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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1966: András Toth zu Orbáns Krisenmanagement und der Stimmung in der Bevölkerung


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 10, Oktober 2015
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

"Die Regierung treibt ein Spiel, das über die Flüchtlinge hinausgeht"

András Toth erklärt Orbáns Krisenmanagement und die Stimmung in der Bevölkerung

Interview der SoZ-Redaktion mit András Toth


"Die Türken stehen vor Wien und Ungarn rettet das Abendland." Mit solchen Legenden kann man eine Bevölkerung leider bei der Stange halten, wenn man die Medien kontrolliert, ja, fast gleichschaltet, und sich per Wahlgesetzänderung verfassungsändernde Mehrheiten im Parlament verschafft. Viktor Orbán, ungarischer Ministerpräsident, spielt meisterhaft auf dieser Klaviatur. Hat doch der Flüchtlingsstrom erfolgreich von seinen innenpolitischen Problemen abgelenkt. Jetzt fühlt er sich berufen, den Vorreiter der konservativen Wende in Europa zu spielen - und wenn man sich dabei Seehofer und de Maizière anschaut, steht zu befürchten, dass er damit einigen Erfolg haben könnte.
Mit der Kehrseite dieser Medaille, dem verbreiteten Ungarn-Bashing aus den Tagen, als Bilder durch die Medien gingen, die u.a. zeigten, wie ungarische Polizisten auf flüchtende Familien mit Kleinkindern einprügeln, mögen wir uns jedoch auch nicht anfreunden. Die spontane Reaktion "Werft sie aus der EU!" setzt sich mit den Ursachen für die Stimmung in Ungarn nicht auseinander. Das wollten wir nachholen und haben deshalb
András Toth befragt. Dabei kam einiges Überraschende heraus.

András Toth ist Soziologe am Institut für Politische Wissenschaften der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest. Näheres über ihn und von ihm auf:
https://mtapti.academia.edu/AndrasToth.


SoZ: Wie steht die Bevölkerung zu Orbáns Management der Flüchtlingskrise?

András Toth: Laut Umfragen unterstützen die meisten Ungarn die Massnahmen der Regierung. Die Popularität Orbáns hat einen Höhepunkt erreicht, auch die seiner Partei FIDESZ. Die Medien stehen auf der Seite der Regierung. Sie erzählen so Sachen wie, die Flüchtlinge hätten Malaria und die Regierung würde die Bevölkerung vor unbekannten Krankheiten bewahren.

Andererseits sind rund 170.000 Flüchtlinge durch Ungarn gezogen und die Bevölkerung hat ihnen sehr viel geholfen, die Regierung hat ja kaum etwas getan, das meiste haben Freiwillige geleistet. Das Gute ist, dass es seitens der Bevölkerung nahezu keine Gewalttaten gegen Flüchtlinge gegeben hat, nur einmal, im Rahmen eines Fussballspiels gegen Rumänien. Ungarn ist ein kleines, sehr nationalistisches Binnenland, die meisten Leute wollen keine Farbigen sehen. Und der Islam ist wegen der terroristischen Aktionen gefürchtet.


SoZ: Wieviele Ausländer leben denn in Ungarn, also Menschen, die nicht dort geboren wurden?

András Toth: In den vergangenen 20 Jahren sind viele ethnische Ungarn aus Rumänien, Serbien, Kroatien oder der Ukraine nach Ungarn gezogen. Zudem kamen etliche Serben in den 90er Jahren nach Ungarn, als in Ex-Jugoslawien Krieg herrschte. Diese Zuwanderer wurden problemlos akzeptiert. Menschen mit anderer Hautfarbe sieht man aber sehr wenig, höchstens ein paar in Budapest, vereinzelt gibt es Asiaten.


SoZ: Wie sah die Hilfe der Bevölkerung aus? Und wieviele haben geholfen?

András Toth: Viele Privatleute haben geholfen, sowohl in Budapest als auch auf dem Land. Die Behördenvertreter, die wir dabei erlebt haben, haben sich sehr korrekt verhalten. Auch die Bahnmitarbeiter. Im Verlauf der Hilfsaktionen hat sich ein Netzwerk gebildet, es nennt sich Migration Aid. Es hat eine Webseite aufgebaut, über die die Hilfe koordiniert wurde. Gemessen an der allgemeinen Stimmung, dass man die Flüchtlinge nicht im Land haben will, war die Hilfsbereitschaft doch groß, ein paar tausend Helfer werden es schon gewesen sein.


SoZ: In Budapest gab es unlängst eine Demonstration gegen die Regierung von rund 4000-5000 Leuten. Wer hat dazu aufgerufen?

András Toth: Ich denke, das war vor allem die traditionelle Linke, die man stets bei solchen Protesten trifft. Diesmal waren aber auch viele Freunde von mir dabei, die FIDESZ-Unterstützer sind.


SoZ: Was steckt hinter Orbáns Strategie?

András Toth: Die Regierung treibt ein Spiel, das über die Frage der Migration hinausgeht. Eigentlich war sie auf diesen Flüchtlingsstrom vorbereitet. Sie hat schon vor einem halben Jahr verkündet, dass viele Flüchtlinge kommen werden. Sie muss etwas gewusst haben, vielleicht über die Erkenntnisse der Geheimdienste... Offenbar hat sie schon damals überlegt, einen Zaun zu errichten - so wollen es zumindest Gerüchte. Im frühen Sommer startete die Regierung eine Plakatkampagne gegen Immigranten in ungarischer Sprache, die sich mithin an die ungarische Bevölkerung richtete, mit Parolen wie: "Wenn du nach Ungarn kommst, darfst du den Ungarn ihre Arbeit nicht wegnehmen." Das hat von Anfang an eine bestimmte Atmosphäre geschaffen. Als die Flüchtlinge dann kamen, wurden sie von der Verwaltung dermaßen hängen gelassen, dass allein daraus zahlreiche Spannungen entstanden, woraus die Regierung wiederum Kapital schlagen konnte.


SoZ: Sie wollen sagen, die Regierung hat bewusst dafür gesorgt, dass die Lage an den Grenzen und in den Lagern eskalierte, um in der Bevölkerung die Stimmung gegen die Migranten anzuheizen? Was steckt da dahinter? In Deutschland hat man sich gewundert, warum die Ungarn die Flüchtlinge nicht einfach durchschwinken?

András Toth: Die Regierung hat argumentiert, sie würde sich strikt an die Dublin-Vereinbarung halten.


SoZ: Da hatten Frau Merkel und Herr Faymann aber schon längst gesagt, Dublin ist tot.

András Toth: Das mag so sein. Es gibt aber auch noch weitere Gründe. Im Frühling dieses Jahres hatte die Popularität der Regierung unter einigen großen Skandalen sehr gelitten. Da kam die Flüchtlingskrise sehe gelegen, die Regierung konnte jetzt Angst um die Nation inszenieren und das Gefühl vermitteln, sie verteidige die Nation, sie stehe bereit. Da sprach niemand mehr über die Skandale und über Korruption, und ein großer Teil der Rechten scharte sich erneut um die Regierung, das hat gut funktioniert. Jetzt sprechen alle über Immigration, keiner mehr über Korruption.

Ein weiterer, ganz wichtiger Aspekt hat mit Europa zu tun. Orbán hat einen schwierigen Stand in Europa, er gilt als semiautoritär und als Populist. Unlängst stilisierte er sich in einer seiner Reden zum wichtigsten Vertreter der traditionellen Konservativen in Europa. Vermutlich unterstützen ihn auch konservative Politiker aus ganz Europa, nicht zuletzt in Bayern. Vielleicht ist sein forsches Auftreten in der Flüchtlingsfrage nur Teil einer breiteren Kampagne, um die liberale Politik der Offenheit zu diskreditieren und weitreichende Veränderungen in der EU zu erreichen. Orbán ist ein sehr begabter Politiker mit Charisma, er kann die kleinen Leute sehr gut ansprechen. Er möchte ein konservatives Lager in Europa aufbauen. Vor zwei Wochen sagte er in einer Rede, die Medien würden von Linksliberalen dominiert, gute konservative Politiker müssten deshalb Kompromisse eingehen. Er will einen echten Konservatismus durchsetzen, er hat das in Ungarn getan. Er benutzt also das Thema der Migration, um mehr Unterstützung in Europa zu erhalten.


SoZ: Kann es sein, dass die EU irgendwann auf die vielen fragwürdigen Gesetzesreformen - angefangen bei den Verfassungsänderungen, die Ungarn in ein autoritäres Regime treiben - mit Sanktionen reagiert?

András Toth: Das Problem ist folgendes: Orbán ist ein wahrer Populist und sehr clever. Er würde keine Radikalisierung betreiben, die solche Reaktionen hervorruft. Er hat das Wahlgesetz geändert, so dass er mit 44% der Stimmen eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament hat. Er konserviert ein politisches System, das nach außen hin noch als demokratisch erscheint. Die Mehrheit der Ungarn unterstützt seine Politik.

Auf der wirtschaftlichen Ebene sorgt sich die EU nicht um Ungarn. Ein Problem ist auch, dass die Linke sehr schwach ist. Dafür gibt es viele Gründe. Es gibt niemanden, der eine Alternative anbietet.


SoZ: Orbán ist wahrscheinlich der Meinung, es gebe zuviel europäische Integration, also zu viele EU-Regelungen und zu wenig nationale Politik. Ungarn erhält aber auch viel von der EU. Und viele Ungarn sind 1956 und 1989 selber ausgewandert und wurden von anderen Ländern aufgenommen. Wird das nicht bedacht?

András Toth: Nein. Die extreme Rechte sagt, die [EU-Ausländer] beuten uns ohnehin aus, sie geben uns durch Direktinvestitionen und Transfers lediglich das zurück, was sie uns wegnehmen. Denken wir an die Supermarktketten oder an die Automobilwerke...

Da sie uns zu wenig Lohn zahlen, sind Strukturfondsmittel oder Arbeitsmöglichkeiten im Ausland das mindeste, was sie tun können. Viele denken, Europa ist da in der Pflicht, weil Ungarn von Europäern ausgebeutet wird. Das ist ein weit verbreitetes Gefühl.


SoZ: Wenn das viele Leute so empfinden, ergreift die Regierung dann Maßnahmen, um ausländische Investitionen draußen zu halten?

András Toth: Ja, das ist ein wichtiger Faktor in Orbáns Politik. Die Regierung verfolgt in bezug auf ausländische Investitionen eine doppelte Strategie, sie unterstützt Industrieinvestitionen, aus den Bereichen Banken, Handel und Dienstleistungen aber will sie ausländische Unternehmen verdrängen.


SoZ: Ich habe gehört, dass viele junge Menschen das Land verlassen.

András Toth: In der Tat, in den letzten zwei, drei Jahren haben rund eine halbe Million vorwiegend junge Menschen Ungarn in Richtung Europa verlassen, vor allem Richtung Österreich, Großbritannien und Deutschland. Und wir haben eine sehr niedrige Geburtenrate. Ungarn braucht eigentlich auf lange Sicht Zuwanderer. Wenn es so weiter geht, hat Ungarn in dreißig Jahren nur noch 8 Millionen Einwohner, aktuell sind es 10 Millionen. Orbán hätte eigentlich eine Einwanderungspolitik entwerfen sollen.


SoZ: Gibt es Teile der Bevölkerung, die eine solche Politik als kurzsichtig empfinden?

András Toth: Die gibt es, das ist aber eine Minderheit. Wir haben drei verschiedene Arten von Oppositionellen hier. Die einen sind die Marktliberalen, wie die FDP in Deutschland oder die Konservativen in Großbritannien. Sie machen nur wenige Prozent aus. Dieser konservativ-liberale Flügel steht FIDESZ zwar nahe, kritisiert die Partei aber. Dann haben wir die Altlinken, das ist die Sozialistische Partei, die aus der früheren Staatspartei hervorgegangen ist. Das ist der Teil der Opposition, der am wenigsten geschätzt wird, wegen der früheren Korruption.

Und dann gibt es noch die junge, urbane Linke. Alles in allem macht der Anteil der Opposition, der eine europäische Politik vorantreiben würde, nur 20-30% aus und ist sich zudem sehr uneins. Orbán hat rund 30-40% der Bevölkerung hinter sich; und dann gibt es noch die extreme Rechte, die über etwa 15-20% der Wählerschaft verfügt.


SoZ: Hat die neue Linke Bindungen zur europäischen Linken?

András Toth: Ja, sie hat Verbindungen, die Regierung behauptet sogar, sie würde von außen finanziert. Sie ist aber relativ schwach. Ungarn ist ein armes Land, da gibt es nur eine kleine Mittelschicht. 40 Jahre lang war das Land abgeschlossen, daher ist der Blickwinkel vieler Ungarn ein anderer als im Westen.

Viele, die vielleicht etwas ändern könnten, gut Ausgebildete oder Unternehmer, ziehen weg. Das ist ein Problem, was soll man da machen? Ein großes Problem ist auch die Korruption. Die Gesellschaft ist stark hierarchisch strukturiert, es gibt viele Abhängigkeiten. Orbán hat einen substanziellen Teil der Bevölkerung im Griff. Noch dazu sind die Folgen der Krise von 2008 immer noch spürbar, rund 4 Millionen Menschen sind relativ arm. Auch Menschen vom unteren Rand der Gesellschaft wandern aus.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 10, 30. Jg., Oktober 2015, S. 5
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Oktober 2015

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