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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2022: Streiks und Streikrecht in Portugal


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4, April 2016
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Streiks und Streikrecht in Portugal
Wo Streikende nicht behindert werden dürfen

Von Anne Engelhardt


In Portugal gab es unterschiedliche Versuche der Herrschenden, die Löhne und Arbeitsbedingungen unter dem Vorwand der Krise anzugreifen. Doch die Bevölkerung wehrt sich, zu kleinen Teilen auch erfolgreich. Auf was für ein Streikrecht kann sie dabei zurückgreifen?


In den letzten Jahren gehörte Portugal neben Griechenland und Spanien zu den Ländern, in denen unterschiedliche Formen von offenem Klassenkampf sowohl von den Herrschenden als auch von den Lohnabhängigen organisiert wurden. Die Errungenschaften von 500 Tagen portugiesischer Revolution von 1974/75 stehen unter Beschuss, das bedeutet Privatisierungen, Lohnkürzungen und soziale Einschnitte.

Portugal wurde seit Beginn der Eurokrise 2009 als sogenannter PIGS-Staat diskreditiert und sollte 2011 mit 78 Mrd. Euro "gerettet" werden. Tatsächlich stand das Memorandum of Understanding, das mit der Troika (Europäische Zentralbank, Internationaler Währungsfonds, Europäische Kommission) die Bedingungen für die Rettungskredite vorgab, für eine Vertiefung neoliberaler Kürzungspolitik und für weitere Angriffe auf Arbeitsbedingungen.


Erfolge der Antikürzungsbewegungen

Die portugiesische Antikürzungsbewegung konnten kleine Teilerfolge verzeichnen. Einige Angriffe auf die Arbeitsbedingungen und die Löhne konnten durch große Massenproteste und Massenstreiks verhindert werden, andere wurden durch den Druck auf die neu gewählte Minderheitsregierung der Sozialistischen Partei (PS) rückgängig gemacht.

Erfolge sind unter anderem:

  • die Anhebung der Wochenarbeitszeit im öffentlichen Dienst von 35 auf 40 Stunden wurde zurückgenommen,
  • die vier gestrichenen Feiertage wurden wieder eingeführt,
  • die Rentenkürzungen für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst wurden verhindert,
  • es gibt Kämpfe gegen Prekarisierung.

Diese Erfolge bedeuten noch nicht, dass die voranschreitende Verarmung der Bevölkerung durch Steuer- und Preiserhöhungen gestoppt wurde. Vor allem der Trend zur Prekarisierung der Arbeitsbedingungen setzt sich fort. Befristete Verträge, Zeitarbeit und vor allem Scheinselbständigkeit werden in Portugal zur Regel.

Besonders junge Beschäftigte sind von schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen bedroht. Mehr als die Hälfte der jungen Angestellten verdient weniger als 600 Euro im Monat. Mehr als zwei Drittel der jungen Erwachsenen bis 35 Jahre sind gezwungen, im Haus der Eltern zu wohnen.

Für Frauen sinkt durch die fehlende ökonomische Unabhängigkeit die Möglichkeit, sich aus gewalttätigen Strukturen zu lösen. Gleichzeitig steigt durch das Wegfallen sozialer Einrichtungen der Druck, sich neben dem prekären Job noch um Kinder und pflegebedürftige Familienangehörige zu kümmern.

Vor diesem Hintergrund ist besonders der Kampf gegen prekäre Arbeitsbedingungen in Portugal in den Vordergrund gerückt.

Leider werden weder Erwerbslose, noch Beschäftigte in Zeitarbeitsfirmen oder Scheinselbständige von den Gewerkschaften organisiert. Dafür haben die seit 2011 entstandenen sozialen Bewegungen und Netzwerke diese Themen aufgegriffen. Organisationen wie Precários Inflexíveis [Unflexible Prekäre] oder Movimento Sem Emprego [Arbeitslosenbewegung] haben mit anderen Netzwerken Massendemonstrationen organisiert. Sie haben Streiks und Streikposten unterstützt oder selbst die Organisation von Streiks in prekären Beschäftigungssektoren wie bei der Pflege oder in Callcentern in die Hand genommen.


Das Streikrecht in Portugal

Zwischen 2010 und 2013 gab es in Portugal fünf Generalstreiks. Mehrere branchenweite Arbeitsniederlegungen und Massendemonstrationen haben die rigide Kürzungspolitik herausgefordert. Seit der Revolution ist das Streikrecht für alle Beschäftigten fest in der Verfassung verankert. Die Verfassung wurde direkt nach der Revolution 1974 verabschiedet und gilt als eine der progressivsten in der Welt. Streiks dürfen zu allen Themen organisiert werden, die rechtliche Auslegung zu "politischen" Streiks ist sehr vage formuliert.

Streiks müssen im Privatsektor fünf Tage - im öffentlichen Sektor zehn Tage - vorher, u.a. durch Aushänge, angekündigt werden. Bei der Ankündigung müssen Datum und Uhrzeit des Beginns und des voraussichtlichen Endes, der betroffene Sektor und die Gründe für den Streik angegeben werden.

Es ist unter Strafe gestellt, die Streikenden an der Durchführung ihres Streiks zu hindern. Aussperrungen sind verboten. Streikposten sind erlaubt, jedoch dürfen Beschäftigte, die den Streik brechen wollen, nicht gewaltsam daran gehindert werden zu arbeiten.

Neben Arbeitsniederlegungen sind auch Bummelstreiks legal. Solidaritätsstreiks sind erlaubt, wenn der Streik, auf den sie sich beziehen, ebenfalls als legal erklärt wurde.

Während des Streiks sind die Rechte und Pflichten aus den Arbeitsverträgen außer Kraft gesetzt. Arbeitgebern ist es verboten, für die Zeit des Streiks Beschäftigte einzustellen, um die Streikwirkung abzumildern.

Es gibt ebenso wie in Deutschland Koalitionsfreiheit. Streiks dürfen jedoch auch ohne Gewerkschaften organisiert werden. Dafür bedarf es einer geheimen Abstimmung, woran mindestens 20% der Beschäftigten des Betriebs oder mindestens 200 Beschäftigte teilnehmen müssen. Bei der Abstimmung reicht die einfache Mehrheit für die Annahme des Streiks.

Es gibt natürlich Ausnahmeregelungen. Beispielsweise dürfen Beschäftigte der Polizei, der Armee und Gefängniswärter nicht streiken. Zudem sind eine ganze Reihe von öffentlichen Bereichen wie die Post, die medizinische Versorgung, der öffentliche Transport, die Feuerwehr sowie das Banken- und Kreditwesen angehalten, Notfallvereinbarungen abzuschließen. Wie diese aussehen, hängt vom Kräfteverhältnis zwischen Beschäftigten und Arbeitgebern ab. Zudem gibt es in Portugal mit wenigen Ausnahmen keine Streikkassen, daher sind Streikaktionen häufig auf wenige Tage begrenzt.


Auswirkungen des Streikrechts

Obwohl es gesetzlich verboten ist, Streikende an der Durchführung des Streiks zu hindern oder für die Zeit des Streiks Leiharbeiter einzustellen, stellen diese Formen von Streikbruch seitens der Arbeitgeber keine Seltenheit dar. Das hängt vor allem davon ab, wie der Arbeitgeber die Regelung der Notfallversorgung auslegt.

Während des Generalstreiks 2010 wurde die zentrale Postvergabestelle bestreikt. Der Arbeitgeber setzte private Transportdienstleister ein, um die Post dennoch an die Filialen weiterzuleiten. Bei dem Versuch der gewerkschaftlich organisierten Kolleginnen und Kollegen, die Lkw zu blockieren, wurde die Polizei gerufen, die den Streikposten gewaltsam auflöste.

Arbeitgeber können sich auf die Notfallregelung im Postgewerbe beziehen, die Beschäftigten auf ihr Recht zu streiken und darauf, dass der Arbeitgeber keine Ersatzdienstleister einstellen darf, um den Streik zu brechen.

Die Beschäftigten haben aus der Auseinandersetzung gelernt. In den darauf folgenden Generalstreiks wurden insbesondere die Streikposten bei der Post von Beschäftigten, aber auch Rentern, Studierenden und Erwerbslosen unterstützt. Erneute Versuche, den Streik zu brechen, wurden dadurch verhindert.

Ebenso gravierend waren die Auseinandersetzungen beim öffentlichen Busunternehmen Carris. Streikposten haben bei Transportunternehmen die indirekte Auswirkung, dass Beschäftigte völlig gewaltlos daran gehindert werden, den Bus von dem Gelände zu fahren, weil die Ausfahrt blockiert wird. Dennoch versuchten die Arbeitgeber, die Notfallversorgung möglichst in ihrem Interesse auszulegen. Beschäftigte wurden unter Druck gesetzt, den Streik zu brechen, was in einem Land, in dem Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung an der Tagesordnung sind, nicht schwer ist.

Wenn der Streikposten stark ist, können die Beschäftigten die Busse nicht vom Gelände herunterfahren. Kollegen, die arbeiten wollen, können durch Diskussion und friedliche Blockaden daran gehindert werden, den Streik zu brechen. Wenn der Streikposten klein ist, ist es für die Polizei und den Arbeitgeber leichter, den Streikposten zu räumen.

Insgesamt ist das Streikrecht in Portugal im Vergleich zu Spanien, Deutschland und Großbritannien sehr fortschrittlich. Da aber Recht immer eine Frage der Kräfteverhältnisse ist, muss das Streikrecht durch offensive Arbeitskämpfe immer wieder verteidigt und ausgeweitet werden.


Anne Engelhardt studiert an der Universität Kassel und forscht zu Streiks, sozialen Bewegungen, Logistik, "Chokepoints" und natürlich zu Portugal.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4, 31. Jg., April 2016, S. 12
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. April 2016

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