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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1310: Eine Bilanz der Großen Koalition


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 9 - September 2009
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

"Es ist unfair, Politiker an ihren Wahlversprechen zu messen"
Eine Bilanz der Großen Koalition

Von Andrej Hunko


Die Große Koalition war eine naht- und geräuschlose Fortsetzung der Politik der vorangegangenen rot-grünen Koalition. Ihre "Leistungen" sind verheerend.


Die große Koalition von 2005-2009 war keine Wunschkoalition. Die Sozialdemokraten wollten mit Schröder und Fischer die rot-grüne Koalition der vorangegangenen Jahre fortsetzen, die CDU wollte gemeinsam mit der FDP an die bleierne Zeit der Kohl-Ära anknüpfen. Durch den Einzug der Linkspartei in den Bundestag reichte es jedoch weder für eine schwarz-gelbe, noch für eine rot-grüne Mehrheit.

Zum zweiten Mal in der bundesdeutschen Geschichte kam es deshalb zu einer "Großen Koalition" von SPD und CDU. Die erste Große Koalition von 1966-1969 fiel mit dem Aufbruch der 68er Jahre zusammen; am Ende stand ein Linksrutsch der Gesellschaft - sowohl parlamentarisch als auch außerparlamentarisch. Trotz Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und Lohndumping ist am Ende der zweiten Großen Koalition ein vergleichbarer Aufbruch nicht in Sicht.


Die Mehrwertsteuerlüge

Die CDU kündigte im Wahlkampf 2005 die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16% auf 18% an. Mehrwertsteuererhöhung schlägt voll auf die Gebrauchsgüter um und trifft damit immer in erster Linie die finanziell Schwachen. Ein gefundenes Wahlkampfthema für die SPD: "Keine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Nicht in nächster Zeit und nicht in der kommenden Legislaturperiode" (Franz Müntefering, Sächsische Zeitung, 19.August 2005) war eine ihrer zentralen Wahlaussagen.

Eine der ersten Maßnahmen der Großen Koalition war dann die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 19%. Kompromisse sind in der Politik sicher manchmal nötig. Warum aber der Kompromiss zwischen 16% und 18% bei 19% liegt, bleibt ein sozialdemokratisches Geheimnis. Aber wie sagte Franz Müntefering: "Es ist unfair, Politiker an ihren Wahlversprechen zu messen."

Diese Entscheidung sollte richtungsweisend für die Große Koalition sein.


Rente mit 67: Arbeiten bis der Arzt kommt

Insgesamt verabschiedeten die Abgeordneten in der letzten Legislaturperiode etwa 600 Gesetze. Eines der Gesetze mit den nachhaltigsten Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der meisten Menschen ist das "RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz" (Rente mit 67), das am 30.3.2007 gegen heftigen Widerstand in der Bevölkerung mit den Stimmen von SPD und CDU beschlossen wurde.

Angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt bedeutet das Gesetz eine drastische Rentenkürzung. Altersarmut wird in den nächsten Jahren dramatisch zunehmen. Wieder war es Franz Müntefering, der das Gesetz gegen Kritik aus den Gewerkschaften und Seniorenverbänden verteidigte: "Darauf sind wir auch stolz", erklärte er mit Bezug auf die beschlossene Absenkung des Rentenniveaus auf 46% bis 2020.


Hartz-IV-Schraube weiter gedreht

Der Kernpunkt bei der Einführung der Hartz-Gesetze durch die rot-grüne Bundesregierung war die Rechtsumkehr gewesen: Galt bis dahin prinzipiell, dass Erwerbslose Versicherungs- und Qualifikationsschutz hatten und es die Aufgabe der Gesellschaft war, ausreichend Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen, so hat sich das mit Einführung von Hartz IV grundlegend geändert. Erwerbslosigkeit wird auf Versagen des Einzelnen zurückgeführt, Aufgabe der "Arbeitsagenturen" und ARGEn ist es, die Erwerbslosen zu "motivieren", zu "fördern" und zu "fordern" Der Rahmen der Hartz-Gesetze ermöglicht es jeder Bundesregierung, entsprechend den Kapitalinteressen und unter Berücksichtigung der politischen Stimmung die Schrauben fester anzuziehen.

Das sog. Hartz-IV-Fortentwicklungsgesetz aus dem Jahre 2006 war so eine weitere Umdrehung an der Hartz-Schraube: Arbeitslose müssen fortan beweisen, dass sie nicht in eheähnlicher Gemeinschaft leben. Einer beispiellosen Schnüffelpraxis wurde damit Tür und Tor geöffnet: Zwei Weingläser am Bett können nun Grund für die Kürzung der ALG-II-Bezüge sein.

Zum 1. Januar 2007 wurde nochmals weiter gedreht: Eine "Stallpflicht" für junge Erwerbslose bis 25 Jahre wurde eingeführt: Sie bekommen nur noch 80% des ALG II und müssen bei ihren Eltern wohnen. Zudem wurde das Sanktionsinstrumentarium bei "Pflichtverletzungen" deutlich ausgebaut, Kürzungen bis zu 100% der Leistungen wurden möglich.


Niedriglöhne ausgedehnt

Die von Rot-Grün eingeführten und von der Großen Koalition "fortgesetzten" Hartz-Gesetze stellen nicht nur eine schwere Verletzung der Menschenrechte dar, sie wirken auch fatal auf das Lohngefüge aller abhängig Beschäftigten. Unter der Großen Koalition hat sich ein beispielloser Niedriglohnsektor entwickelt. Eine kürzlich veröffentlichte Studie des "Instituts für Arbeit und Qualifikation" der Uni Duisburg-Essen kam zu dem Ergebnis, dass Niedriglöhne in Deutschland stark ansteigen.

Gleichzeitig stieg die durchschnittliche Wochenarbeitszeit, während der Krankenstand bei den Beschäftigten auf ein Rekordtief gesunken ist. Die Angst vor Hartz IV wirkt als verinnerlichte Peitsche. Deutschland gehört mittlerweile in puncto Arbeitsbedingungen vom Standpunkt der Lohnabhängigen zum Schlusslicht vergleichbarer europäischer Länder.


Militarisierung vorangetrieben

Der rot-grüne Militarisierungsschub durch die Beteiligungen an den Kriegen gegen Jugoslawien (1999), Afghanistan (2001) und den Irak (2003) wurde unter der Großen Koalition systematisch fortgesetzt. Die Zahl der in Afghanistan stationierten Soldaten wurde von 2500 auf 4500 erhöht. Weitere Militäreinsätze, wie im Kongo oder an der somalischen Küste, wurden beschlossen. Der "Verteidigungsetat" stieg laut Spiegel unter der Großen Koalition von 24 auf 31,2 Mrd. Euro.

In den Jahren 2004-2008 stiegen laut SIPRI die deutschen Rüstungsexporte im Vergleich zu den Jahren 1999-2003 um 70%. Deutschland ist zum drittgrößten Rüstungsexporteur der Welt geworden.

Mit der 2007 eingeführten, verfassungsrechtlich umstrittenen, Vorratsdatenspeicherung wurde die gesamte Bevölkerung in Deutschland unter einen terroristischen Generalverdacht gesetzt: Die Anbieter von Telekommunikationsdienstleitungen sind verpflichtet, sämtliche Kommunikationsvorgänge der Nutzerinnen zu speichern, ohne dass ein Anfangsverdacht oder konkrete Hinweise auf Gefahren bestehen.


Europapolitik: Agieren in der verfassungsrechtlichen Grauzone

Ein zentraler Meilenstein der Regierung Merkel war die Durchsetzung des sogenannten Lissabon-Vertrags als Ersatz für den in Frankreich und den Niederlanden per Referendum abgelehnten Verfassungsvertrag. Angela Merkel spielte dabei auf europäischer Ebene eine Schlüsselrolle und wurde dafür mit dem Aachener Karlspreis ausgezeichnet.

Am 24.April stimmte der Bundestag - nur wenige Tage nachdem eine konsolidierte Fassung des Vertragswerk überhaupt vorlag - mit den Stimmen der ganz großen Koalition (SPD, CDU, FDP und Grüne) für den Vertrag - er stellt auf Jahrzehnte hinaus die europäischen Leitplanken in Richtung Militarisierung und Neoliberalismus. Das Bundesverfassungsgericht urteilte, das vom Bundestag beschlossene Begleitgesetz zum Lissabonvertrag verstoße gegen die Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat. Eine Neufassung des Begleitgesetzes soll noch in dieser Legislatur durchpeitscht werden.


Finanzmarkt - das Casino soll offen bleiben

Zu den weitreichendsten Beschlüssen der Großen Koalition gehört zweifellos das Bankenrettungspaket Ende 2008 in Höhe von 500 Mrd. Euro.

Hintergrund dieser gigantischen Subventionierung des Bankenwesens auf Kosten der Allgemeinheit war die massive Finanzkrise aufgrund des jahrelang aufgeblähten Spekulationssektors - nicht zuletzt bedingt durch die Einführung von Hedge-Fonds, Swaps und anderen hochriskanten Finanzprodukten im Rahmen des "Finanzmarktmodernisierungsgesetzes", das am 1.1.2004 durch die ganz große Koalition von SPD, CDU, FDP und Grünen beschlossen wurde.

Mit dem Bankenrettungspaket, dessen Tragweite noch nicht abzusehen ist, wird die öffentliche Hand auf Jahrzehnte belastet. Die ungedeckten Schecks, die binnen kürzester Zeit in unvorstellbarer Höhe ausgestellt wurden, werden nach der Bundestagswahl bei der Bevölkerung eingelöst werden - egal ob von einer schwarz-gelben oder einer erneuten Großen Koalition. Steuererhöhungen, weitere soziale Einschnitte und die Belastung der kleinen und mittleren Einkommen werden die Folge sein.


Kleinere Übel?

Trotz all dieser Gesetze, die sich gegen die Bevölkerungsmehrheit richten, ist eine Wende nach der Bundestagswahl nicht in Sicht. Die einzige Opposition im Bundestag, DIE LINKE, wird durch regelmäßige Medienkampagnen, meist genährt durch den eigenen rechten Flügel, stabil bei 10% gehalten. Die sozialen Bewegungen sind in den letzten beiden Jahren abgeflaut. Angstdiskurse, wie die Warnungen vor "sozialen Unruhen", vor vermeintlichen Terroristen oder vor der "Schweinegrippe", sollen die Aufmerksamkeit ablenken.

Die Große Koalition war eine naht- und geräuschlose Fortsetzung der Politik der vorangegangen rot-grünen Koalition. Es ist zu erwarten, dass die gleiche Politik ebenso naht- und geräuschlos nach dem 27. September fortgesetzt wird, ob von Schwarz-Gelb, einer Großen Koalition oder von "Jamaika" Diese "Übel" unterscheiden sich lediglich in ihrer gesellschaftlichen Wirkung. Es sind allesamt unterschiedlich wirkende große Übel.

Eine Linksverschiebung wie am Ende der ersten Großen Koalition 1966 bis 1969 ist angesichts des Festhaltens von SPD und Grünen an der Kriegspolitik und ihrer neoliberalen Ausrichtung nicht in Sicht. Entscheiden wird sein, wieviel Druck von links ausgeübt wird - parlamentarisch und außerparlamentarisch.


Der Autor Andrej Hunko kandidiert auf der Liste der LINKEN für den Bundestag.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 9, 24.Jg., September 2009, Seite 3
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. September 2009