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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1284: Gewerkschaften als Ordnungsmacht gefragt


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6 - Juni 2009
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Angst vor sozialen Unruhen
Gewerkschaften als Ordnungsmacht gefragt

Von Jochen Gester


Auf den Seiten der Financial Times Deutschland sucht Redakteur Wolfgang Münchau nach den Gründen dafür, dass man sich hierzulande über den Religionsunterricht streitet, während "im Rest der Welt" die größte Wirtschaftskrise seit 70 Jahren wütet und die Debatten beherrscht.

Keineswegs liege das daran, dass die Bundesrepublik nur marginal betroffen sei. Münchau sieht das herrschende Krisenmanagement in Gefahr: "Ich gehöre zu denen, die soziale Unruhen im Land befürchten, nicht nur wegen der Krise, sondern vor allem weil sie die Bevölkerung ziemlich unvorbereitet trifft ... die Wut wird kommen. Wenn die Arbeitslosigkeit wieder steigt, zunächst auf 4 Millionen, dann auf 5 Millionen ... Mit jedem Jahr der Krise - ich erwarte fünf Quasistagnationen von 2010 an - wird die Lage auf dem Arbeitsmarkt kritischer ... Und wenn es Politiker ungern zugeben: Natürlich wird der Steuerzahler bezahlen. Es ist völlig egal, ob wir den Rettungsfonds außerhalb unserer volkswirtschaftlichen Bilanzen laufen lassen ... Man sollte daher die merkwürdige Ruhe im Land nicht falsch interpretieren. Es ist nicht die Ruhe einer mit sich selbst zufriedenen Gesellschaft. Es ist die Ruhe vor dem Sturm."

Diese Befürchtungen bilden den Hintergrund dafür, dass "die Gewerkschaften zurück sind", wie es Die Zeit ausdrückt. Dies könnte eigentlich ein Grund zur Freude sein, könnte man dem naheliegenden Gedanken vertrauen, dass es immer solche Stürme waren, in denen dem Kapitalismus wenigstens zeitweilig ein paar zivilisatorische Pflöcke ins Fleisch geschlagen werden konnten. Doch spricht wenig dafür, dass das Gerede über die Renaissance der Gewerkschaften aus solchen Hoffnungen gespeist wird. Gefragt ist die Gewerkschaft nämlich als Ordnungsmacht: "Die Eliten brauchen die Gewerkschaften." Ohne sie drohen wilde Streiks, hat der Jenaer Sozialwissenschaftler Klaus Dörre dem Tagesspiegel erklärt. Und viel spricht dafür, dass die Mehrheit derer, die heute die Politik der Gewerkschaften prägen, darin keine Falle sehen, sondern eine Chance, erneut als Verhandlungspartner gefragt zu sein und so die Zeit ihrer Stigmatisierung zu beenden.

Es vergeht kaum ein Interview, in dem der DGB-Vorsitzende Michael Sommer nicht signalisiert, dass die Gewerkschaften sich ihrer staatstragenden Rolle bewusst sind. So war seine Warnung vor sozialen Unruhen auch nichts anderes als der Hinweis darauf, dass diese nur mit Hilfe der Gewerkschaften zu verhindern seien. Wenn nach der Wahl die Krisenlasten auf die Opfer abgeladen würden, entstehe ein explosives Gemisch. "Das könnte Zorn und Wut der Betroffenen auslösen. Das will ich vermeiden." Von Revolte wolle er nicht sprechen, für das Einsperren von Chefs mag er keine Gründe gelten lassen, und das aktuelle Demonstrations- und Streikrecht reicht ihm voll aus.

Für solche Erkenntnisse muss der SPD-Mann keinen Bruch seiner politischen Biografie in Kauf nehmen. Im Vergleich zum "real existierenden Sozialismus", den das frühere SEW-Mitglied lange verehrte, ist das im europäischen Maßstab stark kastrierte deutsche Koalitionsrecht ja schon die halbe Anarchie. In diesem Geiste voran geht auch der Leiter seiner Grundsatzabteilung, Wolfgang Schabedoth, der nach seiner K-Gruppenzeit in die Vorstandsverwaltung der IG Metall wechselte und sich dort mit einer medialen Abkanzelung der Delegierten des Gewerkschaftstags empfahl, die sich in den 90er Jahren mutig gegen die Aushebelung des Asylrechts und weltweite Einsätze der Bundeswehr aussprachen. Schabedoth will jetzt die Agenda 2010 "weiterentwickeln" Sein Credo: "Durchsetzungskraft entscheidet sich nicht auf der Straße."

Der neue Schulterschluss mit den prominenten Architekten der Agenda 2010 in der SPD passt hier gut ins Bild. Franz Müntefering lief am 16. Mai in der dritten Reihe der Demonstration; Peer Steinbrück durfte in Bergkamen wieder die 1. Mai-Rede halten. 2004 war er wegen Hartz IV in Köln noch von der Bühne gepfiffen worden. Der IG-Metall-Vorsitzende Huber versucht derweil, die verspielte Kreditwürdigkeit der Familie Schaeffler - der Autozulieferer, der Conti übernehmen wollte - wiederherzustellen. Denn nicht nur deren Fusionspläne sind geplatzt; auch die in der Vergangenheit gepflegte Ablehnung jeder Kooperation mit den Gewerkschaften ist der Dame mit dem roten Schal auf die Füße gefallen. Doch die Tränen flossen aus einem harten Herz: Es bleibt bei 4500 Entlassungen in Deutschland - weltweit 8000; nur die IG Metall darf jetzt mitreden und die Entlassungen mit verantworten.

Im bereits zitierten Artikel der Zeit erzählt der hessische Bezirksleiter der IG Metall, Armin Schild, stolz von seinem roten Telefon zum Chef des Metallarbeitgeberverbands, durch das sich Konflikte sofort ausräumen ließen. Das funktioniere gut, doch sorge er sich manchmal, dass die Leute zu viel erwarten. Die Krise "birgt für uns eine Chance, aber auch ein Megarisiko". Die Zeit-Redakteure Ruzio und Tenbruck verstehen: Auch gemäßigte Gewerkschaftsführer wie Sommer und Huber müssten mitunter zu drastischen Worten greifen. "Doch diese Strategie hat ihre eigenen Risiken. Einen Teil der möglichen Mitglieder der Zukunft schrecken solche harschen Töne ab, bei anderen wecken sie große Erwartungen - denen dann irgendwann auch kämpferische Aktionen folgen müssen."

Die Erwartungen der Lohnabhängigen an die Gewerkschaften haben sich in den letzten Jahren messbar verändert. Knapp 40% haben laut einer repräsentativen Umfrage "großes oder "sehr großes" Vertrauen in die Gewerkschaften. So viel waren es lange nicht mehr. Das Vertrauen in die Arbeitgeber ist abgestürzt. Dieser untergründige Meinungsumschwung hat auch IG Metall und Ver.di im letzten Jahr erstmals wieder positive Bilanzen bei Einnahmen und Mitgliedern verschafft.

Doch die Voraussetzungen dafür, dass die Neueintritte sich in gewerkschaftlicher Aktivität niederschlagen und so tatsächlich Bewegung erzeugen, sind noch nicht gegeben. In den Daimler-Werken Stuttgart-Untertürkheim und Berlin-Marienfelde haben sich die der IGM-Mehrheitsströmung nahestehenden Betriebsräte bereit erklärt, mit der Geschäftsleitung eine Paket zu schnüren, in dem die Belegschaften auf geldwerte Leistungen verzichten. Um die Vereinbarung nicht zu gefährden, wurden Betriebsversammlungen in Info-Stunden verwandelt. Entscheidender Unterschied: "Eine Aussprache ist nicht vorgesehen."

Die große Kampagne, auf die sich die IG Metall jetzt konzentriert, heißt: "Deine Stimme für ein gutes Leben." Sie besteht aus einem wenig konkreten Fragebogen, der von mehreren hunderttausend Metallern beantwortet werden soll. Am Ende sollen 50.000 Kolleginnen und Kollegen die Frankfurter Fußballarena füllen und am 5.September den Reden von Bertold Huber und Detlef Wetzel lauschen, die der Politik die Forderungen der IG Metall präsentieren. Ist das schon der dickste Hammer, mit dem "die größte Einzelgewerkschaft der Welt" drohen kann? In der bürgerlichen Presse weiß man diese Art der Mitgliederbeschäftigung zu schätzen. Detlef Esslinger schreibt in der Süddeutschen Zeitung nach Ablauf des 1.Mai:

"Wer mit dem 1. Mai nichts anzufangen vermag, wer die Diktion der Bsirskes und Sommers auf Dauer langweilig findet, der soll sich nur mal kurz vorstellen, wie es wohl wäre, wenn einer vom Typ Lafontaine an diesem Tag die große Rede schwingen könnte. Der würde nicht die Rettungsschirme für die einen verteidigen, indem er auch welche für die anderen fordert. Der würde versuchen, jene soziale Unruhe zu erzeugen, von der der gegenwärtige DGB-Chef nur schwadroniert. Die Gewerkschaftspolitik gerade in diesen Wochen zeigt: Die Langweiler sind gar nicht so schlecht für das Land."


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6, 24. Jg., Juni 2009, Seite 7
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juni 2009