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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1267: Die Abschiebelager in Nordafrika gibt es - in Libyen


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 5 - Mai 2009
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Die Abschiebelager in Nordafrika gibt es - in Libyen
Judith Gleitze über die Lage der Flüchtlinge vor der italienischen Küste und die Arbeit von borderline-europe

Von Angela Huemer


Im Juni 2004 rettete die "Cap Anamur", das Schiff der gleichnamigen Hilfsorganisation, 80 Meilen vor der Mittelmeerinsel Lampedusa 37 Flüchtlinge vor dem sicheren Tod. Die italienische Regierung verweigerte - in Übereinkunft mit der deutschen Regierung - dem Schiff die Einfahrt in den sizilianischen Hafen Porto Empedocle. Nach einer zweiwöchigen Irrfahrt auf See wurden die 37 Schiffbrüchigen in Abschiebehaft genommen und kurz darauf abgeschoben. Der Kapitän, der Erste Offizier und Elias Bierdel (bis Oktober 2004 Leiter von Cap Anamur) wurden wegen "Beihilfe zur illegalen Einwanderung" verhaftet. Der Prozess läuft derzeit noch, das Urteil wird für Anfang Mai erwartet.
Judith Gleitze war langjährige Geschäftsführerin des Flüchtlingsrats Brandenburg und Vorstandsmitglied von Pro Asyl; sie ist Mitgründerin von borderline-europe, Menschenrechte ohne Grenzen e.V. und borderline-sicilia. Sie beschäftigt sich vor allem mit der Situation der Flüchtlinge in Italien. Mit ihr sprach Angela Huemer.


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SOZ: Nehmen wir mal die Blockade der Cap Anamur vor fünf Jahren zum Anlass für eine Bestandsaufnahme. Wie hat sich die Situation seither verändert? Damals entstanden ja einige neue Ideen - z.B. die, Erstaufnahmelager und Asylverfahren in Nordafrika zu schaffen. Was ist daraus geworden?

JUDITH GLEITZE: Das ist eine sehr umfassende Frage. Die Idee der Lager in Nordafrika hat damals große Empörung bei Menschenrechtsorganisationen ausgelöst. Dann sprach man nicht mehr davon - und dennoch existieren sie längst. Schauen wir uns z.B. Libyen an: Die Libyer werden von der EU umgarnt, damit sie bei der Abschottung Europas mithelfen. Längst haben sie abgeschobene und aufgegriffene Migranten inhaftiert, z.B. im Lager Misratha, in dem seit fast drei Jahren an die 600 Eritreer festsitzen. Auch die 21 Überlebenden des Schiffbruchs Ende März 2009 vor der libyschen Küste wurden nach ihrer Rettung schlicht inhaftiert, wann und wie sie aus dem Lager wieder rauskommen, ist völlig ungewiss. Die Lageridee wird also längst umgesetzt, auch wenn man sie nicht, wie damals geplant, Lager für die Prüfung von Asylanträgen noch vor der Einreise in die EU nennen kann - diese Chance besteht dort nicht.


SOZ: In demselben Jahr, als die Blockade der Cap Anamur stattfand, wurde auch die EU-Grenzschutzagentur Frontex gegründet.


JUDITH GLEITZE: Was Frontex betrifft: Diese Agentur wurde eingerichtet und hat ihre Arbeit aufgenommen. Im Mittelmeer leitete erst Italien, dann Malta die Einsätze der Operationen Nautilus. Die Erfolgsberichte der Agentur widersprechen sich: Einmal behauptet ihr Leiter, der Finne Ilkka Laitinen, im Mittelmeer sei eine große Zahl von Migranten und Flüchtlingen aufgehalten worden, dann wieder sprechen die italienischen Behörden von mäßigem Erfolg. Fakt ist, dass die Menschen weiterhin fliehen, die Fluchtrouten sich aber ändern, je nach dem, wo die Einsätze gefahren werden.

Am 15. Mai 2009 sollen gemeinsame italienisch-libysche Patrouillen starten, um die Flüchtlinge direkt vor der libyschen Küste abzufangen. Diese Zusammenarbeit basiert auf einem "Freundschaftsvertrag" zwischen den beiden Ländern, der letzen Sommer geschlossen wurden. Libyen erhält sehr viel Geld - angeblich Reparationszahlungen für die Kolonialisierungszeit. Doch letztendlich zahlt der italienische Staat, damit Libyen das Spiel der Abschottung mitspielt. Italien hat auch mehrere Lager in Libyen finanziert, damit die Migranten und Flüchtlinge dort festgehalten werden und nicht nach Europa gelangen.

Ein dritter, wichtiger Punkt der Abschottung ist die Angst der Fischer und Seefahrer, Flüchtlinge auf See zu retten. Nach dem Debakel um die Cap Anamur hat diese Angst massiv zugenommen. Rettet dann doch mal jemand, wie es im Jahre 2007 zwei tunesische Fischerboote getan haben, müssen die Retter mit einem Prozess ähnlich dem gegen die Cap Anamur rechnen. Sie verlieren ihren Fang, ihre Boote und damit ihre Lebensgrundlage. Ergebnis ist: Viele schauen weg und retten aus Angst nicht.

Seit 2004 hat die Abschottung also massiv zugenommen, immer im Namen des Kampfes gegen die illegale Migration und mit dem perfiden Unterton, man müsse die Menschen schließlich vor der todbringenden Überfahrt bewahren.


SOZ: Sagen Sie doch etwas über Ihren eigenen Hintergrund: Wie kam es zur Idee, borderline-europe zu gründen? Wie sieht Ihre Arbeit konkret aus?

JUDITH GLEITZE: Borderline-europe entstand im Jahre 2007 aus der Idee heraus, dieser Abschottung Europas endlich etwas entgegenzusetzen. Aufhänger für die Gründung des Vereins war das Drama um die Cap Anamur und die Rettung der 37 Flüchtlinge, die den Kapitän, den Ersten Offizier und den Leiter der Organisation Cap Anamur schließlich in Italien wegen "Beihilfe zur illegalen Einreise" vor Gericht brachte. Der Prozess begann im November 2006 auf Sizilien. Die Cap Anamur war zwar nicht der erste Fall dieser Art in Italien, aber doch der emblematischste. Den Angeklagten drohen bis zu zwölf Jahren Haft, die Flüchtlinge sind bis auf einen alle abgeschoben worden und zum Teil zu Tode gekommen.

Doch auch an den europäischen Ostgrenzen spielen sich gerade mit tschetschenischen Flüchtlingen immer wieder dramatische Szenen ab. Einige von uns kommen aus der politischen Flüchtlingsarbeit, und wegen dieses täglichen Dramas, das sich da vor unseren Türen abspielt, von dem aber keiner etwas hören will, haben wir beschlossen: Das Thema muss in die Öffentlichkeit! Nur wenn wir darüber reden, es sichtbar machen, begreifen die Menschen, denen in den Medien immer nur gesagt wird: "Das Boot ist voll", "Es gibt einen Massenansturm", worum es wirklich geht.

Borderline-europe leistet derzeit vor allem Öffentlichkeitsarbeit: Wir betreiben eine Homepage, auf die wir täglich Meldungen und Hintergrundberichte zu Fluchtrouten, zu den Opfern und den Abschiebungen aus allen möglichen Ländern einstellen. Zudem werden wir zu Veranstaltungen eingeladen, um zu berichten, was an den jeweiligen "Frontabschnitten" los ist. Unsere Schwerpunkte sind derzeit Griechenland, die Ostgrenzen und Italien, ehrenamtliche Mitarbeiter werten die arabische Presse aus. In Italien haben wir eine kleine Außenstelle auf Sizilien gegründet. Eine weitere Außenstelle befindet sich in Österreich.


SOZ: Gibt es tatsächlich einen Massenansturm in die EU?

JUDITH GLEITZE: Das wird immer wieder gern behauptet. Auch der italienische Innenminister Maroni ist sich nicht zu schade, dieses populistische "Geschwafel" anzuheizen. Angeblich sitzen 2 Millionen Menschen in Libyen und warten auf die Überfahrt. Das stimmt einfach nicht. In Libyen leben wohl an die 1-2 Millionen nicht registrierte Ausländer, aber die wollen doch nicht alle nach Europa! Wir haben mit Flüchtlingen gesprochen, die diese Reise auf sich genommen haben. Viele von ihnen haben uns erzählt, dass sie nicht aus Afrika weg wollten, dann aber durch den massiven Rassismus in Libyen dazu gezwungen wurden. Zurück ging es nicht mehr, es blieb nur noch der Weg nach vorn.

Aber den Traum von Europa träumen nicht alle! Im letzten Jahr sind 36000 Menschen über das Meer - also meist von Libyen - nach Italien gekommen. Vergleichen wir das doch mal mit den Zahlen der vom UNHCR weltweit betreuten Flüchtlinge: 32,9 Millionen. Können wir da wirklich von einem Massenansturm sprechen?


SOZ: Um die Jahrtausendwende hat eine massive Veränderung stattgefunden: Waren zuvor noch rund 40000 Menschen pro Jahr über die Adria nach Italien gekommen, landen nun sehr viele Flüchtlingen im Süden des Landes, in Sizilien und auf Lampedusa. Gibt es Gründe dafür?

JUDITH GLEITZE: Flüchtlingsrouten ändern sich laufend. Das liegt an den politischen Ereignissen und an der Art der Abschottung. Währen des Bosnien- und des Kosovokriegs sind sehr viele Menschen über Albanien nach Italien gekommen. Doch die Situation in diesen Ländern hat sich verändert, so auch die Routen der Flüchtlinge. Derzeit ist Libyen im Mittelmeerraum das Land, aus dem die meisten losfahren. Lampedusa liegt geografisch am günstigsten, weil Libyen am nächsten. Aus diesem Grunde landen so viele Flüchtlinge dort an. Die Menschen, die nach Italien kommen, kommen sehr oft vom Horn vom Afrika, also aus absoluten Krisengebieten. Geografisch ist für sie die Route Sudan-Libyen-Italien die nächste.

Doch viele haben auch unendlich viel weitere Routen hinter sich. Weil auch das Mittelmeer immer überwachter und damit gefährlicher wird, wird seit zwei Jahren die Route Türkei-Griechenland und die Route Algerien-Sardinien stärker befahren.


SOZ: Noch eine Frage zum Schiffbruch Ende März nahe Libyen. Gibt es in der Zwischenzeit genauere Informationen? Was wurde aus den Überlebenden?

JUDITH GLEITZE: Die einzige Information, die uns erreicht hat, ist, dass die 21 Überlebenden in einem Gefängnis nahe Tripolis sitzen. Dort wurden einige von Angestellten ihrer Botschaften besucht, um sie herauszuholen. Auch Vertreter der IOM (International Organization of Migration) waren dort, konnten aber letztendlich nichts für die Menschen tun. Die Häftlinge, die aus Gambia und Kamerun kommen, haben faktisch keine Chance auf Freilassung, denn ihre Länder unterhalten keine konsularische Vertretung in Libyen. Sie müssen damit rechnen, Monate in diesem Gefängnis zuzubringen.


(Siehe auch den Artikel von Angela Huemer(*) auf Seite 15 in dieser Ausgabe.
(*) Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Sie finden den Artikel auch im Schattenblick unter:
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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1266: Italien - Wird Lampedusa zum Gefängnis?)


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 5, 24. Jg., Mai 2009, Seite 5
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Mai 2009