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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1593: Niederlande - Neues Gesetz unterläuft Mindestlohn


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 11 - November 2011
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Niederlande
Neues Gesetz unterläuft Mindestlohn

Von Piet van der Lende


In den Niederlanden wird das bisherige Sozialsystem bald durch ein neues auf den Kopf gestellt.


In Deutschland gibt es neue Ansätze für subventionierte Arbeit [gemeint sind die 1-Euro-Jobs]. Dabei werden Arbeitsplätze geschaffen, bei denen die Arbeit zusätzlich sein muss - finanziert wird das mit EU-Geldern. Bis vor kurzem hatten wir in den Niederlanden ein ähnliches System, es ist jetzt aber ein Gesetz geplant, das zu ändern.

Bis vor kurzem gab es in den Niederlanden ein System subventionierter Arbeit, das nannte sich "Rein-Raus-Jobs" (Zustrom-Abwanderung-Jobs), die Arbeit musste eine zusätzlich sein. Rund 50.000 Arbeitslose wurden auf diese Weise beschäftigt. Häufig war diese Arbeit zuvor von "regulär" Beschäftigten geleistet worden, für einen normalen Lohn. Diese Arbeitsplätze wurden unter der liberalen Regierung Balkenende geschaffen.

Für die Wiedereingliederung von Arbeitslosen wurde viel Geld ausgegeben, z.B. für Trainingsmaßnahmen und Begleitung. Weil die Arbeitsvermittlung privatisiert wurde, bekamen Wiedereingliederungsbetriebe Geld vom Staat, um Arbeitslose in solchen Maßnahmen zu begleiten. Nach dem Ende der Regierung Balkenende übernahmen die Kommunen teilweise die "Rein-Raus-Jobs".


Opfer der Kürzungen

Die neue Regierung unter Ministerpräsident Mark Rutte (wie die vorherige wird sie aus einer Koalition von Liberalen und Christdemokraten gebildet, jedoch stützt sie sich auf die Partei von Geert Wilders) will binnen drei Jahren die staatlichen Haushaltsausgaben um 18 Milliarden Euro kürzen (2010 betrugen die Gesamtausgaben 254 Milliarden Euro). Zwei Milliarden dieser Kürzungen sollen im Sozialbereich erfolgen, insbesondere die Gelder, die für soziale Arbeitsbeschaffung und junge Behinderte aufgebracht werden, sollen zusammengestrichen werden.

Die Folge sind massive Ausgabenkürzungen bei der Wiedereingliederung von Arbeitslosen, auf staatlicher wie auf kommunaler Ebene; subventionierte Arbeit wird vollkommen abgeschafft. Wiedereingliederungsmaßnahmen soll es nur noch für solche Arbeitslose geben, die große Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Auch die soziale Aktivierung von Sozialhilfeempfängern, die keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, durch unbezahlte Arbeit wird abgeschafft.


Das neue System

Als Ersatz wurde ein neues System geschaffen. Das heutige Sozialhilfegesetz, das Gesetz über junge Behinderten (eine Art Volksversicherung) und das Gesetz zur Regelung der Arbeitsbedingungen von geistig Behinderten werden zu einem neuen Sozialhilfegesetz zusammengefasst. Damit gibt es nur noch eine Sozialhilferegelung für Behinderte und Langzeitarbeitslose.

Darüber hinaus gibt es eine Behindertenversicherung für Arbeitnehmer. Diese kann man jedoch nur in Anspruch nehmen, wenn man eine schwere Behinderung oder eine chronische Krankheit hat.

Die Arbeitslosenversicherung für Arbeitnehmer deckt nur einen kurzen Zeitraum ab. Menschen, die nicht versichert sind und arbeitsunfähig werden, erhalten die neue Sozialhilfe, ebenso wie die wachsende Gruppe von flexiblen Arbeitskräften, die selbständig sind.

Das neue Gesetz tritt ab dem 1. Januar 2013 in Kraft. Damit werden die folgenden Dinge abgeschafft:

- Subventionen für Arbeitgeber, die teilweise Behinderte oder Langzeitarbeitslose beschäftigen;

- subventionierte zusätzliche Arbeitsplätze, die keine reguläre Arbeit verdrängen;

- das Wiedereingliederungsgeld für kommerzielle Arbeitsvermittlungsbetriebe;

- die soziale Aktivierung von Langzeitarbeitslosen.

Unter dem neuen System muss die Arbeit, die Arbeitslose verrichten, nicht mehr zusätzlich sein. Diese Arbeiten werden bei kommerziellen Arbeitgebern verrichtet und umfassen dieselben Tätigkeiten, die auch reguläre, nicht behinderte Arbeitnehmer verrichten. Dieses System heißt "Lohn-Dispens-System".


Was ist das "Lohn-Dispens-System"?

In den Niederlanden gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn, auf dem das ganze System der sozialen Sicherheit basiert. Eigentlich dürfen Arbeitgeber niemandem weniger als diesen Mindestlohn bezahlen. Durch das neue System erhalten die Arbeitgeber jedoch "Dispens", d.h. es wird ihnen freigestellt, ob sie den gesetzlichen Mindestlohn oder den Tariflohn bezahlen, wenn sie Behinderte einstellen.

Wie viel weniger sie bezahlt dürfen, regelt im neuen Gesetz ein kompliziertes Mess- und Beurteilungssystem. Dabei wird zunächst festgestellt, ob man zur Zielgruppe gehört, wobei aber kein Unterschied mehr gemacht wird zwischen Langzeitarbeitslosen und Behinderten. Langzeitarbeitslose gelten nun als "teilweise behindert", weil sie bestimmte Arbeitsfähigkeiten verloren haben.

Dazu werden die Betreffenden von einem Arzt untersucht, der beurteilt, ob man eine geistige oder körperliche Behinderung hat. Ist dies der Fall, erhält man bei einer Anstellung die ersten drei Monate keinen Lohn, sondern Sozialhilfe. In dieser Zeit beurteilen die Arbeitgeber gemeinsam mit den zuständigen Beamten den "Lohnwert" der teilweise Behinderten. Dazu erfolgt eine Leistungsbeschreibung der Arbeit des teilweise Behinderten, d.h. eine Definition der Leistung, die dieser erbringen muss.

Anschließend wird auf der Basis von 20 bis 30 Variablen die Arbeitsproduktivität der anderen Arbeitskräfte ermittelt, die dieselbe Aufgabe erfüllen. Die Variablen beziehen sich nicht nur auf die Arbeit als solche, sondern auch darauf, wie sich der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz benimmt: Wie leicht knüpft er soziale Kontakte?, wie schnell erfüllt er einen Auftrag?, meldet seinem Chef etwaige Schwierigkeiten? usw.

Jede Variable erhält einen bestimmten Wert, die Werte werden verglichen mit den durchschnittlichen Werten bei der Erfüllung der jeweiligen Aufgaben. Auf dieser Basis wird der Prozentsatz der Leistung ermittelt, die der teilweise Behinderte erbringt, und damit sein "Arbeitswert" errechnet. Wenn er also 40% der durchschnittlichen Arbeitsleistung erbringt, muss der Arbeitgeber nur 40% des gesetzlichen Mindestlohns bezahlen. Weil der Betreffende damit zu weit unter das sozialen Minimum rutschen würde, wird sein Lohn im Rahmen des neuen Sozialhilfegesetzes auf etwas mehr als das soziale Minimum aufgestockt.

Im neuen System erhält der teilweise Behinderte, der arbeitet, 70% des gesetzlichen Mindestlohnes, was dem sozialen Minimum entspricht. Es lohnt sich also zu arbeiten. Man verdient jedoch nie den vollständigen Mindestlohn.

Dieses neue System ist jedoch ein Jagdsystem. Denn jedes Jahr wird die Arbeitsproduktivität des teilweise Behinderten neu beurteilt. Doch selbst dann, wenn der Arbeitnehmer seine Produktivität steigert, ihm also beispielsweise 50% des Mindestlohns gezahlt werden, erreicht er nie die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns. Viele Arbeitslose akzeptieren dieses System trotzdem, weil es etwas mehr bietet als die Sozialhilfe und man sich verbessern kann.


Arbeitslose protestieren

Die subventionierten Jobs für Arbeitslose waren gegenüber der Sozialhilfe eine große Verbesserung, es waren normale Jobs mit einem normalen Arbeitsvertrag für etwas mehr als den gesetzlichen Mindestlohn. Als bekannt wurde, dass man diese Jobs abbauen will, gingen die Arbeitslosen, die solche Jobs hatten, aus Protest auf die Straße - sie wollten diese Jobs behalten. Die Proteste blieben aber örtlich beschränkt und isoliert, weil die Gewerkschaften sie nicht unterstützten - die sind der Ansicht, dass subventionierte Jobs nicht gut sind und die Leute in reguläre Beschäftigungsverhältnisse kommen sollen.

Die Arbeitslosen, die für den Erhalt ihrer subventionierten Jobs auf die Straße gingen, wollten jedoch nicht zurück in die Sozialhilfe. Denn wegen der Ausgabenkürzungen in den Haushalten haben sie wenig Aussicht auf eine andere Arbeit in der Kommune, nur einigen gelingt es, eine solche Arbeit zu finden, der Rest fällt in die Sozialhilfe zurück oder geht in das neue System über. Vermutlich werden sich trotzdem viele für das neue System entscheiden.

Die Gewerkschaften sprechen sich gegen das oben erläuterte neue System des Lohndispenses aus, werden es aber vermutlich nicht verhindern können, da sogar die Grünen ihre Zustimmung zu dem Gesetz angekündigt haben. Doch die Aktionen der Gewerkschaften gegen das neue System richten sich nicht gegen die Behandlung der Arbeitslosen und Sozialhilfebeziehenden, sondern zielen darauf ab, mehr Geld herauszuschlagen.

Auch wollen sie das Gesetz für junge Behinderte und die Arbeitsbestimmungen für geistig Behinderte beibehalten. Der Grund: Sozialhilfebezieherinnen sind nicht in Gewerkschaften organisiert, und für die Rechte von Arbeitslosen bekommt man weniger gesellschaftliche Unterstützung als für Behinderte - dies würde jedoch kein Gewerkschaftsvertreter je öffentlich sagen.

Natürlich wird das neue System mit idealistischen Argumenten angepriesen: Arbeit sei das Beste für jeden, die Menschen könnten sich entfalten, die Chancen von teilweise Behinderten und Langzeitarbeitslosen, einen Job zu finden, würden durch dieses System erhöht, usw.

Aktuell gibt es Modellversuche in 32 Gemeinden, um zu sehen, wie das neue System wirkt. Trotz vielfacher Bemühungen, das Gesetz schon im kommenden Jahr einzuführen, wird es wohl bei Anfang 2013 bleiben.


Piet van der Lende arbeitet in der Amsterdamer Erwerbsloseninitiative Bijstandsbond und ist Mitglied bei den Europäischen Märschen gegen Erwerbslosigkeit. Er hielt diesen Beitrag im Rahmen eines Workshops der Euromärsche auf der Attac-Sommerakadamie 2011.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 11, 26.Jg., November 2011, Seite 12
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. November 2011