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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1706: Andreu Coll Blackwell zur Forderung nach der Unabhängigkeit Kataloniens


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 1 - Januar 2013
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

"Um das iberische Proletariat zu einen, muss der spanische Staat zerschlagen werden"
Andreu Coll Blackwell (Revolta Global) zur Forderung nach der Unabhängigkeit Kataloniens und der Haltung der radikalen Linken

Ein Interview der SOZ-Redaktion



Die Wirtschaftskrise und die Sparpolitk, die alle EU-Regierungen ihren Bevölkerungen aufoktroyieren, führen zu extremen Ungleichheiten und sozialen Verwerfungen - in jedem EU-Land und zwischen den Mitgliedstaaten. Sie werfen auch die Frage nach der politischen und ökonomischen Selbstbestimmung der Bevölkerungen in Europa auf, mithin die Frage nach ihrer nationalen Souveränität.

In einem Land wie Spanien, in dem Bevölkerungsgruppen wie die Katalanen und Basken traditionell trotz ihrer herausragenden ökonomischen Stellung politisch unterdrückt sind und das immer noch Eierschalen des frankistischen Staatsapparats mit sich herumträgt, sind Forderungen nach nationaler Unabhängigkeit durch die Krise wieder akut geworden. Am 11. September demonstrierten eine Million Menschen in Barcelona für die katalanische Unabhängigkeit.

Für Linke ist der richtige Zugang zu nationalen Forderungen nicht einfach, überlagern sie doch häufig soziale Auseinandersetzungen. Die SoZ fragte deshalb Andreu Coll Blackwell von der katalanischen Sektion der IV. Internationale, Revolta Global, nach der Bedeutung der Forderung nach Unabhängigkeit für die heutige katalanische Gesellschaft und die Haltung seiner Organisation dazu.


SOZ: Am 11. September gingen eine Million Menschen in Barcelona auf die Straße und forderten die Unabhängigkeit Kataloniens. Wie hoch schätzt du den Anteil der katalanischen Bevölkerung, der eine Trennung vom spanischen Staat will? Welche politischen Kräfte tragen diese Forderung hauptsächlich?

Andreu Coll Blackwell: In der katalanischen Gesellschaft gibt es eine Mehrheit, die denkt, man muss eine Verfassungsänderung durchsetzen, die entweder einen neuen Staat im Rahmen der EU schafft oder die Beziehungen zwischen Katalonien und dem Rest des spanischen Staats auf eine radikal neue Grundlage stellt. Es scheint mir allerdings sehr zweifelhaft, ob diese gesellschaftliche Mehrheit auch dafür ist, diesen Weg bis zu Ende zu gehen mit der Aussicht auf eine Konfrontation und einen Bruch mit dem spanischen Staat: Denn jedermann weiß, wie das anfängt, aber niemand weiß, wo das endet.

Außerdem ist diese Unabhängigkeitsbestrebung durchaus klassenunspezifisch, zu einem nicht geringen Teil wird sie von wirtschaftlichen bzw. steuerlichen Interessen gespeist. Das nationalistische Bürgertum schart sich um die Partei des katalanischen Regierungschefs, Convergència i Uniò (CiU), der kleinbürgerliche und bäuerliche Nationalismus um die Partei Esquerra Republicana de Catalunya (ERC - Republikanische Linke); beide streiten sich um die politische Führung der separatistischen Bewegung. Nach dem schlechten Abschneiden der CiU bei den Parlamentswahlen in Katalonien am 25. November gibt es in deren Führung jedoch Krisenerscheinungen und eine gewisse Linkswende.

SOZ: Welche Position bezieht die Linke in dieser Frage?

Andreu Coll Blackwell: Die katalanische Linke ist in der Krise, und gegenüber dem Aufstieg der Unabhängigkeitsbewegung ist sie gespalten. Zu Franco-Zeiten stand die Arbeiterbewegung an der Spitze des Kampfs für die nationale Emanzipation - vor allem die Partit Socialista Unificat de Catalunya (PSUC - Vereinigte Sozialistische Partei Kataloniens, die katalanische KP) hatte darin enormen Einfluss. Seitdem hat es jedoch eine lange Phase der Trennung zwischen der Arbeiterbewegung und der nationalen Befreiungsbewegung gegeben. Das Ergebnis können wir heute betrachten, es ist ein dreifaches:

- Die gesellschaftliche Basis des radikalen Nationalismus schwankt zwischen dem Kleinbürgertum und dem mittleren Bürgertum. Der Aufstieg einer neoliberalen Unabhängigkeitsbewegung im Mitte-Rechts-Spektrum ist eine neue Entwicklung. Bis vor ganz kurzem gab es nur radikale separatistische Strömungen, die sich mit der baskischen Unabhängigkeitsbewegung oder mit der republikanischen, linkspopulistischen Tradition von Esquerra Republicana identifizierten - das ist die älteste Partei Kataloniens, die zu Zeiten der Zweiten Republik hegemonial war.
- Die Mehrheit der Gewerkschaften und der Regierungslinken hat keine eigene, offensive Haltung in bezug auf die nationale Frage und ordnet sich dem hegemonialen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Nationalismus von CiU und ERC unter.
- Der linke Flügel der Unabhängigkeitsbewegung ist unleugbar in einigen Teilen der unteren Klassen verankert, sein Einfluss auf die organisierte Arbeiterbewegung ist jedoch begrenzt.

Man könnte die Situation auf der politischen Linken folgendermaßen beschreiben:

Die sozialdemokratische PSC macht eine enorme Krise und harte interne Auseinandersetzungen durch. Sie ist zerrissen zwischen einem eher nationalistischen Teil, der für die katalanische Selbstbestimmung eintritt, und dem Teil, der eher zur gesamtspanischen PSOE hält und zögert, den Verfassungskonsens aufzukündigen - das katastrophale Wahlergebnis der PSC am 25. November kann dazu führen, dass die Partei sich spaltet. Die ERC kennt derzeit einen wahlpolitischen Aufschwung, gerät seit der politischen Hinwendung ihres Vorsitzenden Artur Mas zur staatlichen Unabhängigkeit aber immer stärker unter die Hegemonie der CiU.

Die ICV (Iniciativa per Catalunya Verds - Initiative für ein grünes Katalonien, grün gefärbte Eurokommunisten) hat keine klare Position, verteidigt aber die Selbstbestimmung. Sie ist eine antiliberale politische Kraft, die sich auf dem nationalen Terrain nicht wohlfühlt, sie hat weder eine eigene Losung noch ein eigenes, klares Projekt.

Es hat bei den letzten Wahlen aber einen bedeutenden Aufschwung der linken Unabhängigkeitsbewegung gegeben, sie kristallisiert sich um die Wahlbewegung Candidatures d'Unitat Popular (Kandidaturen der Volkseinheit), die mit einer nicht gering zu schätzenden Unterstützung der neuen Generation der Empörten am 25. November zum erstmal drei Sitze im katalanischen Parlament errungen hat.

SOZ: Wie grenzt ihr euch von der nationalistischen Rechten ab?

Andreu Coll Blackwell: Wir wollen natürlich eine andere Gesellschaft als das katalanische nationalistische Bürgertum: Das will einen neoliberalen Staat, der eine Art privilegiertes Steuerparadies sein soll, ohne soziale Rechte (wie Andorra oder Liechtenstein). Wir versuchen, die Dynamik eines demokratischen Bruchs auf nationaler Ebene mit einer Erneuerung der sozialen, gewerkschaftlichen und politischen Linken zu verbinden. Diese Erneuerung hat mit der 15M-Bewegung begonnen. Wir stellen die Dynamik für eine neue Verfassung in Katalonien nicht in Gegensatz zu einer republikanischen Dynamik für den gesamten spanischen Staat.

SOZ: Wie erklärst du, dass die CiU die Regionalwahlen verloren hat, wenn die Stimmung für die Unabhängigkeit so stark ist?

Andreu Coll Blackwell: Es gab sehr viele Menschen, die die CiU abstrafen wollten, weil sie scharfe Haushaltskürzungen und ganz kriminelle Privatisierungsvorhaben zu verantworten hat; sie wollten ihre Stimme einer glaubwürdigeren und linkeren Variante des Strebens nach Unabhängigkeit geben. Meines Erachtens war die Wende der CiU hin zu einer separatistischen Position nicht ehrlich gemeint; andererseits wird sie ein noch größeres Wahldebakel verhindert haben. Mas, der Vorsitzende der CiU, hatte darauf gerechnet, dass angesichts der Krise der PSC und bei einem Kurswechsel in Richtung Unabhängigkeit vorgezogene Wahlen (die er durchgesetzt hatte) zu einer absoluten Mehrheit für die CiU führen müssten. Zum Glück ist das nicht eingetreten. Das wird uns helfen, das traditionelle Parteiensystem aufzubrechen und eine Situation politischer Instabilität zu schaffen, die die Durchsetzung der Sparpläne erschwert.

SOZ: Katalonien ist wirtschaftlich die stärkste Region Spaniens. Ist der Separatismus nicht ein chauvinistischer Reflex, hinter dem der Wille steht, den eigenen Reichtum nicht mit anderen teilen zu wollen?

Andreu Coll Blackwell: Katalonien ist keine Region, sondern eine moderne, bürgerliche Nation, die sich vor 200 Jahren gebildet hat, nach wie vor aber dominiert wird von einem Staat, der, obgleich reformiert, immer noch von einer grundbesitzenden Oligarchie und einer Finanz- und Militärclique kontrolliert wird, die parasitäre Züge wie im Ancien régime aufweist.

Dies gesagt, gibt es natürlich einen chauvinistischen Zug in den Forderungen der nationalistischen Bürgertums. Gleichzeitig gibt es jedoch auch einen großen Mangel an Demokratie im spanischen Staat: Er respektiert das Selbstbestimmungsrecht der katalanischen Bevölkerung nicht und diskriminiert sie bei der Verteilung öffentlicher Mittel.

Die Krise und die Sparmaßnahmen rufen alte Ressentiments wach und blockieren die Entwicklung von Klassenbewusstsein, in Katalonien wie in Spanien. Klar müssen die reichen Gebiete mehr zahlen, inakzeptabel ist aber, dass sie darüber hinaus auch weniger bekommen - der Staatsnationalismus gebärdet sich da ganz revanchistisch.

Vom leninistischen Standpunkt aus gesehen muss die katalanische Linke zuerst die katalanische Bourgeoisie angreifen und ihre Solidarität mit den arbeitenden Klassen im restlichen Staat betonen, während die spanische Linke in erster Linie den Mangel an Demokratie und die Nichtanerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung durch den spanischen Staat angreifen und für das Recht auf Unabhängigkeit Kataloniens, des Baskenlands usw. eintreten muss.

SOZ: Wie will deine Organisation, Revolta Global, chauvinistische Positionen bekämpfen, wenn sie mit den Bürgerlichen dieselbe Sofortforderung teilt? Ich meine: Wenn die Unabhängigkeit der erste Schritt sein soll und alles andere kommt danach, wie wollt ihr es dann schaffen, nicht im Schlepptau einer rechten Projekts zu sein, wenn die Rechten die dominierende Kraft in der Unabhängigkeitsbewegung sind?

Andreu Coll Blackwell: Wir sind für eine katalanische Republik, die solidarische Beziehungen zu den anderen Völkern im spanischen Staat und in Europa hat. Aber wir sind revolutionäre und internationalistische Kommunisten. Das bedeutet, wir werden nicht eine Heilige Allianz mit dem Bürgertum in der nationalen Frage bilden. Wir führen einen unermüdlichen Kampf gegen die Austeritätspolitik der katalanischen Bourgeoise, unsere konkreten Losungen gehen immer aus von der Verteidigung der Interessen der arbeitenden Klassen in ihrer Gesamtheit. Aber der Sturz der Monarchie, die Trennung von Kirche und Staat, die Agrarreform und die nationale Emanzipation sind demokratische Forderungen, die die Arbeiterklasse nicht dem Bürgertum überlassen kann. Im Gegenteil, sie müssen mit antikapitalistischen Zielen verbunden werden, im Sinne einer Methode der permanenten Revolution. In Spanien erleben wir heute den Beginn einer Regimekrise und einer sozialen Krise ähnlich der, die zur Zweiten Republik (1931) geführt hat.

SOZ: Wie verbindet ihr euch mit Arbeitern, die nicht für die Unabhängigkeit sind?

Andreu Coll Blackwell: Der Schlüssel für uns ist die zähe Verteidigung der sozialen und demokratischen Rechte auf der einen, und des Rechts, selber entscheiden zu können, auf der anderen Seite. Die Losung der Republik ist dabei wichtig und Teil des Selbstverständnisses der kämpferischen Linken, auch unter solchen Teilen der Arbeiterklasse, die eher spanisch als katalanisch fühlen. Am 25. November haben wir einen Aufschwung demagogischer unionistischer Parteien erlebt, die im Namen des Antinationalismus die "Heilige Union des unteilbaren spanischen Vaterlands" verteidigt haben. Sie sind aber ein Ausdruck der Zersetzung der Arbeiterbewegung: Keine linke Strömung - gleich ob Anarchisten, Sozialisten, Republikaner oder andere - hat jemals einen solchen Ansatz gehabt, auch dann nicht, wenn sie gegen die Unabhängigkeit war.

Die kommunistische Linke (angefangen bei der POUM) hat immer die freie Konföderation der Republiken verteidigt, nach dem Vorbild der Sowjetrepubliken zu Zeiten von Lenin und Trotzki.

Wir sind gegen eine Union ohne Freiheiten, die uns von der Armee, der Guardia Civil und der Audiencia Nacional aufoktroyiert wird (die Audiencia Nacional ist der Gerichtshof, der seit der Diktatur die politische Repression organisiert und de facto eine reformierte Fortsetzung des frankistischen Tribunal de Orden Público darstellt). Welche konkrete Haltung man zu einer Volksabstimmung einnehmen sollte, ist eine taktische Frage, die von den konkreten Kräfteverhältnissen abhängt. Vielleicht müssen wir auf die Idee von Joaquín Maurín (einer der Führer der POUM) zurückgreifen, der meinte, um das iberische Proletariat wirklich zu einen, müsse erst der spanische Staat zerschlagen werden.

SOZ: Ich nehme an, diejenigen, die die Unabhängigkeit wollen, wollen auch in der Eurozone bleiben. Was sagt ihr dazu?

Andreu Coll Blackwell: Wir sagen, dass die Troika den Völkern keine Freiheit bringt, dass die EU eine Maschine zur Vernichtung der sozialen und demokratischen Rechte ist und dass es pure Demagogie ist, von Unabhängigkeit zu sprechen, wenn man zugleich eine drakonische Sparpolitik durchführt. Sind Griechenland, Portugal oder Irland unabhängige Staaten? Unsere zentrale Losung ist: "Wir zahlen ihre Schulden nicht", auch nicht die der katalanischen, spanischen und deutschen Banken. Was wir brauchen, ist eine wirklich europäische Mobilisierung gegen die Austeritätpolitik.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 1, 28. Jg., Januar 2013, S. 5
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Januar 2013