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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1333: Freispruch für Cap Anamur - das Sterben im Kanal von Sizilien geht weiter


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 11 - November 2009
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Agrigent, Sizilien
Freispruch für Cap Anamur
Abseits der Scheinwerfer geht das Sterben im Kanal von Sizilien weiter

Von Angela Huemer


Nach einem dreijährigen Prozess wurden der Kapitän Stefan Schmidt und Elias Bierdel, die ehemaligen Leiter der Hilfsorganisation Cap Anamur von der Beihilfe zur illegalen Einwanderung freigesprochen; die Anklage gegen den Ersten Offizier, Wladimir Daschkewitsch, wurde komplett fallen gelassen. Die Staatsanwaltschaft hatte je vier Jahre Gefängnis und eine Geldstrafe von 400.000 Euro gefordert. In einem ähnlichen Prozess wird am 17. November ein Urteil gefällt: Angeklagt sind tunesische Fischer, die im August 44 Menschenleben retteten.


Was war vor fünf Jahren geschehen? Im Juni 2004 hatte Stefan Schmidt, pensionierter Kapitän und Freiwilliger für die deutsche Hilfsorganisation Cap Anamur, 37 afrikanische Schiffbrüchige nahe Lampedusa vor dem sicheren Tod gerettet. Der Hafen von Lampedusa war zu klein, also steuerte man Porto Empedocle in Südsizilien an.

Kurz vor der Einfahrt in den Hafen kam der Schock: Die italienischen Behörden - vermutlich auf obersten Befehl aus dem Innenministerium - verwehrten dem deutschen Hilfsschiff die Einfahrt. Die Folge: Das Schiff lag tagelang knapp außerhalb der italienischen Gewässer. Tag und Nacht bewachten italienische Sicherheitsbehörden den deutschen Frachter. Die Situation wurde untragbar, einige der Schiffbrüchigen drohten damit, sich über Bord zu werfen, der Kapitän entschied in den Hafen einzufahren.

Sofort nach der Anlandung wurden Elias Bierdel, Stefan Schmidt und der erste Offizier verhaftet. Die Schiffbrüchigen brachte man direkt in ein Abschiebelager, binnen weniger Wochen wurden alle, bis auf zwei, nach Ghana abgeschoben, obwohl ihre Nationalität nie endgültig festgestellt wurde. Fünf Tage waren Elias Bierdel, Stefan Schmidt und Wladimir Daschkewitsch in Haft, eineinhalb Jahre später, im November 2006 eröffnete das Gericht von Agrigent den Prozess.

Die Angeklagten Elias Bierdel und Stefan Schmidt sahen nicht allein dem Urteilsspruch entgegen. Neben den zahlreichen sizilianischen Unterstützern war auch eine Delegation aus Lübeck im spätsommerlichen Agrigent eingetroffen. Lübeck ist nicht nur die Heimat des Kapitäns Stefan Schmidt, es ist auch der Heimathafen des Schiffes Cap Anamur. Die Bürger der Stadt hatten den Umbau des Schiffs zu einer "humanitären Einheit", komplett mit Krankenstation, finanziell und moralisch unterstützt; einige waren anwesend, als es am 29. Februar 2004 in See stach. Seither wurde es zunächst von den Italienern beschlagnahmt, später von Cap Anamur verkauft.

Am Abend vor der Urteilsverkündung überreichten Vertreter der Humanistischen Union, des Lübecker Forums für Flüchtlinge und Pastor Kai Gusek von der Lübecker Diakonie eine Grußbotschaft ihrer Stadtpräsidentin, Gabriele Schopenhauer, dem Agrigentiner Präfekten, Umberto Postiglione. Dieser gab sich jovial und interessiert. Wortreich gab er zu verstehen, dass er sich nicht zu den Prozessen gegen die Cap Anamur und die tunesischen Fischer äußern wollte und ließ durchblicken, dass dort, wo Rauch ist, auch Feuer sein muss, sprich, die Prozesse nicht ohne Grund eröffnet worden seien. Italien hätte schon Tausende Menschen gerettet, und das Mittelmeer, so der Präfekt, sei in "Frontex-Zonen" unterteilt, die verteidigt werden müssen. Das ist ein kleiner Irrtum, denn "Frontex-Zonen" gibt es nicht, vielmehr gibt es SAR-Zonen (Sicherheits- und Rettung).


Das Sterben geht weiter

Nach der Begegnung mit dem Präfekten gestalteten Vertreter der Delegation gemeinsam mit der NGO Borderline Europe vor der Agrigenter Präfektur eine Gedenkfeier für die vielen unbekannten toten Flüchtlinge, zeitgleich gab es ähnliche Feiern in Kiel und Lübeck.

Kurz darauf, um Mitternacht, brachte die Küstenwache rund 15 nordafrikanische Flüchtlinge in den Hafen von Agrigent, Porto Empedocle. Ganz in der Nähe ertranken in denselben Tagen sieben Flüchtlinge vor der Küste von Gela.

Laut Berichten von Fortress Europe überquerten in den Tagen rund um die Cap Anamur-Urteilsverkündung rund 250 Menschen den Kanal von Sizilien, rund 100 davon erreichten Malta. Von Anfang Mai bis Anfang Juli wurden 1122 Flüchtlinge direkt nach Libyen abgeschoben - die Abschiebungen scheinen weniger zu werden, sagt Fortress Europe.

Wie dramatisch die Lage im Kanal von Sizilien ist, zeigte sich Ende Oktober: Ein Schiff mit 298 Menschen an Bord schlug am Freitag, dem 23. Oktober, Alarm. Das zuständige Malta griff nicht ein und auch Libyen schickte keine Rettung. Daraufhin sandte die italienische Küstenwache den Öltanker Antignano als Beistand. Erst am Montag, bereits in italienischen Gewässern, konnten die Flüchtlinge bei äußerst widrigen Wetterbedingungen (Windstärke 20 Knoten) in Boote der italienischen Küstenwache umsteigen. Ein Mann konnte nur noch tot geborgen werden. Die Flüchtlinge kommen allesamt aus Eritrea und Somalia.

Bis Mitte Dezember wird das Gericht die Urteilsbegründung veröffentlichen, dann hat die Staatsanwaltschaft theoretisch 45 Tage lang die Möglichkeit, Einspruch zu erheben. Doch ein "gutes Ende" ist das mitnichten, der Fall markiert den Beginn einer skrupellosen und teils gesetzeswidrigen massiven Abschottungspolitik Italiens und der EU. Allein in den letzten Jahren gehen die Opfer dieser Politik in die Zehntausende. Obwohl die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft allesamt entkräftet wurden, bangte Vittorio Porzio, der neapolitanische Verteidiger, bis zuletzt: "Zwei und zwei sind vier in der Mathematik, doch leider nicht in der Justiz."

Am 17. November wird das Gericht von Agrigent das Urteil im Prozess gegen die sieben tunesischen Fischer fällen: Sie retteten im August 2007 44 Menschen das Leben vor Lampedusa und wurden wegen "Beihilfe zur illegalen Einreise" angeklagt.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 11, 24.Jg., November 2009, Seite 15
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. November 2009