig, die Projektpartner an den Mehrkosten zu beteiligen - was diese bisher ablehnen. Der grüne Verkehrsminister Hermann lehnt eine stärkere Beteiligung des Landes ab und will stattdessen ein stärkeres finanzielles Engagement des Bundes. Von einem Ausstieg aus dem Projekt will er jedoch nichts hören. Durch das Ergebnis der Volksabstimmung habe man die Verpflichtung "das Projekt zu begleiten und zu befördern".

Der grüne OB von Stuttgart, Kuhn, entblödet sich nicht festzustellen: "Die Stadt Stuttgart hat ein elementares Interesse, dass das Bahnprojekt mit dem unterirdischen Hauptbahnhof im Zentrum der Stadt bestens verwirklicht wird." Und betont, die Stadt Stuttgart sei "zu Gesprächen über mögliche Beschleunigungsmaßnahmen bereit".

Typisch für die bürgerlichen Zeitungen im Ländle ist ein Kommentar des Chefredakteurs der Südwestpresse. Dieter Keller jammert, dass die Verantwortlichen für den gigantischen Tiefbahnhof das Projekt nicht im Griff hätten. Dennoch will er ihm Projekt halten: "Längst ist der Zeitpunkt überschritten, an dem ein Aus noch realistisch gewesen wäre."

Die S21-Gegner können demgegenüber auf eine Studie des Projektbüros Vieregg/Rössler verweisen. Demzufolge würde ein Ausstieg etwa 2 Mrd. Euro kosten, die Fertigstellung von Stuttgart 21 aber mindestens 9,8 Mrd. Euro. Ein Ausstieg wäre also um rund 8 Mrd. Euro billiger! Natürlich würden Kosten für die Ausbesserung der bisher angerichteten Schäden und die erforderliche Renovierung des Kopfbahnhofs hinzukommen. Unter dem Strich aber bliebe der Ausstieg immer noch um rund 4,5 Mrd. Euro billiger als die Fertigstellung von S21 in der von der Bahn konzipierten Form!


Der Ausstieg ist machbar!

Die Ereignisse der letzten Wochen haben gezeigt, dass die Argumente der S21-Gegner Substanz haben - ganz im Gegensatz zu denen der Bahn. Zum ersten Mal seit drei Jahren verspüren sie wieder Rückenwind. Es ist durchaus möglich, sogar wahrscheinlich, dass die Bahn nicht darum herumkommt, alsbald weitere Kostensteigerungen und andere "Probleme" einzuräumen.

Möglicherweise fördert das jetzt vom Aufsichtsrat bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG in Auftrag gegebene Gutachten weitere Ungereimtheiten zutage. Ähnliches gilt für eine Untersuchung des Bundesrechnungshofs zu den Kosten von S21. Die liegt, wohl auf politischen Druck aus Berlin, in irgendwelchen Schubladen unter Verschluss, soll aber laut Stuttgarter Zeitung in absehbarer Zeit veröffentlicht werden.

Bei Teilen der Medien wächst die Bereitschaft, die Argumente der S21-Gegner wieder ernster zu nehmen. Es ist zu hoffen, dass es in Zukunft wieder "Indiskretionen" aus dem Apparat gibt und an die Öffentlichkeit kommt, was das Bahnmanagement und seine politischen Freunde in Berlin und Stuttgart lieber in Schubladen versteckt sehen.

Für die Bewegung gegen Stuttgart 21 geht jetzt darum, den Rückenwind für eine Mobilisierungskampagne zu nutzen. Im Fokus der Kampagne könnte stehen:

- Die Bevölkerung hat das Recht zu erfahren, was Sache ist. Keine Kostentricksereien und weitere verbale Luftblasen. Sofortiger Baustopp, bis alle Fakten auf dem Tisch sind!

- Der Ausstieg aus Stuttgart 21 ist nicht nur nötig, sondern auch möglich.


Es gibt nichts Gutes außer man tut es

Für die "Spezialisten" unter den S21-Gegnern dürfte es kein Problem sein, die erforderlichen griffigen Materialien für die Massenagitation zu erstellen. Vielleicht könnte eine landesweite Unterschriftenkampagne Sinn machen. Die alten landesweiten Strukturen gegen S21 sollten wiederbelebt und örtliche Bündnisse geschaffen werden. Natürlich gehört dazu, dass wir die baden-württembergischen Landtags- und Bundestagsabgeordneten konfrontieren!

Für den 16. Juli ist eine landesweite Demo unter dem Motto "S21? Der Umstieg ist möglich!" angekündigt.

Gute Argumente allein reichen nicht. Als 2013 die Kostensteigerung von etwa 4 Mrd. auf 6,8 Mrd. Euro bekannt wurde, gab es viel Empörung, sie schlug aber nicht in Handeln um. Die Beteiligung an den Montagsdemonstrationen stieg zwar etwas, aber nicht in dem erforderlichen Maß. Das Bahnmanagement und die politisch Verantwortlichen konnten stets das Gefühl haben, die Probleme aussitzen zu können.

Sie müssen aber spüren, dass Ärger und Wut in massenhaftes politisches Handeln umschlagen. Sie müssen den Eindruck gewinnen, dass ihnen da politisch etwas aus dem Ruder läuft. Nur wenn es gelingt, wieder deutlich mehr Leute auf die Straße zu bringen, besteht die Chance, dass die politisch Verantwortlichen ernsthaft einen Kurswechsel in Erwägung ziehen.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 7/8, 31. Jg., Juli/August 2016, S. 3
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
SoZ-Verlag, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juli 2016

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